Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2006. Der Berliner Hauptbahnhof muss nach den ursprünglichen Plänen des Architekten Meinhard von Gerkan umgebaut werden. Die FAZ jubelt, dass die deutsche Justiz dem Menschenrecht des Auges stattgegeben hat. In der SZ erzählt der Sieger, wie es ist, wenn aus dem eigenen Werk einfach Seiten herausgerissen werden. In der taz findet Thea Dorn Eva Herman nicht braun, aber grenzbraun. Viktor Jerofejew empfiehlt in der Welt, endlich den gammeligen russischen Kühlschrank zu schrubben. Der Tagesspiegel präsentiert Michael Schindhelms Rettungsplan für die Berliner Opern.

FAZ, 29.11.2006

Auf die deutsche Justiz ist Verlass! Wieder siegte die gerechte Sache trotz eines übermächtigen Gegners. Gestern hat das Berliner Landgericht der Klage des Architekten Meinhard von Gerkan gegen die Deutsche Bahn stattgegeben: Die von Bahn-Chef Hartmut Mehdorn angeordnete Verhunzung des Untergeschosses im Berliner Hauptbahnhof (Bilder) muss rückgängig gemacht werden. Etwa 40 Millionen Euro könnte das kosten. "Trotzdem wäre es falsch, in Meinhard von Gerkan einen eitlen Stararchitekten zu sehen, den auch Unsummen nicht davon abschrecken, sein Künstler-Ego zu hätscheln", schreibt Dieter Bartetzko. "Die Zigtausende Bahnreisende, die täglich Berlins Hauptbahnhof frequentieren, wissen die Ästhetik seiner Architektur ebenso einzuschätzen wie die Höhe ihrer Fahrpreise. Herr Mehdorn und seine Mitstreiter haben sich darüber hinweggesetzt. Meinhard von Gerkan aber und das Berliner Landgericht haben für das Menschenrecht des Auges entschieden."

Der Architekt feierte seinen Sieg mit einem Gläschen Champagner im Hauptbahnhof. In einem kurzen Interview bedauert er es nur, nicht auch die volle Länge der Glasdächer im Obergeschoss eingeklagt zu haben: "Heute weiß ich, dass es ein großer Fehler war zu glauben, mit Entgegenkommen und Kompromissbereitschaft lasse sich die starre Haltung der Bahn aufweichen. Das war ein Irrtum."

Renate Klett hat viele "kreuzbrave" Inszenierungen beim Theaterfestival in Riga (mehr hier) gesehen, aber auch zwei großartige: Alvis Hermanis' Inszenierung nach Sorokins Roman "Ljod" und Gatis Smits' Version von David Harrowers "Messer in Hennen": "Mit psychologischer Präzision und phantasievollen Details baut er ein Kammerspiel aus Körperhaltungen, slow motion und Stille. Was gesagt wird und was nicht, wie ein Fuß aufgesetzt wird oder etwas Vertrautes plötzlich als Fremdes gesehen, wie ein Gedanke entsteht und nicht mehr wegzukriegen ist, wie verheißungsvoll die Gefahr und wie befreiend die Sehnsucht sein kann, all das zeigt die wunderbare Rezija Kalnina, die auch den Preis als beste Schauspielerin davontrug, so unaufdringlich wie unübersehbar."

Weitere Artikel: Gina Thomas berichtet über einen Streit bei British Airways, die einer Stewardess verboten hat, über ihrer Uniform eine Kette mit einem Kreuz zu tragen: "In ihrem Einspruchsverfahren wies die gebürtige Ägypterin darauf hin, dass British Airways Sikhs den Turban und muslimischen Frauen das Kopftuch gestatte. Das Kreuzverbot empfinde sie somit als diskriminierend." (Rod Liddle hat dazu im Spectator einen bissigen Bericht geschrieben.) Für Christian Geyer ist der Papst ein Held der Philologie: "Selten kam es für den weltpolitischen Zusammenhang so sehr auf jedes Wort an wie in diesen vier Tagen der päpstlichen Türkei-Reise." Joseph Croitoru hat osteuropäische Zeitschriften gelesen, die Osteuropa-Stereotypen von Westlern untersuchen. Joachim Kalka hörte zu, als Peter Esterhazy in Tübingen als Poetik-Dozent auftrat. Gemeldet wird, dass die Münchner Verlegerin Antje Kunstmann vom Branchenmagazin Buchmarkt zur Verlegerin des Jahres 2006 gewählt wurde.

Auf der Medienseite berichtet Gina Thomas, dass der Chef der BBC, Michael Grade, zum Privatsender ITV wechselt. Auf der letzten Seite porträtiert Kornelia Stinn die "Lachlehrerin" Niccel Steinberger. Christian Schwägerl stellt die neuesten Forschungsergebnisse zur Altersforschung des Max-Planck-Instituts vor. Andreas Rossmann ist nicht zufrieden mit dem Kompromiss, den Pfarrei und Denkmalbehörde von Hürth anlässlich der Profanierung der Kirche St. Ursula ausgehandelt haben (mehr beim Kölner Stadtanzeiger).

Besprochen werden eine Schau des amerikanischen Künstlers Dan Flavin in der Münchner Pinakothek der Moderne, Karl Lagerfelds Ausstellung "One man shown" mit Fotos von Brad Koenig,in der Galerie c/o Berlin und die Aufführung von Verdis "Simon Boccanegra" in Berlin.

FR, 29.11.2006

Tobi Müller porträtiert den Theaterdirektor des Zürcher Schauspielhauses Matthias Hartmann. Der Frankfurter Psychoanalytiker Martin Altmeyer erlebt eine "Renaissance" von Freuds Todestriebhypothese als Erklärungsansatz der heutigen Gewalt. Thomas Winkler schreibt anlässlich mehrerer neuer Alben einen Abgesang auf den Gangsta Rap. Zu lesen ist ein Interview mit der Schriftstellerin Lily Brett über ihren neuen Roman "Chuzpe". Und in Times mager stellt Christian Thomas kunstvoll einen Zusammenhang zwischen Panierbröseln und den Werbeverträgen von Günther Jauch her.

Besprochen werden die Hochhausausstellung "High Society" im Deutschen Architektur Museum Frankfurt und Bücher, darunter die Skizze "Die Nürnberger Prozesse" der Berliner Historikerin Annette Weinke und eine neue Biografie über sowie ein Band mit Briefen von Stefan Zweig (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 29.11.2006

In tazzwei überprüft die Schriftstellerin Thea Dorn den Verdacht vom neuen rechten Denken in der Mitte der Gesellschaft und schließt dazu Zitate von Eva Herman mit NPD-Parolen sowie Zitaten des Nazi-Chefvordenkers Alfred Rosenberg kurz. "'Jetzt mal halblang', werden Sie einwerfen. 'Eva ist vielleicht ein bisschen dämlich. Aber doch nicht braun.' Das ist sie natürlich nicht. Sie schreibt bloß Sätze wie: 'Wenn wir das Feld solchen Aufwieglerinnen [gemeint sind Feministinnen, Anm. der Autorin] überlassen, finden wir niemals einen Weg zurück zum selbstverständlichen Muttersein.'" Dorn kann konstatieren: "Grenzbraune Ansichten" sind salonfähig geworden. "Hätte ich dasselbe Experiment vor einem Jahr gemacht, vor Minimum und Eva-Prinzip, hätte nicht jeder einigermaßen wache Zeitgenosse sofort gesagt: 'Was willste denn mit dem Neonazi-Zeug?'"

Auf den vorderen Seiten nimmt sich Heike Haarhoff angenehm viel Zeit, um Hubertus Knabe zu porträtieren, den umstrittenen Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und kompromisslosen Fechter für die Opfer der Stasi. Joseph Stiglitz, der nach dem Tod von Milton Friedman vielleicht bekannteste Ökonom, fordert im Gespräch mit Robert Misik im Gegensatz zu Friedman mehr Staat in der globalen Wirtschaft. "Märkte sind nicht gerecht. Man hat behauptet, sie seien effizient. Heute wissen wir, dass sie nicht einmal das immer sind."

Auf den Kulturseiten resümiert Alexander Cammann eine Veranstaltung der Berliner Akademie der Künste unter anderem mit Georg Stefan Troller und György Dalos, in der es anlässlich der Grass-Debatte um Erinnerung und Jugendsünden ging. Und "HPI" stellt verwundert den Erfolg der wiederauferstandenen ehemaligen Boygroup Take That fest.

Besprochen werden eine Ausstellung im Frankfurter Liebieghaus, in der zwanzig Charakterköpfe von Franz Xaver Messerschmidt gezeigt werden, einem der "fortschrittlichsten Künstler des aufgeklärten 18. Jahrhunderts", und das neue Buch des ZDF-Korrespondenten Ulrich Tilgner "Zwischen Krieg und Terror" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

Welt, 29.11.2006

Der russische Schriftstseller Viktor Jerofejew sieht Russland in einer schweren moralischen Krise, was er uns mit folgendem Vergleich nahebringt: "Russland ähnelt einem Kühlschrank, dessen Tür man sperrangelweit aufgelassen hat, und jetzt fangen die Lebensmittel an zu gammeln. Woraufhin man beschließt, die Tür wieder zuzumachen."

Auf der Medienseite berichtet Uwe Schmitt von einer schweren Niederlage der New York Times vor dem Obersten Gerichtshof der USA: Die Zeitung hatte sich geweigert, der Staatsanwaltschaft Telefonlisten zu übergeben, auf denen Gespräche mit Informanten aufgezeichnet waren: "Zunehmend erzwingen Richter bei einer vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA, aber auch in Fällen von Rufschädigung von Einzelpersonen durch anonyme Informanten, die Nennung von Namen und die Offenlegung von 'Lecks'."

Weiteres: Im Kurzinterview mit Rainer Haubrich erklärt Architekt Meinhard von Gerkan, wie er auf das Urteil reagiert hat, nachdem die Bahn den Berliner Hauptbahnhof nun doch nach seinen Plänen umbauen muss. "Ich sitze in der Austernbar im Berliner Hauptbahnhof und habe soeben eine Flasche Champagner geöffnet." Frank Maier-Solgk berichtet von einem Forschungsprojekt, bei dem Konservatoren untersuchen, wie sich die rasant alternde Acryl-Malerei der Nachkriegszeit erhalten lässt. Matthias Heine zeichnet ein Porträt des Schauspielers Josef Ostendorf, der gerade Michael Hofmanns Film "Eden" seinen großen Auftritt hat. Sfk. erinnert an die Jenaer Studenten, die vor fünfzig Jahren nach einem Sketch in den Knast wanderten, wegen angeblicher Hetze gegen die Völker der Sowjetunion. Manuel Brug sieht sich Calixto Bieitos Verdi-Inszenierung "Don Carlos" an.

NZZ, 29.11.2006

Der Papst ist in Istanbul, und Uwe Justus Wenzel nimmt sich noch einmal dessen Regensburger Rede vor. Dass das umstrittene Zitat über den Islam ausgerechnet von einem byzantinischen Kaiser stammt, sieht er als Hinweis darauf, dass Benedikt sich der Ostkirche annähern und zusammen mit ihr Front gegen Islam und Protestantismus machen will.

Besprochen werden die Rebecca-Horn-Schau im Martin Gropius Bau, ein Konzert des Zürcher Kammerorchesters mit dem Pianisten Andreas Haefliger, eine Choreografie der Tanzkompanie Philippe Saire und Bücher, darunter David S. Landes' Verteidigung des Familienunternehmens "Die Macht der Familie", Peter Henischs Roman "Pepi Prohaska Prophet" und Armin Nassehis Theoriediskussion "Der soziologische Diskurs der Moderne" (mehr wie immer in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 29.11.2006

Michael Schindhelm, Noch-Chef der Berliner Opernstiftung, legt in einem Papier dar, wie er sich die Rettung der drei Berliner Opernhäuser vorstellt: mit der Staatsoper als Repertoiretheater und der Deutschen Oper als stagione-Betrieb. "In Berlin gäbe es drei unterschiedlich profilierte Opern, einmalig in Mitteleuropa."

SZ, 29.11.2006

Andreas Zielcke berichtet über die "drastische" gerichtliche Niederlage der Bahn im Streit mit dem Architekten des neuen Berliner Hauptbahnhofs Meinhard von Gerkan. In einem Interview mit Jörg Häntzschel meint Gerkan, Mehdorn habe einfach ein Exempel statuieren wollen. "Zeigen, wer Herr im Hause ist. Um Kosten ging es jedenfalls nicht. Es ist ja alles getürkt, alles gefälscht worden. Es ist ja so, dass der Vorstandsvorsitzende dreimal gewechselt hat. Möglicherweise hat auch diese Personenabfolge Spuren hinterlassen, möglicherweise gab es da Rivalitäten. Der Bauherr wollte unter Beweis stellen: Wichtig ist nur eines, nämlich das, was ich sage."

Clemens Pornschlegel analysiert den französischen Wahlkampf, der zunehmend "populistischer" werde: "Die drei aussichtsreichsten Kandidaten für den ersten Wahlgang sind Royal, Sarkozy und Le Pen, drei Charismatiker im Imaginären. Wenn Probleme aber nur imaginär gelöst werden, dann explodieren sie irgendwann in der Wirklichkeit."

Auf der Schallplattenseite beschäftigt man sich heute mit dem "Monster Rock". In einer Art "Altenteil" geht es um ein neues Album von The Who und einen Sampler von David Crosby, besprochen werde außerdem Alben von Oasis, Trail of Dead und Sunno))). In der Spalte "Das dreckige Dutzend" werden "Cafe-Hits" gewürdigt, darunter "London Calling" von The Clash.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Kleopatra und die Cäsaren" im Hamburger Bucerius Kunst Forum, die Uraufführung des neuen Stücks von Caryl Churchill "Drunk Enough To Say I Love You?" in London, die Ausstellung "Pacific Palisades" über die Wege deutscher Schriftsteller ins kalifornische Exil im Literaturhaus München, Michael Hofmanns Film "Eden", ein Konzert der Münchner Philharmoniker unter Christian Thielemann in Paris und Bücher, darunter eine Biografie des Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner und der Roman "Stechapfel" von Leena Krohn (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).