Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.09.2007. Manche Feuilletons finden die Stammheim-Spektakel in Stuttgart großartig, andere ein bisschen narzisstisch. Die NZZ fragt: gibt es eine Opferpflicht des Staatsbürgers? Die FAZ porträtiert die Mafia-Fotografin Letizia Battaglia. Für die taz trifft Gabriele Goettle eine Zaubereiexpertin.

TAZ, 24.09.2007

Gabriele Goettle trifft sich mit Mona Schmidt, die in Berlin-Neukölln einen traditionsreichen Laden für Zauberwaren betreibt. "Der 'Zauberkönig' ist kaum einen Meter höher als die efeubewachsene Friedhofsmauer. Die zwei Schaufenster sind mit all dem dekoriert, was schwarze Kinderseelen erfreut, und auch Erwachsene können schwelgen. Da gibt es zum Beispiel Wurmpillen; Stinkbomben; Eiswürfel mit Fliege; Zigaretten, die explodieren oder zu glühen scheinen; eine Wanduhr, die verkehrt herum geht; ein Salzfass mit Geräusch; Seife, die die Hände färbt; Pups-Kissen; Zauberwasser; schwarze Schlangen; Vogelpfeifen; Zaubermasken; erotische Scherzartikel; einen feuchten Händedruck; schön geschliffene Gläser, die die Flüssigkeit nicht halten können; eine hölzerne Guillotine; Zaubertusche; acht Scheißhaufen in verschiedener Form, Farbe und Größe; und wunderbare kleine Magnet-Tänzerinnen, die sich unentwegt auf einem Spiegel drehen."

In der zweiten taz versucht Robert Misik, die Mechanismen der konsumbestimmten Identitätsfindung zu skizzieren. Christian Füller wohnt dem ersten Treffen der "Schulerneuerer" in Hamburg bei. Michael Brake meldet, dass wegen eines japanischen Videospiels die Hirschkäfer in der Südtürkei dezimiert werden. Auf der Meinungsseite erklärt die Soziologin Christa Wichterich, warum die beruflichen Erfolgen von Frauen in der Dritten Welt nicht den Geist der wahren Frauenbewegung widerspiegeln: "Dem Feminismus der zweiten Frauenbewegung ging es .. um Kritik an Herrschaftsverhältnissen. Ihr Ziel war die Veränderung dieser Strukturen, nicht Geschlechtergleichheit in ihnen."

Und Tom.

FR, 24.09.2007

Selbst für jene, denen der RAF-Rummel schon über den Kopf steigt, ist beim Schwerpunkt des Stuttgarter Theaters etwas dabei, verspricht Peter Michalzik. Claus Peymann liest die an ihn wegen seines Spendenaufrufs für die Zahnbehandlung Gudrun Ensslins gerichteten Schmähbriefe zwar allzu triumphierend vor. "Trotzdem hat das 'Training' von Rimini-Protokoll dank der zahlreichen Vertreter des Turnvereins Stammheim etwas Großartiges. Diverse Tanzabteilungen von HipHop bis Paartanz, die Männer vom Tischtennis, die Yogadamen und Wirbelsäulengymnastiker geben auf der Bühne Kostproben ihrer Arbeit und erzählen, was beim Joggen um die JVA herum alles passiert. Und der Rüstmeister des Staatstheaters rekonstruiert in breitem lokalem Dialekt die Geschichte der Zahnspendenaffäre. Alle bis auf Peymann arbeiten sie von verschiedenen Seiten an einer Vergegenwärtigung, die in dem schroffen Nebeneinander von schäumendem Hass, JVA-Mauern und der guten Laune des TV Stammheim wahrscheinlich kongenial ist: Da prallen deutscher Alltag und Wahnsinn aufeinander, und Stammheim steht wieder, normal, banal, mental, vor uns."

Weiteres: Franz Anton Cramer würdigt den verstorbenen französischen Pantomimen Marcel Marceau. Harald Keller schreibt zum Tod des Fernsehregisseurs Jürgen Roland. In einer Times mager geht Christian Thomas auf die Querelen um das Arp-Museum, den Arp-Verein und nicht klar deklarierte Duplikate ein.

Eine Besprechung widmet sich Jan Bosses Inszenierung von Heinrich von Kleists "Amphitryon" am Berliner Gorki Theater.

NZZ, 24.09.2007

Uwe Justus Wenzel macht sich Gedanken über die mögliche rechtliche Regelung einer Opferpflicht des Staatsbürgers im Falle, er sitzt in einem Flugzeug, das von Terroristen zur Bombe umfunktioniert wird: "Max Weber, der verstehende Soziologe, glaubte zu wissen, woher der politischen Gemeinschaft 'ihr spezifisches Pathos' zuwachse: von dem 'Ernst des Todes, den eventuell für die Gemeinschaftsinteressen zu bestehen' den Einzelnen zugemutet werde. Das mag im 'Ernstfall' noch immer so sein. Ist die politische Gemeinschaft aber liberal und rechtsstaatlich verfasst, wird sie sich diesem Pathos nicht fraglos hingeben. Der Ernst des Ernstfalls könnte dann darin bestehen, nicht sicher zu wissen, was das Richtige ist."

Weitere Artikel: Joachim Güntner war beim zweitägigen Kolloquium zum zehnjährigen Bestehen des deutschen Übersetzerfonds, bei dem auch der Bundespräsident und Umberto Eco zu Gast waren. Markus Jakob denkt über katalanische Sprache und katalanische Kultur nach. Auf derselben Seite erklären sich der auf katalanisch schreibende katalanische Autor Quim Monzo und der auf spanisch schreibende katalanische Autor Javier Cercas zur Sprache ihres Vertrauens. Andreas Oplatka hat den österreichischen Schriftsteller Alois Brandstetter besucht und mit ihm über seinen neuen Roman "Ein Vandale ist kein Hunne" gesprochen. Mark Zitzmann schreibt zum Tod des Pantomimen Marcel Marceau.

Besprochen wird die Berner Zweitaufführung Georges Aperghis spectacle musical "Zeugen" mit Texten von Robert Walser und Handpuppen von Paul Klee.

Welt, 24.09.2007

Eckhard Fuhr berichtet vom Saison-Auftakt am Theater Stuttgart, das sich in mehreren Produktionen mit der RAF und dem Deutschen Herbst befasst. Von der ersten Produktion, der "Peymannbeschimpfung" durch das Rimini-Protokoll, zeigt er sich bereits nicht ganz überzeugt: "Ein gewaltiges historisches Aufarbeitungsbedürfnis, dem sich das Theater als Ort der Aufklärung und moralische Anstalt zu stellen habe, scheint auf den ersten Blick hinter all dem zu stehen. Der Stuttgarter Auftakt vom Wochenende aber zeigt, dass das Theater sich vor allem mit sich selbst beschäftigt. Der Jahrestag des 'Deutschen Herbstes' ist für Autoren, Regisseure und Schauspieler vor allem ein Anlass zu der Frage: Was machen wir hier überhaupt?"

Weitere Artikel: Hendrik Werner begrüßt in der Leitglosse die Meldung, dass die New York Times seit neuestem fast ganz kostenfrei im Netz steht. Manuel Brug würzt die Meldung, dass Katharina Wagner und Christian Thielemann Bayreuth im Tandem übernehmen wollen, mit dem Gerücht, dass auch Nike Wagner und Eva Wagner-Pasquier künftig als Team auftreten wollen. Manuel Brug wirft auch einen Blick auf die ersten Produktionen des Bremer Theaters unter der Intendanz von Hans-Joachim Frey. Wieland Freund berichtet von der Feier zum zehnjährigen Bestehen des deutschen Übersetzerfonds in Berlin, bei der auch bekanntgegeben wurde, dass an der FU Berlin eine Gastprofessur für die Poetik des Übersetzens gegründet wurde (erster Professor ist der Shakespeare-Übersetzer Frank Günther). Kai Luehrs-Kaiser erinnert an Glenn Gould, der in diesen Tagen 75 Jahre alt geworden wäre. Und Monika Nellissen schreibt zum Tod des Krimiregisseurs Jürgen Roland.

Besprochen wird außerdem eine "Iphigenie"-Produktion nach Euripides und Goethe von Nicolas Stemann am Hamburger Thalia Theater.

Auf der DVD-Seite geht's unter anderem um das DVD-Label Filmgalerie 451 (mehr hier), das Erstlingsfilme deutscher Regisseure sammelt, und um eine Chantal-Akerman-Box.

Im vorderen Teil schreibt Matthias Heine zum Tod Marcel Marceaus. Antje Hildebrandt berichtet, dass bei Dreharbeiten zu Tom Cruises Stauffenberg-Film im Bendlerblock Schüsse zu hören waren, die auf ein Nachstellen der Hinrichtung hindeuten. Und auf der Forumsseite rät Henry Kissinger von einem unbedachten Abzug der Amerikaner aus dem Irak ab.

FAZ, 24.09.2007

Andreas Rossmann hat in Palermo die für ihre Mafia-Bilder berühmte Fotografin Letizia Battaglia (Bilder) getroffen, die findet, dass die Ehrenwerte Gesellschaft kaum mehr wiederzuerkennen ist: "Wahr ist, dass die Mafia nicht mehr so brutal auftritt wie früher, aber nur, weil es eine stille Übereinkunft gibt: 'Wir töten keine Richter, Journalisten und Politiker mehr, und dafür lässt der Staat uns in Ruhe machen.' Die Mafia ist heute überall, sie hat die Verwaltungen, Medien und Parteien, die Rechte, aber auch Teile der Linken, infiltriert, sie sitzt in den Köpfen der kleinen Leute und an den Schaltstellen der Macht. Natürlich gibt es immer noch mutige Beamte, Politiker, Journalisten und Geschäftsleute, aber die Grenzen verschwimmen. Die Mafia ist unsichtbar geworden." Battaglia wird am 29. September mit dem Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie ausgezeichnet.

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings resümiert die Popkomm in Zeiten schwindender Einkünfte: "Das Popgeschäft kommt und geht, die Musik bleibt." Dieter Bartetzko war beim Gründungskonvent der "Bundesstiftung Baukultur" und konstatiert ratlos, dass die dort Versammelten vom Volk die Leidenschaft für Architektur forderten, die es doch längst an den Tag legt. Eleonore Büning fasst die zwiespältigen Reaktionen auf Katharina Wagners und Christian Thielemanns Bayreuth-Bewerbung zusammen. "thom" sagt in der Glosse "Tschüss" zur Deutschen Bahn. Beim Blick in französische Zeitschriften hat Jürg Altwegg viel übers Rugby-Spiel gelernt. Helmut Mayer gratuliert dem Romanisten Harald Weinrich zum Achtzigsten. Joseph Hanimann schreibt zum Tod des Pantomimen Marcel Marceau. Auf der letzten Seite berichtet Catrin Lorch über Boris Sieverts künstlerische Kölner Stadtbesichtigungen.

Der höchst renommierte Sprachwissenschaftler David Crystal hat ein funktionierendes System eines "semantischen Webs" entwickelt, das Inhalte "versteht" und nicht nur Wörter findet. Bisher wird es nur in der Werbung eingesetzt, dabei wäre es, wie er im Interview auf der Netzwirtschaft-Seite meint, auch für eine Suchmaschine ideal: "Google müsste nur unsere Daten nutzen, dann würden die Suchergebnisse sofort besser."

Besprochen werden Theater von Cesare Lievi in Wiesbaden ("anderthalb amüsante Stunden" findet Gerhard Stadelmaier) und Postdramatisches von Rene Pollesch in Stuttgart (da versteht Stadelmaier natürlich keinen Spaß), das neue Album "I Ran" der Schauspielerin und Sängerin Jasmin Tabatabai. und Bücher, darunter Augustus Browns Expeditionen in die Kuriositäten des Tierreichs "Warum Pandas Handstand machen" und ein Band mit den Briefen Gustav Mahlers an die ihm privat wie beruflich nahe stehende Sängerin Anna von Mildenburg (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 24.09.2007

Reinhard J. Brembeck argwöhnt, dass es sich bei dem neuen Bayreuther Bündnis aus Katharina Wagner und Christian Thielemann um eine "perfid ausgedachte Augenwischerei" handelt. Ralf Dombrowski schreibt zum Tod des französischen Pantomimen Marcel Marceau. Jens Bisky ist nach der Berliner Tagung "Soldatentod und demokratische Gedenkkultur" der Überzeugung, das geplante Ehrenmal im Berliner Bendlerblock setze sich nur ungenügend mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr auseinander. Die in Berlin zu Ende gegangenen Popkomm ist eine wahrlich preußische Arbeitsmesse geworden, stellt Dirk Peitz fest. Thomas Steinfeld überbringt dem Romanisten und Autor Harald Weinrich Glückwünschen zum achtzigsten Geburtstag. Thomas von Steinaecker besucht den urmünchner Schriftsteller Ernst Augustin in seinem Refugum nahe des Nymphenburger Schlosses. In der großzügigerweise online gestellten Netzdepsche fragt Jean-Michel Berg: "Was macht eigentlich Yahoo?"

Auf der Medienseite schreibt Hans Hoff den Nachruf auf den Fernsehregisseur Jürgen Roland, der mit Krimis und Kriminaldokus bekannt wurde. Hans-Jürgen Jakobs meldet überdies, dass die FAZ ab dem 5. Oktober mit Fotos auf der Titelseite und ohne Frakturschrift über den Kommentaren präsentieren will, um sich den Anschein von Modernität zu geben.

Besprochen werden eine Ausstellung mit echten Fälschungen von Grafiken bekannter Künstler im Graphikmuseum Pablo Picasso Münster, der "durchwachsene" RAF-Schwerpunkt mit Stücken von Rene Pollesch und Rimini-Protokoll am Stuttgarter Staatstheater, D. J. Carusos Thriller "Disturbia", Anna Viebrocks Inszenierung von Paul Dukas' Fin de Siecle-Oper "Ariane et Barbe-Bleue" an der Pariser Bastille-Oper, das Album ("umwerfend") und ein Berliner Auftritt (uninteressant) des französischen Gainsbourg-Erbes Benjamin Biolay, neue DVD-Veröffentlichungen wie Budd Boettichers Western "Seminola", und Bücher, darunter ein von Michael von Prollius herausgegebenes Brevier zum Erfinder des Begriffs Neoliberalismus Alexander Rüstow.