Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.12.2006. In der SZ fragt Navid Kermani, was deutsch ist in der deutschen Literatur. Und Amos Oz möchte Israel nicht als Vasall der USA sehen. Die Welt porträtiert den polnischen Autor Marek Krajewski, der seine Krimis im Breslau der zwanziger Jahre ansiedelt. Die taz kennt 567 Synonyme für das Wort Prostituierte. Die FAZ hatte beim neuen Kaurismäki die unweihnachtliche Vision einer Blondine, die es ernst meint.

Welt, 21.12.2006

Hendrik Werner stellt den polnischen Autor Marek Krajewski vor, der seine Retro-Krimis im Breslau der zwanziger Jahre ansiedelt. "Das Nachtgesicht Breslaus bestimmen zu dieser Zeit spekulative Geschäftemacher, politische Intriganten, obskure Sektierer - und der allmählich aufkeimende Nationalsozialismus. Nicht zu vergessen Alkohol-, Drogen- und Sexexzesse. Beinahe allnächtlich frequentiert Mock halb angewidert, halb fasziniert die Bordelle und Kaschemmen der zusehends verkommenden Stadt - und das keineswegs ausschließlich zu Recherchezwecken."

Weiteres: Mit Wortmeldungen von sechs ausgesuchten Architekten - Christoph Mäckler, Volkwin Marg, Hans Kollhoff, Kaspar Kraemer, Christian Baumgart, Arno Sighart Schmid - zieht das Feuilleton gegen die von der Europäischen Zentralbank und dem Architekturbüro Coop Himmelb(l)au geplanten Umbauten an der Frankfurter Großmarkthalle zu Felde. Tom R. Schulz liest die "Empfehlungen zur Entwicklung der Hamburger Museumsstiftungen" (pdf), in denen verschuldeten Museen Zusammenschlüsse nahegelegt werden. Die nun restlos freigegebenen FBI-Akten über John Lennon beweisen Michael Pilz, wie ernst damals noch Lieder genommen wurden. Auf der Filmseite berichtet Gerhard Midding von den umtriebigen Aktivitäten der regionalen Filmförderanstalten in Frankreich.

Besprochen werden Aki Kaurismäkis neues Werk "Lichter der Vorstadt" und Fredi M. Murers Film "Vitus".

TAZ, 21.12.2006

Erkenntnisreich fand Tim Ackermann die Ausstellung "Sexwork" in der Berliner NGBK: "Für das Wort 'Prostituierte' gibt es im Deutschen 567 Synonyme. Gabriele Horndasch hat sie alle in 35-mm-Film geritzt. Nun präsentiert die Düsseldorfer Künstlerin ihre Sammlung als Diashow in der Ausstellung 'Sexwork'. Alphabetisch, versteht sich. Simultan klackern sieben Projektoren, spätestens beim Buchstaben 'F' erscheint eine Schimpfkanonade: Fotze, lose Fliege, Filzlausverschiebebahnhof. In anderen Buchstabenregionen soll es poetischer zugehen. Horndaschs Installation ist eine sinnreiche Ouvertüre zur 'Sexwork'-Ausstellung in Berlin."

Weitere Artikel: Andreas Busche unterhält sich mit dem mexikanischen Regisseur Alejandro Gonzalez Inarritu über seinen Film "Babel". In der tazzwei berichtet Bernhard Imhasly über ein Gandhi-Revival in Indien, das von der populären Bollywood-Gaunerkomödie "Weiter so, Munnabhai" ausgelöst wurde.

Besprochen werden Aki Kaurismäkis neuer Film "Lichter der Vorstadt" und das von Christoph Tannert herausgegebene Buch "New German Painting" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

Schließlich Tom.

FR, 21.12.2006

Heinz Tron schreibt über die Ausgrabungen aus der mittleren Jungsteinzeit im anhaltinischen Goseck. Tilmann P. Gangloff nimmt die in diesenTagen erscheinende 100. Ausgabe des bösen Klamaukblatts MAD zum Anlass für einen Nachruf auf das respektlose Magazin, dessen heutige Form mit dem einstigen Blatt nur noch den Namen gemeinsam habe. Und in der Kolumne Times Mager beschäftigt sich Harry Nutt mit dem Zusammenhang von öffentlicher Musikschulenförderung und der Wiedergewinnung gesellschaftlicher Basisqualifikationen wie den Blockflötenspielen.

Besprochen werden Claus Guths und Christoph von Dohnanyis Einstudierung der Strauss-Oper "Ariadne auf Naxos" an der Zürcher Oper, Aki Kaurismäkis Film "Lichter der Vorstadt" (von dessen "ausgesprochen verschwenderischem Minimalismus" Daniel Kothenschulte sehr beeindruckt ist), Glen Morgans Film "Black Christmas" und Alejandro Gonzalez Inarritus' Film "Babel" (den Heike Kühn "herausragend in seiner visuellen Tektonik" und "demütig in seiner Rücksichtnahme auf die Bodenhaftung einer oftmals grausamen Realität" findet).

NZZ, 21.12.2006

Als Weihnachtsgeschenk in letzter Minute kann Christian Gasser die von Dan Nadel zusammengestellte Anthologie "Art Out of Time" mit unbekannten und visionären amerikanischen Comics empfehlen. "Der bekannteste dieser Künstler ist zweifellos Gustave Verbeek, dessen 'The Upside Downs' (1903-05) bis heute verblüffen: Nach der Lektüre der ersten sechs Panels muss man die Seite wenden und den Strip kopfüber weiterlesen (Beispiele). Wesentlich obskurer ist Herbert Crowley, in dessen 'The Wiggle Much' (1910) form-, farb- und ausdruckslos rundliche Wesen vor detailreichen Hintergründen sinnfreie Erfahrungen machen - nach dreizehn Folgen wurde diese Perle surrealer Comic-Poesie (Beispiel) abgesetzt, Herbert Crowley verschwand spurlos."

Weiteres: Angelockt von einer Ausstellung marschiert Marc Zitzmann durch Reims und bewundert die vor allem in den zwanziger Jahren im Art Deco-Stil errichtete Innenstadt. Claudia Schwartz betrachtet im neuen Berliner Kennedy-Museum die perfekte Clan-Welt der politischen Familie.

Besprochen werden eine aus Frankfurt und Berlin stammende Ausstellung zu Robert Walser in der Prager Nationalbibliothek, eine Schau zum vierzigjährigen Jubiläum des Jüdischen Museums in Basel, Nas' Rapalbum mit dem koketten Titel "Hip Hop is Dead", und Bücher, darunter Stefan Weidners essayistischer Reisebericht "Fes" sowie Reinaldo Arenas' parodistischer Roman "Engelsberg".

SZ, 21.12.2006

"Aus welchem Grund muss Israel seine eigenen grundlegenden nationalen Interessen - Frieden mit seinen Nachbarn - außer Acht lassen: wegen ein paar Höflichkeiten für eine ausländische Regierung?", fragt Amos Oz, der Israels Zurückweisung syrischer Gesprächsangebote für einen Akt der Selbstentmündigung hält. "In Zeiten, als Israel noch wie ein unabhängiger Staat auftrat und nicht wie ein Vasall der Vereinigten Staaten, da war die Forderung nach direkten, bedingungslosen Gesprächen mit den arabischen Ländern das Herzstück der israelischen Nahost-Politik."

"Die Frage, was deutsch ist an der deutschen Literatur, möchte ich beantworten, indem ich über den exemplarischen deutschen Schriftsteller spreche. Für mich ist es nicht Goethe oder Schiller, nicht Thomas Mann oder Bert Brecht, sondern der Prager Jude Franz Kafka", schreibt der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani auf der Literaturseite über "den Sprachraum, in dem ich schreibe". "Kafka hatte, wovor man heute Migrantenkinder in Deutschland bewahren möchte: eine ausgesprochen multiple Identität. Als Staatsbürger gehörte er dem Habsburger Reich an, später der Tschechischen Republik. Für die Tschechen waren Kafka und die gesamte deutschsprachige Minderheit in Prag einfach Deutsche. Unter den Prager Deutschen wiederum galt jemand wie Kafka vor allem als Jude. Nicht einmal Kafka selbst konnte klar sagen, zu welchem Kollektiv er gehörte... Bin ich Deutscher? Bei der Weltmeisterschaft im Fußball halte ich zu Iran, damals, als ich Kafka entdeckte, heute, da ich ihn noch immer lese. Zugleich gibt es für mich keine größere Verpflichtung, als zur selben Literatur zu gehören wie der Prager Jude Franz Kafka. Sein Deutschland eint uns."

Weitere Artikel: Alex Rühle hat eine Nacht in der Münchner Telefonseelsorge verbracht und einen sehr lesenswerten Text darüber geschrieben, der gleichzeitig eine bundesweite Einrichtung würdigt, die in diesen Tagen in Deutschland ihr fünfzigjähriges Bestehen begeht. Marco Finetti informiert, dass VW seine Autouni in Wolfsburg neu ausrichtet. Alexander Menden berichtet, dass der protestantische irische Terrorist und Maler Michael Stone seinen Anschlag auf das nordirische Parlament als "Performance-Kunst" verteidigt hat (mehr bei der BBC).

Besprochen werden Dieter Dorns Inszenierung vom George Bernhard Shaws "krude-versponnenem " Märchenspiel "Androklus und der Löwe" am Münchener Residenztheater, Katharina Thalbachs Inszenierung von Engelbert Humperdincks Oper "Hänsel und Gretel" an der Dresdner Semperoper, Fredi M. Murers filmische Wunderkindphantasie "Vitus", Michael Mayers Neuverfilmung der Wildpferdgeschichte "Flicka", Alejandro Gonzalez Inarritus Film "Babel" (dazu gibt's auch ein Interview mit dem preisgekrönten mexikanischen Regisseur) und eine Limerick-Anthologie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 21.12.2006

So richtig will er erst nicht, aber dann erliegt Michael Althen doch dem Charme der Tristesse, den Aki Kaurismäkis neuer Film "Lichter der Vorstadt" verströmt: "Wie jeder Film Noir ist 'Lichter der Vorstadt' ein todtrauriges Märchen, in dem es für den Helden nichts zu gewinnen gibt, und der einzige Trost mag sein, dass es trotzdem womöglich nie verkehrt ist, gegen jede Wahrscheinlichkeit zu hoffen, dass eine Blondine aus heiterem Himmel zu einem tritt - und es womöglich tatsächlich ernst meint."

Im Aufmacher weist Dieter Bartetzko nach, dass das Grab des Apostels Paulus in der römischen Kirche San Paolo fuori le muri gar nicht neu entdeckt wurde, da es von Pilgern bereits seit 1.700 Jahren aufgesucht wird. Oliver Jungen glossiert den Umstand, dass profitgierige Agenturen den Beratungswillen von deutschen Auswanderungswilligen, die es in die USA zieht, missbrauchen. Oliver Jungen gratuliert dem Althistoriker Karl Hauck zum Neunzigsten. Burkhard Rauhut, Rektor der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, beklagt einen kommenden Ingenieursmangel in der deutschen Industrie. Alexander Cammann verfolgte in Jena ein Symposion über Werk und Wirklung des NS-Historikers Martin Broszat. Jordan Mejias meldet, dass die Yale University Art Gallery und das Yale Center of British Art, beides Werke des Architekten Louis I. Kahn, renoviert werden sollen. Gemeldet wird, dass der prominente chinesische Soziologe Lu Jianhua wegen angeblichen Geheimnisverrats zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt wurde und dass Marek Janowski als Chefdirigent des Berliner Rundfunkorchesters zurücktritt.

Auf der Medienseite erwartet Olaf Sundermeyer nichts Gutes für das deutsch-polnisch-dänische Medienkonglomerat des britischen Investors David Montgomery. Und Jan Freitag unterhält sich mit dem ehemaligen Kinderstar Patrick Bach, der einst in der Weihnachtsserie "Silas" die Herzen der Deutschen rührte.

Auf der letzten Seite wird ein Briefwechsel Egon Friedells abgedruckt, den die Frankfurter Zeitung vor 80 Jahren um einen Beitrag zu Weihnachten bat. Lorenz Jäger meldet, dass der Holocaust-Leugner David Irving wohl demnächst aus der österreichischen Haft entlassen wird. Und Matthias Hannemann porträtiert Bugge Wesseltoft, den Gründer des norwegischen Labels Jazzland.

Besprochen werden Dieter Dorns Inszenierung von Shaws "Androklus" in München und die Ausstellung "Portraits Publics - Portraits Prives" über die europäische Porträtmalerei um 1800 in Paris.