Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2007. Die NZZ beklagt die Erosion in Jemen aufgrund fortgesetzten Kat-Kauens. In der taz beklagt Gerhard Baum die Erosion unserer Grundrechte. In der SZ beschreibt der südkoreanische Schriftsteller Kim Young-ha die Erosion der Erinnerung in Seoul. Im Tagesspiegel schildert Clemens Meyer die Erosion des Rechtsempfindens bei den Leipziger Fußballfans. Die FAZ stellt sich schützend vor Ursula von der Leyen: keine Erosion des Familienbilds. Die FR bewundert Edmund Stoiber als Konvergenztheorie auf zwei Beinen.

NZZ, 23.02.2007

Die Jemeniten brauchen viel Wasser, vor allem weil sie gerne Kat kauen, und diese Pflanze ist durstig, schreibt Hilmar Poganatz in einer lesenswerten kleinen Reportage aus Sanaa und schildert eine paradoxe Szene der Wasserknappheit, die die schöne Stadt bedroht: "Grundwasser, nicht Erdöl, ist heute die am heißesten umkämpfte Ressource in Jemen. Als die Regierung vor gut einem Jahr über Nacht die Benzinpreise verdoppelte, hagelte es zwischen Zapfsäulen und Tanklastwagen im ganzen Land Gewehrsalven, Dutzende Jemeniten wurden erschossen. Und dabei ging es im Grunde nicht um Benzin, sondern um Wasser: Um an das Elixier des Lebens zu gelangen, lässt man Tag und Nacht die Wasserpumpen laufen - und diese werden mit Diesel betrieben."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann untersucht die Nebenrolle der Intellektuellen im französischen Wahlkampf. Joachim Güntner schildert deutsche Bemühungen um den Nichtraucherschutz und resümiert Forschungsergebnisse zur Raucherentwöhnung. Besprochen werden die Ausstellung "Magic Line" über die Linie in der modernen Kunst in Bozen und ein Konzert Martha Argerichs mit dem Tonhalle-Orchester ("Man hat den Eindruck, ein ganzes gelebtes Leben stecke in Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 op. 15, wenn Martha Argerich es spielt", seufzt Alfred Zimmerlin.)

Auf der Filmseite geht's um den CIA-Film "The Good Shepherd" von Robert De Niro, die Comicverfilmung "Ghost Rider" von Mark Steven Johnson, und den Schweizer Film "Mittendrin" von Salome Pitschen.

Auf der Medienseite mokiert sich "ras" über die politische korrekte Selbstdarstellung von Tabak- und Alkoholfirmen im Internet. Viele Adressen verlangen eine Altersangabe vom Nutzer: "Heineken geht noch weiter. Klickt man auf dessen Homepage den Knopf 'Ich bin noch nicht 18 Jahre alt' an, landet man gleich auf der Website des Verbands der Schweizer Milchproduzenten. Wie selbstlos."

Zu den weiteren Themen gehören die Tücken von Windows Vista. Daniel Meierhans informiert über den neuesten Stand in der Bioinformatik. Und "set" schreibt zum Tod des in Wien geborenen Ingenieur Robert Adler, der einst die Fernbedienung erfand. Außerdem werden eine Einführung in den Fernsehjournalismus besprochen und ein Band über das Bild von Migranten in den Medien besprochen.

FR, 23.02.2007

"Niemals hat jemand knapper die Konvergenztheorie formuliert und klarer hat noch keiner gesagt, dass ein Land, das sich Guantanamo leistet, am besten von jemandem wie Breschnew regiert würde", kommentiert Arno Widmann in der Kolumne Times Mager belustigt Edmund Stoibers Versprecher beim politischen Aschermittwoch der CSU in Passau: "Ich habe es für wohltuend empfunden, dass die Bundeskanzlerin gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Breschnew Guantanamo kritisiert hat."

Andere Themen: Ina Hartwig erinnert im Vorfeld des Bücherfrühlings und seiner schon mit den Hufen scharrenden Jungautoren noch einmal an die ersten Schreibversuche des zwanzigjährigen Hubert Fichte, seine "St. Pauli Geschichte". Sebastian Moll berichtet vom Rummel, den David Mamets Hollywood-Innenansichten "Bambi vs. Godzilla" im Vorfeld der Oscar-Verleihung produziert hat. Eine einsame, aber hymnische Besprechung gilt Clint Eastwoods Film "Letters from Iwo Jima", aus Sicht von Daniel Kothenschulte ein Meisterwerk, das zurück zur humanistischen Rhetorik der großen pazifistischen Filmklassiker der zwanziger und dreißiger Jahre führt.

TAZ, 23.02.2007

"Seit den RAF-Gesetzen gibt es eine schleichende Erosion unserer Grundrechte, verstärkt seit dem 11. September 2001," sagt der ehemalige Innenminister Gerhart Baum im Interview mit Stefan Reinecke auf der Meinungsseite. "Der Ausnahmezustand wurde zur Regel. Die Antiterrorgesetze seit 2001 zeigen, dass wir aus der Auseinandersetzung mit der RAF das Falsche gelernt haben."

Im Kulturteil meldet Jörg Sundermeier, dass die Europäische Verlagsanstalt den westlinken Rotbuch Verlag an die ostlinke Eulenspiegel Verlagsgruppe verkauft hat. Besprochen werden eine Ausstellung im Berliner Bauhaus-Archiv über das Magazin "die neue linie", das neue Album der kanadischen Band Arcade Fire und CDs mit Indie-Pop.

Schließlich Tom.

Welt, 23.02.2007

Michael Pilz bereitet auf das neue Album von Tokio Hotel vor, das heute erscheint. Ute Baier bemerkt, dass der drohende Abzug der Kunstsammlung Froehlich aus Karlsruhe das ZKM nicht erschüttert. Thomas Meyer lehnt einen kürzlich gemachten Vorschlag von Larry Siedentop ab, der die Proklamation einer christlichen Identität in der europäischen Verfassung vorgeschlagen hatte. Sven Felix Kellerhoff lässt die Geschichte Preußens Revue passieren. Auf der Magazinseite erklärt sich Filmregisseur Florian Henckel von Donnersmarck zum Perfektionisten.

Besprochen werden Aufführungen von Lessings "Emilia Galotti" in Nordrhein-Westfalen für Abiturienten, eine Ausstellung mit Werke aus dem Nationalmuseum Afghanistans im Pariser Musee Guimet (dazu gibt es ein kurzes Interview mit dem Kurator Pierre Cambon) und eine Aufführung von Halevys Oper "La Juive" in Paris.

SZ, 23.02.2007

Der südkoreanische Schriftsteller Kim Young-ha, der mit zehn Jahren das Gedächtnis an seine Kindheit verlor, schreibt über die Megastadt Seoul, die ununterbrochen an der Auslöschung ihres architektonischen Gedächtnisses arbeitet: "Diese Stadt, die von zehn Millionen erinnerungslosen Menschen bevölkert wird, investiert jährlich eine Riesensumme um sich zu verschönern, doch die Leere im Innern gedeiht immer weiter. Eines Tages wird jemand tief aus dem Innern der Stadt fragen: 'Seoul, woher kommst du? Und wer seid ihr, die ihr in diesem erinnerungslosen künstlichen Paradies lebt?' Manchmal habe ich Angst vor diesem Seoul, in dem alles so spurlos zu verschwinden scheint."

Von Sonja Zekri erfahren wir, dass in Ägypten erstmals ein Blogger zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden ist: Abdel Karim Nabil hatte in seinem Internet-Tagebuch Hosni Mubarak als "Symbol der Diktatur" bezeichnet und die Al-Ashar-Hochschule als "Universität des Terrors", weshalb er nun zu vier Jahren Haft verurteilt wurde: drei für die Diffamierung des Islam, ein Jahr für die Beleidigung des ägyptischen Präsidenten. "'Wenn wir solche wie ihn ohne Strafe davonkommen lassen, wird ein Flächenbrand ausbrechen, der alles verschlingt', hatte der Staatsanwalt Mohammed Dawud gewarnt. Genau davon träumen Bürgerrechtler, von denen einige Ägyptens Blogger bereits als Hoffnungsträger einer digitalen Graswurzel-Demokratisierung betrachten."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler befragen den Kameramann Michael Ballhaus zur Entstehungsgeschichte von Martin Scorceses Film "The Departed", Jack Nicolson und der dünn gewordenen Luft in Hollywood. Thomas Urban berichtet, dass Volker Schlöndorffs Solidarnosc-Film "Streik" in Polen versöhnlicher aufgenommen wurde, als befürchtet. Jens Malte Fischer gratuliert der Sopranistin Regine Crespin zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die zweite CD der Kaiser Chiefs, "Yours Truly Angry Mob", die große William-Hogarth-Schau in der Tate-Britain, die Aufführung von Thomas Ades Orchesterwerk "Tevot" mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern, Sebastian Nüblings Ibsen-Inszenierung "Gespenster" an der Berliner Schaubühne, die Berliner Station der subversiven Nazi-Plakat-Tournee des Künstlerduos "Surrend" und Bücher, darunter Ingo Schulzes heute erscheinender Erzählungsband "Handy" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 23.02.2007

Realitätsfern findet Sandra Kegel die Ausfälle des Augsburger Bischofs Mixa gegen Ursula von der Leyens Familienpolitik. Es sei höchste Zeit, dass die Politik endlich die realen Lebensverhältnisse zur Kenntnis nehme. Und die sehen nun einmal so aus: "Ein Drittel aller Kinder kommt unehelich auf die Welt, ein Drittel aller Kinder hat ausländische Eltern, jedes fünfte Kind lebt bei einem alleinerziehenden Elternteil. In vielen Schulklassen sind Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern leben, heute in der Unterzahl. Schon deshalb hat Ursula von der Leyen recht, wenn sie ein Familiensplitting für alle Familienformen fordert, ob mit oder ohne Trauschein, ob traditionell oder patchwork, denn Familie ist da, wo Kinder sind."

Weitere Artikel: Christian Schwägerl kommentiert die jüngsten Weltklimaberichte - und bleibt skeptisch, dass amerikanischen Lippenbekenntnissen Taten folgen werden. Gar nichts hält Dieter Bartetzko von der Idee, das Frankfurter Städel-Museum aufzustocken. Wolfgang Sandner porträtiert den Klarinettisten Martin Fröst, der im winzigen schwedischen Ort Mora jetzt ein Musikfestival leitet. Regina Mönch informiert darüber, dass Carl Spitzwegs Gemälde "Fiat Iustitia" an die Erben des jüdischen Eigentümers zurückgegeben wird. "Eeb." trauert um die Römerbad-Musiktage, die in diesem Jahr ihre letzte Auflage erleben. Mit Bedauern nimmt "hd." den angekündigten Abschied Ian Holenders als Wiener Staatsopernchef zur Kenntnis. In der Glosse weist Jordan Mejias anlässlich eines Streits um das Wort "Skrotum" in einem Kinderbuch auf die Schizophrenie des amerikanischen "way of talking" hin.

Auf der Medien-Seite wird Dominik Grafs heute Abend auf Arte zu sehender neuer Fernsehkrimi "Eine Stadt wird erpresst" nachdrücklich empfohlen. Außerdem gibt es ein langes Gespräch mit Peter Krause, dem Darsteller des Nate Fisher in der Kultserie "Six Feet Under".

Auf der letzten Seite erinnert Alexander Cammann an den Politikwissenschaftler Arnold Brecht, der vor dreißig Jahren starb. Im Gespräch mit Bischof Wolfgang Huber geht es um die Lehren aus dem Zukunftskongress der Evangelischen Kirche.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Hans Baldung genannt Grien im Frankfurter Städel, eine Dresdener Ausstellung mit Bildern von Fritz und Barbara Klemm, Todd Robinsons Film "Lonely Hearts Killer" und Bücher, darunter Petra Gersters Alterstraktat "Reifeprüfung" und Theaterbücher von Ivan Nagel und Klaus Völker (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).