Heute in den Feuilletons

Soll ich das soo spielen?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2008. In der Welt zerstören Uli Edel und Moritz Bleibtreu den Mythos, sie hätten in ihrem RAF-Film den Mythos RAF zerstören wollen. Die FR meint: Wer die Religion kritisiert, ist ein Ausländerfeind. Die NZZ tritt (wie viele andere Zeitungen) in Schlingensiefs "Kirche der Angst" ein und erschauert. Die FAZ liest Caroline Thatchers Buch über die Demenzerkrankung ihrer Mutter. Die SZ ließ sich glücklich machen von Stockhausen in Simon Rattles süffiger Interpretation.

Welt, 23.09.2008

Von wegen "Den Mythos RAF zerstören"! Im Gespräch mit Hanns-Georg Rodek liefern der RAF-Film-Regisseur Uli Edel und sein Baader-Darsteller Moritz Bleibtreu den unfreiwilligen Beweis, dass sie ganz genau am Gegenteil gearbeitet haben. Bleibtreu erzählt, wie sich die beiden in Vorbereitung des Films einige Tondokumente mit Gerichtsaussagen Baaders anhörten: "Baader redete, und er redete ziemlich langsam, mit einem leichten Lispeln, und es war ziemlicher Murks, den er erzählte. Man konnte richtig sehen, wie einige Illusionen aus unseren Gesichtern heraus gefallen sind. Ich habe Uli dann gefragt: 'Soll ich das soo spielen?!' Edel: Natürlich nicht! Wir drehten ja keine Komödie! Bleibtreu: Es wäre unfreiwillig komisch geworden. Als Schauspieler muss man nicht auf Teufel komm raus die Realität neu beleben."

Weitere Artikel: Manuel Brug feiert Anne-Sophie Mutters CD-Einspielung eines extra für sie geschriebenen Violinkonzerts (Hörprobe) von Sofia Gubaidulina ("Die Geige kämpft und schlägt aus, muss sich gegen unerbittlich ostinate Tuttischläge behaupten - und schwebt doch sanft wie die Seele am Ende auf einem hohen Fis davon...") Tilman Krause will Daniel Kehlmanns Vorschlag, den Buchpreis abzuschaffen keinesfalls folgen ("Literatur soll natürlich nicht nur den Gesetzen des entfesselten Kapitalismus gehorchen, in dem wir heute leider leben müssen. Aber verhalten muss sie sich dennoch zu ihm..."). Hendrik Werner notiert, dass das Wort "Multikulti" seinen Karriereweg im Mund der Bundeskanzlerin beendete, denn sie tat diesen Begriff als Illusion ab.

Besprochen wird Christof Schlingensiefs "Kirche der Angst" in Duisburg - laut Matthias Heine ein "großartiges Comeback" -, und eine Ausstellung mit Werken aus Konzernsammlungen in München.

Auf der Magazinseiteseite bringt Nicole Macheroux-Denault eine interessante Reportage aus Südafrika, wo nach dem Coup gegen Mbeki Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen der Xhosa und Zulu befürchtet weren.

FR, 23.09.2008

Elke Buhr hat sich in den Hamburger Deichtorhallen die "Traumfrauen" angeguckt, die von 50 Topfotografen abgelichtet wurden. Trotz vielseitiger Herangehensweisen überwiege am Ende das Stereotyp: "Diese Schönheits-Bilder wissen wohl, dass sie hart am Klischee entlang surfen, sie bemühen sich um die doppelten Böden der Übertreibung, bauen Selbstbewusstsein und weibliche Stärke mit ein - aber am Ende überschwemmen sie den Betrachter doch wieder mit romantischen Locken im hellen Gegenlicht und makellosen Brüsten. Und Gisele Bündchen in den Augen von Nino Munoz, das sind 16 Pin-Up-Shots auf Brüste, Hintern und Mund mit dem schlichten Titel 'Body Parts'."

Hilal Sezgin findet die Empörung über die pro-Köln Bewegung heuchlerisch, sei doch die "Islamkritik" ein weithin akzeptiertes, weil progressiv anmutendes "Ventil für die ganz normale Ausländerfeindlichkeit" der Deutschen: "Dieselben Bürger, die jetzt missbilligen und erschaudern, denken in Bezug auf Moscheebau und Islamgefahr ja insgeheim dasselbe." Im übrigen hätten Medien wie Perlentaucher und Spiegel fleißig mitgemacht und der Rechten den Ball zugespielt.

Besprochen werden die Schlingensief-Inszenierung "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" ("Emotionale Konsequenz bei fehlender gedanklicher Stringenz hat ihn schon immer ausgezeichnet", meint Peter Michalzik trocken), Kompositionen von Stockhausen, Lachenmann und Rihm beim musikfest berlin 08, die im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt ausgestellten Zeichnungen der "Moscheen von Sinan", eine CD von Brian Wilson und Bücher, nämlich Jean-Philippe Toussaints Buch "Fernsehen" und Christian Krachts Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 23.09.2008

Dirk Pilz lobt Christoph Schlingensiefs "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" als eine seiner besten Arbeiten. Mit ungeheurer Distanzlosigkeit zelebriere Schlingensief bei der Ruhrtriennale seine Angst vor dem Sterben - das Schlingensief-Theater aber habe sich durch seine Krebserkrankung nicht verändert: "Zwei schwarzberockte Sängerinnen irrlichtern durch die Szenen, ein Organist scheint unter regelmäßigen Akkordattacken zu leiden, der Kardinal ist ein Zwerg und steckt in goldenem Ornat: jene Form von veredeltem Kindergeburtstagstheater, die der Logik des Traumes gehorcht. So war es bei Schlingensief stets, nur dass es diesmal eher nach Albtraum schmeckt."

Weiteres: Barbara Spengler-Axiopoulos besuchte die Insel Kythera, die schon den Maler Antoine Watteau inspirierte und wo Aphrodite dem Meeres entstiegen sein soll. Besprochen werden die Stillleben-Ausstellung "Die Magie der Dinge" in Basel und Bücher, darunter die Briefe des Philosophen und Soziologen Georg Simmel und "Die große Entfernung", ein Band mit Prosagedichten von Farhad Showghi (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 23.09.2008

Thomas Knüwer attackiert in Indiskretion Ehrensache das "Netzwerk Recherche", auf dessen jüngster Tagung der Einfluss des Lobbyisten auf die Medien gegeißelt wurde, und seinen Vorsitzenden Thomas Leif: "Es geht mal wieder um das Netzwerk Recherche. Jene Pfadfinder-Truppe des aufrechen Journalismus, deren Fähnchenführer gerne mal Loblieder auf befreundete Köche singt oder einen unjournalistisch-einseitigen TV-Film im ARD-Programm unterbringt. All das ist für Thomas Leif mutmaßlich keine PR, keine Schleichwerbung, kein Lobbyismus, sondern sauberer Journalismus, weil ein Thomas Leif nur sauberen Journalismus betreiben kann."

TAZ, 23.09.2008

Steffen Irlinger erzählt, wie der Plattensammler Dori Hadar den Künstler und Musiker Mingering Mike entdeckte, der sich im Soulzeitalter seine Cover und Platten aus Pappe selbst fertigte, da die Plattenindustrie sich nicht für ihn interessierte (hier seine Website mit vielen Illustrationen). Christian Broecking porträtiert den Jazzpionier Ornette Coleman, der auf Deutschlandtournee kommt. Silvia Hallersleben verfolgte ein Symposium in Köln über Sprache und Sprechen im neueren Dokumentarfilm. Claudia Lenssen schreibt zum Siebzigsten Geburtstag Romy Schneiders.

Besprochen wird die deutschsprachige Erstaufführung von Bernard-Marie Koltes' Stück "Hamlet - Der Tag der Morde" in Stuttgart.

Und Tom.

SZ, 23.09.2008

Bewegt und rundum glücklich resümiert Reinhard J. Brembeck die letzten Konzerte des Berliner Musikfestes im Flughafen Tempelhof. Unter anderem spielten die Berliner Philharmoniker Stockhausens "Gruppen für drei Orchester". Simon Rattle "möchte das Stück süffig gespielt, voll franzöischer Klangfarbenspiele, herb in den Pizzicato-Passagen und Schlagzeugsalven, unheildrohend romantisch im Bläsersatz. Vielleicht hat er deshalb als Co-Dirigenten mit Michael Boder und seinem ehemaligen Assistenten Daniel Harding zwei Allrounder gewählt und keine Moderne-Spezialisten. Leicht getuscht, mit ungeheurer Formphantasie entwirft Stockhausen einen musikalischen Panoramablick. Es ist, als würde man mit einem Hubschrauber durch eine Berglandschaft fliegen. Pizzicati von rechts, Violinmelodie links, vorn das Schlagwerk: Das Stück weigert sich beharrlich, Programmmusik zu sein, es denkt streng in absoluten Klanggesten und fordert deshalb vom Hörer, die Vorgänge selbst zu deuten, zu werten."

Der Kapitalismus hat seine Ehrbarkeit verloren, klagt Gustav Seibt. Und schuld daran sind die Schuldenmacher - Regierungen, Bürger, Manager. "Völlig vergessen wurde, dass das Schuldenmachen, mindestens das leichtfertige, nicht von Not erzwungene, moralisch durchaus fragwürdig ist. Denn Schulden, die nicht zurückgezahlt werden können, werden am Ende immer von Dritten beglichen."

Weitere Artikel: Die Kulturstiftung der Länder soll mehr Geld bekommen, berichtet Kia Vahland. Im Interview erinnert sich der Pariser Filmproduzent Raymond Danon an die vor 70 Jahren geborene Romy Schneider, über die er jetzt einen Film mit Yvonne Catterfeld in der Hauptrolle macht. Susan Vahabzadeh stellt Neuerscheinungen zu Romy vor. Hermann Unterstöger lauschte den Berchtesgadener Gesprächen, die sich mit dem Thema Hauptstadt befassten. Alex Rühle hofft, dass der krisengeschüttelte Wohnwagenhersteller Knaus Tabbert überlebt. Ziel. berichtet über die nächste Runde im Streit um die Kunstsammlung Rau. Fritz Göttler schreibt zum Siebzigsten des Cineasten Hans Helmut Prinzler. Der Verband der Übersetzer hat am Wochenende den Entwurf für die Vergütungsvereinbarung mit Random House und anderen Verlagen abgelehnt, lesen wir in einer Meldung (mehr zum Thema hier und hier).

Besprochen werden Christoph Schlingensiefs Auferstehungsmesse "Eine Kirche der Angst" in Duisburg ("Irritiert schaut man zu, verstört, fassungslos. Und ja, auch bewundernd ob dieser Schonungslosigkeit", schreibt Egbert Tholl), eine maue Musical-Inszenierung des einstigen "Kinks"-Sängers Ray Davies in London und Bücher, darunter Jose Manuel Prietos Roman "Rex" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 23.09.2008

Gina Thomas hat Carol Thatchers Buch über ihre Mutter gelesen. Darin geht es viel um die Demenz Margaret Thatchers, aber auch andere Aspekte sind nicht unbedingt lustig: "Auch wenn es sich um kein tiefgründiges Werk handelt, enthalten die heiter und herzlich dahinerzählten und trotzdem bittertraurigen Erinnerungen aufschlussreiche Einblicke in das Leben einer unemanzipierten Frau der alten Schule, die für ihre Arbeit lebte und dennoch wacker versuchte, Beruf und Familie miteinander zu vereinen. Sie buk Geburtstagskuchen, strickte Kleider - und war doch mit den Gedanken woanders. Erschüttert liest man von ihrem völligen Desinteresse an allem, was außerhalb des Politischen lag - woraus sich wohl auch der tiefe Einbruch erklärt, den sie erlitt, nachdem sie ihr Amt verloren hatte."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay stellt einen spanischen Ratgeber und Leitfaden für misshandelte Frauen vor und schreibt: "Nach Lektüre der vierhundert Seiten langen Darstellung ist man verblüfft, wie weit verbreitet und allgemein akzeptiert es offenbar ist, dass Männer ihre Frauen, Freundinnen oder Expartnerinnen misshandeln." In der Glosse findet Andreas Rossmann Christoph Schlingensiefs Lebensbilanzinszenierung und -performance "Kirche der Angst vor der Fremde in mir" unkritisierbar, dabei jedoch allemal "egomanisch, exhibitionistisch, blasphemisch, kitschig und privat ..., aber auch anrührend, beeindruckend, authentisch, experimentell und mutig". Jan Brachmann schildert die Finanzprobleme des künstlerisch erfolgreichen und beim Publikum beliebten Berliner Konzerthauses (Website). Von Plänen für eine neue Wiener Buchmesse berichtet Martin Lhotzky. Oliver Tolmein informiert über einen neuen Gesetzesentwurf zur Patientenverfügung. Gerhard Rohde porträtiert Ulrike Hessler, ab 2010/2011 Intendantin an der Dresdener Semperoper. Irene Bazinger war bei einem Abend, an dem sich Theatergrößen an den Regisseur Klaus Michael Grüber erinnerten.

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite referiert Milos Vec den Aufsatz "Nützliches Vergessen", in dem der Medienwissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger empfiehlt, mit einem "Ablaufdatum für Daten" im potenziell unbegrenzten digitalen Gedächtnis Grenzen zu ziehen.

Besprochen werden die Ausstellung "Im Namen der Freiheit" im Deutschen Historischen Museum, die von Andreas Rossmann als "Sensation" empfundene Ausstellung "Schattengalerie", in der das Aachener Suermondt-Ludwig-Museum in Schwarzweißabzügen Werke zeigt, die es nicht mehr besitzt, die Basler Uraufführung von Beate Fassnachts Stück "Die Brust von der Frau aus Chur", neue CDs, darunter das Hold-Steady-Album "Stay Positive", und Dieter M. Gräfs Gedichtband "Buch Vier" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).