Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2007. Für die SZ entfaltet Xu Xing ein Panorama der Stadt Peking. Die FAZ greift noch einmal den Streit um Maxim Billers Roman "Esra" auf und meint, dass Kunst, die wirken will, auch mit Gegenwirkungen rechnen muss. In der NZZ erklärt der Philosoph Catalin Avramescu, wie die Rumänen ihre Privatsphäre vom öffentlichen Raum abteilen. Die taz erklärt, was es mit der religiösen Frauengemeinschaft der Qubeissiat in Syrien auf sich hat. Die Welt lockt Helge Schneider über seine Hitler-Rolle in Dani Levys Film "Mein Führer" aus der Reserve.

Welt, 05.01.2007

Helge Schneider drückt sich im Interview so lange vor einer Meinung zu Dani Levys Film "Mein Führer", in dem er die Hauptrolle spielt, dass ihm Peter Zander vorhält: "Entschuldigung, aber das klingt wie die Klischeeausrede aller Nazi-Mitläufer: Ich habe ja nur mitgespielt." Darauf Schneider: "Naja, das ist jetzt ein bisschen übertrieben. Ich finde die Frage völlig fehl am Platz. Ich habe Hitler dargestellt für einen jüdischen Regisseur, dem ich mich anvertraut habe. Und was er daraus macht, dazu brauch ich eigentlich gar nicht gefragt zu werden. Nicht wie ich den Film finde und nicht, was daraus geworden ist. Wenn ein Regisseur einen Film dreht, kann der Darsteller doch nicht sagen: Ich stehe und falle mit ihm. Das ist doch völlig absurd."

Michael Pilz hat sich durch Courtney Loves gerade erschienene Tagebücher gelesen und die neue CD von Gwen Stefani gehört und stellt seufzend fest: "Man hat sich jahrelang bemüht, dem Phänomen der selbst bestimmten, widerspenstigen Blondine Höheres zuzuschreiben." Hat sich aber nicht gelohnt.

Weitere Artikel: Hendrik Werner vergleicht die "hiesige Anti-Anglizismen-Bürgerwehr" mit den "französischen Berufslinguisten" und hält die Initiativen ersterer für vielversprechender. Eckhard Fuhr meditiert über das Logo der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt Luxemburg und hält fest: "Der Hirsch ist das Leittier Europas." Elena Sorokina meldet, dass der neue Direktor der Pariser Ausstellungshalle Palais de Tokyo, der Schweizer Marc-Olivier Wahler, von der französischen Presse inzwischen akzeptiert wurde. Katharina Dockhorn und Hanns-Georg Rodek geben das Programm der Berlinale bekannt. DW meldet, dass der Suhrkamp Verlag Klage gegen die beiden neuen Minderheitseigner eingereicht hat. David Deißner gratuliert dem Philosophen Dieter Henrich zum Achtzigsten. Auf der Medienseite stellt Gerti Schön das renovierte Wall Street Journal vor.

Besprochen werden eine CD von Jack Johnson und eine Ausstellung über den Einfluss von van Gogh auf den Expressionismus im van Gogh Museum in Amsterdam.

FR, 05.01.2007

Lutz Hübners Drama "Ehrensache", das vom Mord an einem 14-jährigen Mädchen in Hagen 2004 handelt, kann nun wohl bald aufgeführt werden, informiert Ruth Heynen, auch wenn es nach wie vor die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Familie verletzt. "Im zuletzt angestrengten Rechtsstreit des Lübecker Stadttheaters wurde nun erstmals ein Vergleich ausgehandelt, der endlich die reibungslose Aufführung und den Druck des Stückes gewähren könnte: In Vorankündigungen, Programmheften und - im Falle der Aufführung - einem Vorspann soll deutlich gemacht werden, dass sich das Drama zwar an Medienberichten über reale Vorfälle orientiert, 'im übrigen aber künstlerisch frei gestaltet' ist."

Weiteres: Der ehemalige deutsche Universal-Chef Tim Renner erzählt Antje Hildebrandt in einem epischen Interview von seinem Label MotorMusic und erklärt, wie sein Internetsender MotorTV Inhalte aus dem Netz generiert. Besprochen werden Ausstellungen über Andreas und Lyonel Feininger in Halle und Chemnitz sowie eine Schau zur Architektin Verena Dietrich im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt.

FAZ, 05.01.2007

Richard Kämmerlings greift in einem dreispaltigen Aufmacher noch einmal die juristischen Auseinandersetzungen um Maxim Billers Roman "Esra" auf. Seine ehemalige Lebensgefährtin und ihre Mutter, die Biller in dem Roman erkennbar porträtiert, hatten das Verbot des Buchs erwirkt und fordern jetzt 100.000 Euro Schadenersatz. Das Urteil ist nicht von der Hand zu weisen, meint Kämmerlings, da Biller in seinem Roman bewusst die Probe aufs Exempel gemacht habe: "Es ist höchst kurios, dass sich Autoren auf die totale Autonomie der Fiktion und der Kunst berufen, die zugleich die soziale Relevanz der Literatur betonen oder deren Verschwinden beklagen. Kunst, die wirken will, muss damit rechnen, dass sie trifft. Sich im entscheidenden Moment den Zaubermantel 'Alles nur ausgedacht' überzustreifen ist nicht nur inkonsequent, sondern feige. Eine Literatur der radikalen Selbstentblößung, wie Biller sie fordert und in 'Esra' auch umsetzt, ergäbe dann gar keinen Sinn. Das Seltsame an der Debatte ist also, dass Biller unter dem Niveau seines eigenen Romans und dessen impliziter Poetik verteidigt wird."

Weitere Artikel: Redakteur Andreas Rossmann mokiert sich in der Leitglosse über den freien Autor Rafael Seligmann, der im Auftrag der Ruhrkohle AG einen Roman über die Geschichte der Kohle im Ruhrpott geschrieben hat. Gemeldet wird, dass sich Helge Schneider und Dani Levy jetzt über die Aussage ihres Films "Mein Führer" streiten. Eduard Beaucamp freut sich in seiner Kolumne "Kunststücke" noch einmal über den Sieg der Malerei über alle anderen Konzepte der modernen Kunst. Jürgen Kaube gratuliert dem Philosophen Dieter Henrich zum Achtzigsten. Daniel Hildebrand resümiert ein hochkarätig besetztes juristisches Symposion in Jena über die Frage, ob es sich beim Artikel 1 der Verfassung um ein Dogma handelt. Joseph Croitoru berichtet über einen Aufruf israelisch-arabischer Intellektueller, die mehr Anerkennung im Staate Israel fordern (hier das Papier als pdf und hier ein Artikel der Jerusalem Post zum Thema).

Für die Medienseite besucht Melanie Mühl die große alte Dame der Schweizer Fotoreportage Lisa Meyerlist (mehr hier), Und Jochen Hieber empfiehlt eine Dokumentaton über den Fall Natascha Kampusch. Für die letzte Seite parodiert Dietmar Dath ein verhaltensbiologisches Interview mit einem Affen. Tilmann Lahme berichtet über den Fall eines ehemaligen DDR-Politoffiziers, der es erreichte, dass er als indirekt Verantwortlicher für die letzten Mauertoten in einem Buch des Autors Roman Grafe nicht benannt werden darf - sogar Proteste gegen dieses Urteil wurden verboten. Und Gina Thomas porträtiert die bezaubernd aussehende Londoner Primaballerina Simone Clarke, über die ein Reporter herausgefunden hat, dass sie Mitglied der rechtsextremen British National Party ist.

Besprochen werden Steven Zaillians Film "Das Spiel der Macht" mit Sean Penn, eine Ausstellung mit Kinderporträts Hellen van Meenes in Essen und eine Ausstellung mit Zeichnungen des Bildhauers Thomas Schütte in Nürnberg.

TAZ, 05.01.2007

Mona Sarkis stellt auf den Tagesthemenseiten die wichtigste religiöse Frauengemeinschaft Syriens vor, die Qubeissiat. "Als Geheimsekte werden sie gehandelt. Zum einen, weil ihre angeblich 75.000 Mitglieder ihre Religion nicht öffentlich praktizieren, zum anderen weil sie nicht mit Außenstehenden sprechen. Informationen dringen nur über muslimische Religionsgelehrte nach außen, mitunter auch über Frauen, die einmal eines ihrer Seminare besucht haben. Es sind Informationen, die angesichts des hochgradig tabuisierten Themas 'Religion und Frauen' zögerlich weitergegeben werden - zumal die Qubeissiat der einflussreichen Oberschicht angehören. Wie hoch ihr Rang innerhalb der Gemeinschaft ist, kann man sehen: Je dunkler ihre Mäntel, desto näher stehen sie ihrer sagenumwobenen Scheicha Munira al-Qubeissi."

Weitere Artikel: Im Kulturteil spricht der heute in Frankreich lebende algerische Schriftsteller Yasmina Khadra über seinen neuen Roman "Die Attentäterin" und den Bürgerkrieg in Algerien. Auch im Web 2.0 steckt Geld, stellt Florian Hollenbach anlässlich des Verkaufs des Studenten-Treffpunkts StudiVZ an Holtzbrinck fest.

Die Besprechungen widmen sich Christopher Nolans Film "Prestige - Meister der Magie" und das Album "HipHop is Dead" von Nas.

Und hier Tom.

NZZ, 05.01.2007

Der Philosoph Catalin Avramescu erzählt in einem wunderbaren Text, wie in Rumänien der öffentliche Raum ausgehöhlt wird. So haben sich zum Beispiel die Fahrer der öffentlichen Autobusse einen privaten Bereich geschaffen. "Die Fahrer verschanzen sich hinter Glas und Gardinen, um sich von den Fahrgästen zu isolieren. Da sitzt der Mann in Schlappen und Unterhemd vorm Lenker, mit Zigarette im Mund, und hört 'Manele'-Musik. Er hat seine Kabine mit Wimpeln der Fussballmannschaft Rapid, Postern des Schlagerstars Ana Lesko und christlichen Kreuzen in Kunststoff drapiert. Oft wird er von Verwandten begleitet oder unterhält sich mit einem Bekannten. Ich habe Autobusse gesehen, in denen die Bewohner in ihren Kabinen sogar Blumentöpfe aufgestellt hatten. Obwohl ohne Hühner oder Köter an der Kette, ist dieser Mikrokosmos doch die getreue Kopie eines Vorstadthofes - eine Enklave des ländlichen Rumäniens, versetzt in einen weißen Mercedes-Bus, die durch die Stadt spazieren fährt."

Weiteres: Thomas Veser hat die Gräber der Buganda-Könige in Kasubi besucht. Uwe Justus Wenzel schreibt zum achtzigsten Geburtstag des Philosophen Dieter Henrich. Gemeldet wird, dass Suhrkamp Klage gegen die neuen Minderheits-Eigentümer eingereicht hat. Besprochen wird Annie Leibovitz' Ausstellung "A Photographer's Life, 1990-2005" im Brooklyn Museum New York.

Auf der Filmseite stellt ein beeindruckter Fritz Joachim Sauer die Website des Ingmar Bergmann Archivs vor: "Das bisherige Ergebnis besteht in einer übersichtlichen Anordnung der überwältigenden Materialfülle, ergänzt durch Dokumentationen aus Archiven des schwedischen Fernsehens und Rundfunks. Das Ganze gegliedert in sieben mehr oder weniger ausführlich kommentierte Sektionen." Besprochen werden die neuseeländische Komödie "Fidji Drive No. 2" von Toa Fraser und Andrea Arnolds Thriller "Red Road".

Der Medienjournalismus befindet sich in der Krise, meint der Berliner Medienwissenschaftler Stephan A. Weichert auf der wöchentlichen Medienseite der NZZ: "Hinzu kommt, dass Medienkritik als Aufklärung fast vollständig ad acta gelegt wurde: Vor allem während der Medienkrise wurde ihr allmählicher Untergang anscheinend als Kollateralschaden hingenommen. Solange Medienjournalisten nicht ständig den Medienmächtigen auf die Finger schauen, sind sie nicht mehr als PR-Gehilfen der Kommunikationsindustrie."

Weitere Artikel auf der Medienseite: "ras" kommentiert anlässlich der Hinrichtung Saddam Husseins den Voyeurismus in Internet und Medien und bescheinigt den Videos bei Youtube am Ende trotz allem, dass sie "ein Stück Aufklärung" enthalten. Stefan Krempl resümiert den Berliner Chaos Communication Congress, der 4.200 Besucher anzog und Datenschutzthemen aufgriff. S. B. macht auch die Schweizer Leser mit der "Weisheit der Massen" als Triebkraft des Web 2.0 bekannt. Und ii unternimmt einen Rundgang durch das Web 2.0.

SZ, 05.01.2007

"Früher war Peking eine kauernde Stadt. Sie lag da wie ein alter Mann, der endlos Geschichten erzählt. Das heutige Peking hat sich aufgerichtet. Als hätte sie eine Dosis Viagra geschluckt, erigiert die Stadt Stück für Stück." Der Schriftsteller Xu Xing berichtet für eine SZ-Reihe über Großstädte von seiner Hassliebe zu Peking. "Ich kriege Atembeklemmungen, wenn ich nicht einen kleinen Straßenhändler sehe, der sich vor Angst schier in die Hosen macht. Oder einen hinterhältigen Gauner, der verstohlen um sich blickt. Oder einen Wanderarbeiter, der mit einem Finger in der Nase bohrt und mit dem anderen seine Zehen reibt, während er auf einen Auftraggeber wartet. Oder ein Straßenmädchen mit dem Sexappeal der Jugend. Oder einen Polizisten, der einen vor Angst erzittern lässt. Oder ein Mädchen vom Land, das die Porno-DVDs in den Windeln ihres Kindes versteckt."

Nachdem das Studentenportal StudiVZ vorgestern für bis zu hundert Millionen Euro an Holtzbrinck verkauft wurde, stellt Alex Rühle fest, dass es auch in der neuesten Online-Community um etwas sehr Altes geht. "Im StudiVZ kann man 40 Frauen auf einmal gruscheln, während man in einer Kneipe schon Probleme bekommt, wenn man versucht, zwei Frauen gleichzeitig zu grüßen, vom Kuscheln ganz zu schweigen." Das "Gruscheln" bei StudiVZ artete dann allerdings "in den ersten Fall von digitalem Massenstalking aus".

Weiteres: Jens-Christian Rabe meldet, dass in die britischen Musikcharts nun auch die legalen Downloads eingerechnet werden. Sonja Zekri erfährt von arabischen Schriftstellern, dass es noch keine arabische Literatur über den Irak-Krieg gibt, weil dieser so komplex und widersprüchlich ist. Dorothea Baumer blickt auf die Kunstauktionen des vergangenen Jahres in Deutschland zurück und meldet Rekorde für Lempertz und die Villa Grisebach. Rolf-Peter Horstmann gratuliert dem Philosophen Dieter Henrich zum Achtzigsten, Kristina Maidt-Zinke dem Sänger und Pianisten Paolo Conte zum Siebzigsten. Willibald Sauerländer schreibt zum Tod des amerikanischen Kunsthistorikers Craig Smyth, der München von seinen NS-Bauten befreite.

Auf der Medienseite porträtiert Claudia Tieschky den Arte-Chef Gottfried Langenstein, der für seinen Sender unter anderem Video on Demand einführen will. Das Kartellamt hat die Art und Weise, wie sich das Bundeskanzleramt eine Kommunikationsagentur ausgesucht hat, auf hundert Seiten umfassend gerügt, berichtet Christoph Schwennicke. Im politischen Teil gibt es eine Seite über die Rückgabe enteigneter Kunst. Im Interview wünscht sich der Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden, Martin Roth, eine klarere Rechtslage.

Besprochen werden Angelina Maccarones "schmerzlicher" Liebesfilm "Verfolgt", und Bücher, darunter Omar Calabreses Prachtband zur "Geschichte des Selbstporträts" und Christine Haideggers Roman "Fremde Mutter" sowie Kinder- und Jugendbücher (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).