Heute in den Feuilletons

"der schleimige Übergang von Vegetation in Feuchte"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2007. In der FR spricht Anita Albus über den Raum, der ihr zugewiesen wurde. In der NZZ meditiert der Literaturwissenschaftler Sandro Zanetti über das in Schreibkrisen schließlich Geschriebene. In der FAZ erklärt Werner Spies, warum der schleimige Übergang von Vegetation in Feuchte bei Courbet nicht nach Baudelaires Geschmack war. Im Tagesspiegel schwärmt Neil Young von seinem eigenen Autofriedhof, auf dem die originellsten Modelle vor sich hinrosten. Und die SZ staunt über das europäische Wunder Rumänien.

FR, 19.10.2007

Nora Binder und Arno Widmann führen ein schönes Gespräch mit der Künstlerin und Autorin Anita Albus über ihr neues Buch "Das botanische Schauspiel" und die Malerei: "Ich bin der Meinung, mit der Gabe, die man bekommt, bekommt man auch einen gewissen Raum zugewiesen. Es gibt hervorragende Maler wie van Eyck, zu dessen schönsten Bildern seine winzigsten gehörten. Ein einziges Mal dachte ich: Du kannst doch im Kleinen gut malen, nun probier doch mal etwas Großes. Und dann habe ich ein Bild mit Ölfarbe angefangen. Daran habe ich eine Ewigkeit gearbeitet mit dem Ergebnis, dass ich in diesem Großformat den Raum nicht bewältigen konnte."

Weiteres: Maximilian Kuball porträtiert den Radiokollegen Arnd Zeigler, der mit seiner "Wunderbaren Welt des Fußballs" nun auch im WDR zu sehen ist. Kuball glossiert in einer Times mager auch Ursula von der Leyens mittlerweile ad acta gelegte Pläne für jugendliche Schnaps-Testkäufer.

Besprochen werden eine Schau mit Fundstücken von der früh globalisierten Handelswelt der Seidenstraße im Berliner Martin-Gropius-Bau, die von Robert Carsen inszenierte Mozart-Oper "Mitridate" an der Brüsseler Oper La Monnaie, Lucia Palacios' und Dietmar Posts Musik-Dokumentarfilm "Monks - The Transatlantic Feedback", das neue Album "Oblivion with Bells" der britischen Elektro-Formation Underworld, sowie Josef Winklers Buch ""Roppongi".

NZZ, 19.10.2007

Auf der Medien- und Informatikseite geht es um die Verbindung von Mensch und Maschine. Der Literaturwissenschaftler Sandro Zanetti stellt ein Forschungsprojekt der Uni Basel vor, das sich mit der Genealogie des Schreibens befasst. Die Ergebnisse scheinen faszinierend zu sein. "Der entscheidende Einfall will nicht kommen, die Hand wird müde, die Tastatur klemmt - man kennt die entsprechenden Situationen. Dabei gibt die Art und Weise, wie die entsprechenden Widerstände beim Schreiben überwunden oder nicht überwunden werden, stets Einblick in die historisch und individuell von Autor zu Autor und von Autorin zu Autorin je unterschiedliche Situation des Schreibens und somit in die Zeit, aus der das schließlich Geschriebene hervorgegangen ist (oder genauer: hervorgegangen sein wird), ohne dass dieses umstandslos auf die Situation zurückgeführt werden könnte."

Weiteres: Stefan Betschon muss erleben, dass die ungeheure Masse an Informationsmaterial, die Computer und Internet heute bereitstellen, im Geistesarbeiter einen Stau auslösen. S.B. überlegt, wie der Computer Schreiben und Denken beeinflusst. Daniel Meierhans berichtet von Versuchen, eine Gedanken lesende Maschine zu entwickeln: Hansjörg Scherberger vom Institut für Neuroinformatik der Universität und der ETH Zürich "arbeitet mit seiner Forschungsgruppe an der sogenannten Neurohand. Ziel ist die Entwicklung einer Prothese, die durch das Hirn ähnlich differenziert gesteuert werden kann wie ihr natürliches Pendant." Und Tilmann P. Gangloff berichtet über neue Entwicklungen des Fernsehgeschäfts im Internet.

Im Feuilleton resümiert Samuel Herzog die sechste Biennale von Mercosul im südbrasilianischen Porto Alegre. An die ungewöhnlichsten Orte begab sich Daniel Ender bei den Klangspuren Schwaz, einem Festival für zeitgenössischer Musik ("Wo sonst Tiroler Fleckvieh unter den Hammer kommt, erheben sich die zerbrechlichen Kantilenen von Wolfgang Rihms Violinkonzert 'Gesungene Zeit'.") Marli Feldvoss schreibt zum Tod der Schauspielerin Deborah Kerr.

Besprochen werden Carl Orffs "Carmina Burana" in Zürich, eine Ausstellung zur bulgarischen Architektur im Wiener Ringturm, Alben der Soulsänger Rahsaan Patterson, Donnie und Anthony David, Country-CDs von Country von Emmylou Harris, Steve Earle und Lyle Lovett und Bücher, darunter eine Wallraff-Biografie von Jürgen Gottschlich (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 19.10.2007

Im Grand Palais in Paris gibt's eine große Courbet-Ausstellung. Werner Spies deckt Traditionslinien auf, und er erinnert daran, wie fasziniert Cezanne von Courbets "teigiger, taktiler Malerei" war, "die, wie er sagt, den Geruch von feuchten Blättern und die Vorstellung von moosigen Mauern im Wald hervorrufe. Die Ausstellungsregie schafft es, die braunen und grünlichen Tonalitäten so nebeneinanderzusetzen, dass man dazu aufgefordert wird, die Tradition des tektonischen Bildaufbaus über Cezanne hinaus zu verfolgen. Es sind die Töne, auf die sich Braque und Picasso in den Jahren des analytischen Kubismus beschränken. All dies, das Unterholz, der schleimige Übergang von Vegetation in Feuchte, die materiell fassbare Faktur der Leinwand, mussten einen Städter wie Baudelaire abstoßen. Gegen Paris, gegen die Mode, die der Natur den atemberaubenden Wechsel der sozialen Labilität entgegenhält, stellt Courbet das Unheimliche, das in Kavernen und tabuierten Zonen lauert."

Weitere Artikel: In der Leitglosse schimpft Christian Geyer über George Bush, der in "gleißenden Worten" einen Dritten Weltkrieg in Aussicht stellte. Jürgen Kaube beschreibt neue Volten der Universitätspolitik. Heinrich Wefing unterhält sich mit Bundeskulturminister Bernd Neumann über die Wiederherstellung der Anna-Amalia-Bibbliothek und weitere Hilfen des Bundes für Weimar. Patrick Bahners gratuliert dem Comiczeichner Giorgio Cavazzano zum Sechzigsten (der damit einen längeren Artikel bekommt als Günter Grass neulich zum Achtzigsten). Regina Mönch berichtet über den Fund von Bänden aus der Bibliothek Alfred Kerrs in der Berliner Staatsbibliothek - Kerr musste sie verkaufen, bevor er emigrierte. Andreas Platthaus gratuliert dem Maler Pierre Alechinsky zum Achtzigsten. R.W. resümiert einen Zeitschriftenbeitrag des Agrarforschers und Nobelpreisträgers Norman Borlaug über die Welternährungslage in der neuesten Nummer der Science.

Auf der Medienseite berichtet Gina Thomas über die große Spar- und Entlassungsaktion in der BBC. Auf der letzten Seite unterhält sich Doris Lippitsch mit dem Istanbuler Urbanisten Orhan Esen über Stadtrenovierung, die Verdrängung der Armen und den nachwirkenden Einfluss des großen Erdbebens von 1999. Paul Ingendaay zieht zehn Jahre nach Eröffnung von Frank Gehrys spektakulären Museumsbau in Bilbao Bilanz für die Stadt und die Region. Und Wiebke Huester porträtiert den Tänzer und Choreografen Benjamin Millepied. Nur online wird gemeldet, dass Deborah Kerr gestorben ist.

Besprochen werden Angelina Maccarones Film "Vivere", eine Ausstellung mit Modefotografien Tim Walkers in Hannover, Mozarts "Mitridate" in Aachen und Brüssel, Gerhard Roths Erinnerungsband "Das Alphabet der Zeit" und ein Band Ross Kings über Manet und Monet und die Ursprünge der modernen Malerei.

TAZ, 19.10.2007

Auf der Meinungsseite moniert der Soziologe Richard Münch im Gespräch mit Ines Kappert, dass die Exzellenz-Initiative eine bloße Inszenierung ist, die an den wichtigen Stellrädchen nichts verändert. "Auch heute noch sind nur 17 Prozent der MitarbeiterInnen Professoren. An der Ordinarienherrschaft der Universität haben wir also nur wenig geändert und stattdessen quasidemokratische Strukturen in die Gremien eingebaut. Die Personalstruktur blieb dagegen unberührt. Im Gegenteil: Der Ausbau der Universitäten im Zuge von 68 hat dazu geführt, dass wir eine riesige Anzahl von Mitarbeitern haben, die unter Anleitung von Professoren arbeiten und sich wenig entfalten können."

In der taz geht es heute ansonsten musikalisch zu. Dreißig Jahre nach der Geburt des Punk lässt sich Andreas Hartmann von dem Musikjournalisten und Autor Simon Reynold im Interview über Postpunk aufklären. "Das, was Punk überdauert hat, ist eine Idee, die Vorstellung des Do-it-yourself-Prinzips. Vergeude keine Jahre mit dem Üben an deinem Instrument, bevor du es in einer Band versuchst! Wenn du etwas zu sagen hast, steh einfach auf und sag es!"

Weiteres: Simon Schmidt, der die Lüneburger Bluesgrunge-Band Neopit Pilski auf einer vierwöchigen Tour durch Bulgarien begleitete, weiß jetzt, was die neuen EU-Bürger so hören: Punk, Metal und die Scorpions. Drei neue Metal-Alben sind Gegenstand der einzigen Besprechung.

In der zweiten taz unterhält sich David Denk mit der Schauspielerin Hannelore Elsner über ihren neuen Film "Vivere".

Und Tom.

Welt, 19.10.2007

Der Schweizer Journalist Matthias Ackeret versucht uns zu erklären, warum es die Schweiz nicht geschafft hat, ihren SVP-Populisten Christoph Blocher ruhig zu stellen: Im derzeitigen Wahlkampf hält er das Land ordentlich auf Trab: "Was wirklich überraschte, war die Heftigkeit der Auseinandersetzung, galten doch Bundesräte bislang als politische Eunuchen, die sich, eingebunden im sankrosankt geltenden Kollegialsystem, keineswegs in die Niederungen der Wahkämpfe zu bewegen hatten - einer der Gründe für Blochers Wahl vor vier Jahren. Angesichts der herrschenden Auseinandersetzung erwies sich aber die damalige Idee, Blocher damit einzubinden und mundtot zu machen, als Ausbund höherer Ironie."

Weiteres: Irene Bazinger freut sich über die Rückkehr der Schauspielerin Corinna Kirchhoff auf die Berliner Bühne: "Corinna Kirchhoff versteht es, ihren Figuren eine schmerzliche Durchlässigkeit zu geben, wodurch man die blanken Nerven erkennt und das unruhige Blut und wie sie die ganze Wahrheit suchen und oft bloß die halbe finden." Thomas Kielinger berichtet von der Schrumpfkur, der sich die BBC unterziehen muss: 2.500 Stellen sollen wegfallen und das Gebäude verkauft werden. Gerhard Midding schreibt zum Tod der Hollywood-Diva Deborah Kerr.

Besprochen werden die Schau des recht frivolen Rokoko-Malers Jean-Honore Fragonard im Pariser Musee Jacquemart-Andre, die Ausstellung zu Kurt Wolff in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main und das drohende ARD-Rührstück "Suchkind 312".

Tagesspiegel, 19.10.2007

Kai Müller kommentiert den gestrigen "Enthüllungsartikel" von David R. L. Litchfield in der FAZ über ein Massaker an 200 Juden bei einem Fest der Thyssens 1945 (mehr hier). "Räuberpistole oder journalistischer Coup? Die FAZ hat sich weit aus dem Fenster gelehnt mit dieser Geschichte, in der es von vagen 'konspirativen Vorfällen' nur so wimmelt. An der Tatsache des Massakers selbst gibt es keinen Zweifel. Ein Verfahren vor dem österreichischen Landgericht verhängte 1946 gegen einige Beteiligte geringe Haftstrafen. Ob die Batthyanys dabei als Mittäter betrachtet oder als Zeugen vorgeladen wurden, erwähnt der Litchfield-Report nicht. Überhaupt gelingt es dem Autor bei seiner Enthüllung nicht, der Familie Thyssen-Bornemisza eine direkte Mitschuld nachzuweisen."

Dem staunenden Interviewer Marcel Anders teilt Neil Young mit, dass er auf seiner Ranch einen eigenen Autofriedhof unterhält - nur zum Angucken: "Ich mag die Art, wie diese alten Autos aussehen. Es ist mir egal, in welchem Zustand sie sind. Aber wenn ich ein seltenes Modell sehe, dann kaufe ich es, und stelle es zu all den anderen auf eine Lichtung im Wald. Da rosten mittlerweile ein paar wirklich tolle Autos mit fantastischem Design vor sich hin. Funktionieren tun die nicht mehr, man kann sie sich nur noch anschauen."

SZ, 19.10.2007

Burkhard Müller ist durch Rumänien gereist und steht - fast - sprachlos vor einem "europäischen Wunder": "Das, was jetzt in Rumänien geschieht, ist atemberaubend. Man staunt über ein Land, das von jenen Geisterbahnbildern, an die man sich wie eine Art balkanesischer Folklore gewöhnt hatte, in Windeseile zum europäischen Standard aufschließt. Was die EU wirklich bedeutet und was sie wirklich kann, was sie mit Beständigkeit über dreißig Jahre hinweg in so vielen Fällen bewiesen hat: Sie geleitet die Nationen an den Rändern des Kontinents mit traumhafter Effizienz in das Zentrum von Wohlstand und Moderne hinüber. Das ist viel wichtiger als ein gemeinsamer Außenminister, der sich doch bloß blamieren könnte, oder der ehrgeizige Unfug einer gemeinsamen Verfassung."

Weitere Artikel: Der Siegerentwurf des Wettbewerbs für ein Boris-Jelzin-Denkmal, den die Seite www.art4.ru ausgelobt hat, stößt auf den Widerstand der Familie, berichtet Sonja Zekri. Johan Schloemann hörte aus dem Vortrag des Verfassungsrichters Winfried Hassemer über "Politik aus Karlsruhe?" eine gewisse Kritik an den Richterkollegen Hans-Jürgen Papier und Udo Di Fabio heraus, die Urteile gern in den Medien kommentieren. In Münster wird jetzt ein dritter, wegen Finanznöten kleinerer Wettbewerb zur Bebauung des Schlossplatzes ausgelobt, informiert Stefan Rethfeld. Claudia Gutteck kolportiert, dass ein Drittel der Beiträge in Wikipedia und vierzig Prozent der Blogs von unter 20-Jährigen verfasst werden. Manfred Schwarz gratuliert dem belgischen Maler Pierre Alechinsky zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite stellt Stefan Fischer "Das Ding" vor, ein Radio-Internet-Fernsehprojekt des SWR, das unter den öffentlich-rechtlichen Programmen das jüngste Publikum der Republik hat.

Besprochen werden eine "überwältigende" Ausstellung mit Bildern von Gustave Courbet im Grand Palais Paris, die Schau "F. K. Waechter - Die letzten Zeichnungen" im Historischen Museum Frankfurt, Rene Polleschs Stück "Diktatorengattinnen" in der Berliner Volksbühne, ein Auftritt des Berliner Artemis Quartetts im Münchner Herkulessaal, Billy Rays FBI-Thriller "Breach" und Bücher, darunter der "großartige" Tafelband "Wandmalerei in Italien. Barock und Aufklärung", sowie die von Klaus Reichert gesammelten Sprachglossen deutscher Autoren "Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück" (mehr in unser Bücherschau heute ab 14 Uhr).