Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.12.2006. In der Zeit stellt Garri Kasparow den Kollaps des Putinismus in Aussicht. Außerdem befasst sich die Zeit mit der Zukunft des Fernsehens, die im Internet liegt. In der Welt entwickelt Juri Andruchowytsch ein anarchistisches europäisches Einigungsprojekt. In der FR sagt der rumänische Autor Mircea Dinescu zum EU-Beitritt seines Landes: "Wir sind auf dem Weg nach Europa wie ein Hund, der eine Konservendose hinter sich herzieht." Die NZZ sinniert über afroamerikanische Haarfrisuren als Stil und Statement. Und der SZ graut vor Hamburgs Hafencity.

Zeit, 28.12.2006

Der ehemalige Schachgroßmeister und Oppositionspolitiker Garri Kasparow analysiert im Gespräch mit Anita Blasberg seinen Gegner Wladimir Putin. "Er ist extrem clever darin, Leute auseinander zu dividieren für seine Interessen: er hat es verstanden, die Differenzen zwischen Deutschland, Frankreich und Amerika für sich zu nutzen. Er hat viele Schwachstellen. Aber sein größtes Problem ist die Wahl 2008. Das Näherrücken dieser Wahl ist der Grund, warum das System momentan so erschüttert wird. In totalitären Systemen herrscht Ruhe so lange wie alle wissen, der Boss ist da - wenn sein Abgang bevorsteht, wird es unruhig. Es besteht die Gefahr, dass das System kollabiert."

Die Zukunft des Fernsehens beschäftigt das Feuilleton. Johannes Schweikle besucht Ingo Wolf und sein Münchner Unternehmen Grid TV, das 230 übers Internet empfangbare Spartensender betreibt. Ab 2.500 Euro kann eine Firma ihren persönlichen Sender einrichten. "Einen eigenen Kanal des Waffenproduzenten Heckler&Koch kann sich Wolf vorstellen: 'Als Business-to-Businees-Sender, zu dem man nur mit Passwort kommt, warum nicht?' Die Internetadresse 'war-tv' gehört zu den rund 1000 Domains, die er sich schlauerweise gesichert hat - darunter die fast komplette Liste der Ländernamen auf englisch: germany-tv.com, russia-tv.com,..."

Weiteres: Götz Hamann glaubt im Aufmacher, dass Privatgedrehtes bei YouTube das Fernsehangebot durchmischen und weiter zersplittern wird. WDR-Intendantin Monika Piel und TV-Produzent Hubertus Meyer-Burckhardt widersprechen im Interview: Erstmal wird sich nicht viel ändern, bis zum Zuschauer als Produzenten ist es noch ein sehr weiter Weg. Katja Nicodemus porträtiert David Simons, der wegen seiner monumentalen HBO-Serie "The Wire" als Charles Dickens der Serienkultur bejubelt wird. Bernd Gäbler würdigt den Fußball als Triebkraft für neue Formate. Evelyn Finger lässt die Medientheorien der Vergangenheit Revue passieren, während Jens Jessen in die Zukunft von 2020 blickt und sich durch Foltershows und rechtsnationales VolksTV zappt.

Im Literaturteil werden unter anderem Bücher über Chinas Modernisierungsverlierer sowie die Biografie über die Entwicklungshelferin Emma McCune besprochen.

Welt, 28.12.2006

Der ukrainische Autor Juri Andruchowytsch möchte der bürokratischen EU ein anarchistisches europäisches Einigungsprojekt entgegenstellen, und dies wohl auch, weil er Frankreich und Deutschland verdächtigt, die Ukraine nicht einbeziehen zu wollen: "So bleibt anzunehmen, dass der EU, einem bürokratischen und von europäischem Idealismus weit entfernten Gebilde, gerade eine rückständige und isolierte Ukraine sehr gelegen kommt. Mehr als gelegen: Eine solche Ukraine ist für die Spitzen der EU die optimale Lösung. Sie ist nämlich eine der Voraussetzungen für die 'Stabilität in der EU' - in demografischer, kultureller und natürlich in energiewirtschaftlicher Hinsicht. Das ist nichts anderes als das Erbe eines archaischen Denkens in imperialen Kategorien, in 'Interessensphären' und 'Pufferzonen', eine imperiale Solidarität der großen Fische mit ihrem Partner Russland."

Im Kulturteil sieht Uwe Schmitt Clint Eastwood mit seinen Filmen "Letters from Iwo Jima" und "Flags of our Fathers" über den Krieg gegen Japan als Oscar-Kandidaten. Michael Stürmer, einst Ordinarius für Geschichte, heute Journalist bei der Welt, nimmt die in Gesprächsform erschienenen Memoiren Hans-Ulrich Wehlers recht ungnädig auseinander, schon weil Wehler im Historikerstreit auf der Gegenseite stand.

Besprochen werden Ken Loachs Film "The Wind that shakes the Barley" und der Dokumentarfilm "Der weiße Planet". Außerdem unterhält sich auf der Kinoseite Rüdiger Sturm mit dem Schweizer Regisseur Michael Steiner. Auf der Medienseite erzählt Ulrike Langer die Geschichte des Films "Contergan", der beim WDR als Zweiteiler geplant war und wegen unterschiedlicher Klagen bis heute nicht laufen darf.

FR, 28.12.2006

"Wir sind auf dem Weg nach Europa wie ein Hund, der eine Konservendose hinter sich herzieht. Das Rasseln wird man noch ein Weilchen hören," sagt der rumänische Schriftsteller Mircea Dinescu anlässlich des EU-Beitritts seines Landes am 1.1.2007 im Gespräch mit Michael Kluth. "Leider besitzt die rumänische Demokratie nach wie vor ihre Originalität. Wir wollten das schwedische Modell kopieren, das heißt Staatspräsident Ion Iliescu wollte es. Das ging schief, so wie in der Schule beim Abschreiben unter dem Tisch, wenn man seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Es kam ein schwedisches Modell chinesischen Ursprungs heraus. Es gab keine Schule der Demokratie. 50 Jahre Kommunismus haben die großen Vorbilder der rumänischen Demokratie zum Verschwinden gebracht. Die einen endeten im Gefängnis, die anderen starben nach der Entlassung. So wie der Kommunismus imitiert wurde, so wurde in Rumänien auch die Demokratie nachgeahmt. Jetzt treten wir der EU bei und die Dinge haben sich gebessert. Aber - obwohl endlich zumindest ein Teil der Securitate-Akten zugänglich ist - die Demokratie wird immer noch untergraben, solange wir nicht wissen, welche ranghohen Politiker für die Securitate gearbeitet haben." (Mehr über den Umbruch in Rumänien hier.)

Weiteres: In der Kolumne Times Mager befindet Peter Michalzik mit freundlich machistischem Unterton, dass das Wort 'Sexbombe' für ihn nur ein "äußerst unzureichender Platzhalter und viel zu grobes Ungetüm" ist, um die Schauspielerin und "Gegenwartsgöttin" Scarlett Johansson zu beschreiben, die soeben für die "besten Brüste" ausgezeichnet und zur "Sexiest Woman Alive" gekürt wurde. Besprochen werden Ken Loachs preisgekrönter Film "The Wind that shakes the Barley" über den Nordirlandkonflikt, Tony Scotts Film "Deja Vu" und Shawn Levys Film "Nachts im Museum".

TAZ, 28.12.2006

In den Streit der Weltanschauungen sollte sich der Staat nicht einmischen, findet der Bremer Rechtsphilosoph Felix Ekardt auf der Meinungsseite. Deshalb sei auch eine Totalverbannung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum nicht möglich. "Erstens stellt sie eine unnötige Einschränkung persönlicher Freiheiten dar und träfe die freie Entfaltung und den freien Austausch der Bürger empfindlich. Und zweitens haben und zeigen wir letztlich alle irgendeine Weltanschauung. Auch das Tragen von freizügiger Kleidung oder von Jogginganzügen beim Bäcker drückt schließlich ein persönliches Glücksideal aus."

Im Kulturteil erzählt Kirsten Küppers kurz, wie Werner K. Autotester für die Bild-Zeitung wurde und am Nordkap landete. Besprochen werden Ken Loachs neuer Film "The Wind that Shakes the Barley", Tony Scotts Thriller "Deja Vu" und Fellinis Film "Julia und die Geister" als DVD.

Und Tom.

NZZ, 28.12.2006

Die richtigen Haare sind bei Afro-Amerikanern immer noch ein Reizthema, konstatiert Jonathan Fischer in seinem informativen Überblick zum derzeit wieder aufkochenden Streit zwischen Trägern naturalistischer Krausköpfe und Anhängern künstlicher Glatthaarfrisuren. Die Vorliebe für derart aufwändige Konstruktionen stützt auf jeden Fall die Wirtschaft. "Afroamerikaner machen zwar nur gut 10 Prozent der US- Bevölkerung aus, kommen aber für 80 Prozent des nationalen Umsatzes an Haarpflegemitteln auf. Rapper wie Ludacris erzielen mit einer neuen Frisur (die alte) fast eben so viel Aufmerksamkeit wie mit einem neuen Album. Und ein halbes Dutzend Hochglanzmagazine konkurrieren am Kiosk mit nichts als mit Frisuren-Tipps für Schwarze. Frisuren wurden schon auch in verschiedenen afrikanischen Gesellschaften spirituelle Qualitäten zugewiesen. Mitteilungen der Götter und Geister, heisst es etwa bei den Yoruba, würden durch das Haar in die Seele gelangen."

Weiteres: Gottfried Schatz erklärt, wie Tiere sich im Magnetfeld der Erde orientieren. Ursula Pia Jauch erinnert an den vor 300 Jahren gestorbenen französischen Philosophen und Verfechter religiöser Toleranz Pierre Bayle. Thomas Burkhalter gratuliert dem Jazzverein Taktlos Bern zum siebenundzwanzigjährigen Bestehen. Besprochen wird eine "umfassende" Werkschau des Architekten Massimiliano Fuksas im Maxxi in Rom.

SZ, 28.12.2006

"Dies ist die Geißel des durchgestalteteten Lebens," stöhnt Till Briegleb angesichts der gestern vorgestellten Entwürfe für Hamburgs Hafencity. "Das Werbematerial zeigt lächelnde, gut angezogene Menschen beim Flanieren auf sonnigen Boulevards und Promenaden, in Cafes und beim Shopping, es zeigt eine Welt ohne Depression, Armut, Schmutz, Regen und Verfall, dafür mit Marinas, Shrimps, Medienfassaden und glücklichen Kindern. Im Hintergrund dieser Brave New World ragt stets die von Herzog & de Meuron entworfene Elbphilharmonie heraus, die Hamburgs Sydney-Oper werden soll und deren Bau trotz immenser Kosten von rund 240 Millionen Euro gerade beschlossen wurde. Ohne größeres Murren übrigens, denn jeder versteht, dass sich die Hafencity ohne dieses zeichenhafte Gebäude nie so gut vermarkten ließe. Nüchtern betrachtet, unterscheidet sich dieses Gebiet optisch kaum von anderen ähnlichen Vorhaben irgendwo in der Welt."

Karl Bruckmaier resümiert das blasse Popjahr 2006, das er zwischen Madonnas "Krampfadernpop", "Hip-Hop als Sound für die Doofen, die Prekären, die Privatfernsehsklaven dieser Welt" und einem gewissen "Tudor-Sound" (zum Beispiel von Joanna Newsom) ansiedelt, der aus seiner Sicht wie geschaffen scheint "für die Kinder aus gutem Haus, einigermaßen belesen, halbgebildet und durchaus nicht abgeneigt, während eines Freisemesters mal was richtig Ausgeflipptes zu unternehmen wie etwa einen Joint zu rauchen".

Weitere Artikel: Auf der Filmseite geben die Kritiker ihr jeweiliges Lust- und Frustvotum für das zuende gehende Kinojahr ab. Rainer Gansera spricht mit Bruno Ganz über seine Erfahrungen mit dem Großvater, den er in Fredi M. Murers Film "Vitus" spielt. Jürgen Berger beschreibt recht eindrucksvoll, wie Joachim Schlömer im Spagat zwischen städtischer Sparwut und maximaler künstlerischer Selbstausbeutung in Freiburg manchmal die Luft ausgeht. Und Reinhard J. Brembeck meldet, dass pünktlich zum ausgehenden Mozart-Jahr der Chef des Salzburger Erzbischöflichen Archivs, Ernst Hintermaier, einen ins 18. Jahrhundert datierenden Band mit 118 Klavierstücken erwarb, darunter sensationellerweise ein unbekanntes Werk von Wolfgang Amadeus Mozart.

Besprochen werden Ken Loachs Irland-Film "The Wind That Shakes the Barley" (für H.G. Pflaum "ein manchmal brutaler, manchmal poetischer und vor allem sehr sinnlicher und emotionaler Film"), Michael Steiners Kinderfilm "Mein Name ist Eugen", Omar Porras Inszenierung von Lope de Vegas "Pedro und der Kommandeur" an der Pariser Comedie Francaise, vier Ausstellungen zum 500. Todestag des Malers Andreas Mantegna in Padua, Verona und Mantua (mehr hier) sowie Bücher, darunter Matthias Kuhns Geschichte der Münchner Lach- und Schießgesellschaft und ein Band mit Aufsätzen über den Jesuiten und Barockpoeten Jacob Balde (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 28.12.2006

Der Schweizer Journalist und Reiseautor Georg Brunold erinnert sich im Aufmacher an seine Kindheit in Arosa. Der Berliner Arabist Nicolai Sinai wendet sich in einer akademischen Kontroverse gegen einen FAZ-Artikel des katholischen Theologen Karl-Heinz Ohlig, der den frühen Islam als eine Art christliche Sekte darstellte. Götz Adriani, Leiter der Kunsthalle Tübingen und ehemaliger Konservator am Hessischen Landesmuseum Darmstadt, greift in den Streit um die Präsentation von Beuys-Werken in diesem Museum ein. Auf der Filmseite halten die mit Kino befassten Redakteure dieser Zeitung Rückschau auf das Jahr 2006. Und Verena Lueken erinnert an Carol Reed, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre.

Auf der Medienseite erzählt Jürg Altwegg die Geschichte des untergetauchten Journalisten und angeblichen Al-Qaida-Experten Jean-Charles Brisard, der sich in ganzseitigen Anzeigen bei einem arabischen Scheich entschuldigte, dem er vorgeworfen hatte, Al Qaida subventioniert zu haben. Gemeldet wird, dass die FR ab Jahresanfang als Tabloid erscheint und weitere 200 Stellen abbauen soll.

Auf der letzten Seite porträtiert Marius Meller die Autorin Katharina Hacker, deren Roman "Die Habenichtse" nach dem deutschen Buchpreis zum Bestseller wurde. Gina Thomas zeichnet erbitterte Kontroversen um die Reformierung der Universität von Oxford nach. Und Pia Reinacher porträtiert den Entzifferer Robert Walsers und Leiter des Walser-Archivs Bernhard Echte.

Besprochen werden neue Biografien über Gottfried Benn.