Heute in den Feuilletons

Luxus essen Seele auf

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2009. Die NZZ entdeckt die Recessionista. Die FR besucht das Herge-Museum in Louvain-la-Neuve, die FAZ das Magritte-Museum in Brüssel. Carta meint: Die Gründe für die Legitimierung der öffentlich-rechtlichen Anstalten sind weggefallen. Robert Wilsons Baden-Badener "Freischütz"-Inszenierung mit Kostümen von Viktor und Rolf löst zwiespältige Reaktionen aus.

NZZ, 02.06.2009

Jeroen van Rooijen weiß, dass die hypermaterialistischen Zeiten passe sind, im Trend steht jetzt die Recessionista, die preisbewusste Shopperin: "Ein Beispiel dafür, wie dieses neue Preisbewusstsein konkret auszusehen hat, lieferte die englische Sunday Times.So macht man in Zukunft 'Detox' (Entschlackungs- und Entgiftungskuren) statt 'Botox', kauft die etwas günstigeren Zweitlinien der großen Modemarken, streicht sich am Sonntag selbst ein Sandwich, statt zum Lunch ins Luxushotel zu fahren (dies übrigens, falls doch, mit dem Taxi-Abo statt der Limousine), stöbert auf dem Dachboden der Großmutter statt im exklusiven Designer-Vintage-Shop."

Ganz verstört kommt Peter Hagmann aus Robert Wilsons Baden-Badener "Freischütz"-Inszenierung, die Viktor & Rolf opulent, also völlig unzeitgemäß, ausgestattet haben: "Die Kostüme der Modeschöpfer Viktor & Rolf sind Erfindungen von einer Zuspitzung der Zeichnung und einer Fülle des Stoffs, welche die ganze Aufmerksamkeit beanspruchen und in jeder Hinsicht belastend wirken. Und da sie mit Abertausenden von Kristallen einer sehr bekannten (hier zudem sehr kenntlich gemachten) Marke besetzt waren, glitzerten sie in einem Luxus sondergleichen."

In diesem - ausführlich Swarovski würdigenden - Film des Festspielhauses erfährt man etwas über die Kostüme:



Weiteres: Uwe Justus Wenzel berichtet von einer Zürcher Tagung zu Ehren von Jürgen Habermas und über die Zukunft der Demokratie. Besprochen werden Mahmud Doulatabadis Roman "Der Colonel" (hier eine Leseprobe), Annie Proulx' Geschichten aus Wyoming "Hier hat's mir schon immer gefallen" und Lyrik aus Lateinamerika (Mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschaud es Tages).

Aus den Blogs, 02.06.2009

Wie genau rechtfertigen sich eigentlich die acht Milliarden Euro für die öffentlich-rechtlichen Sender, fragt Robin Meyer-Lucht in Carta zum 12. Rundfunkstaatsvertrag, das die überkommene Stuktur einfach ins Netzzeitalter verlängert: "Mit der offenen, vernetzten Struktur des Internet sind augenscheinlich zwei wichtige Begründungen für öffentlich-rechtliche Eingriffe ins Mediensystem entfallen: Die Knappheit der Verbreitungswege und die begründete Angst vor einer dominanten Meinungsmacht eines publizistischen Medienkonzerns. In einem offenen Mediensystem erscheint es hingegen zunehmend zweckfremd, einzelne Organisationen statt Strukturen zu fördern, die Qualität ermögliche."

FR, 02.06.2009


Jens Balzer hat das Musee Herge im belgischen Louvain-la-Neuve besucht, das heute offiziell eröffnet wird. Es ist "ein Haus, das sich ganz dem Schaffen des belgischen Comiczeichners Georges Remi alias Herge und seinen popmythologisch gewordenen Figuren widmet: dem pfiffigen Reporter Tintin (deutsch: Tim ), seinem Hund Struppi und ihrem Begleiter, dem ('Höllenhunde! Bahnhofspenner! Troglodyten!') ewig fluchenden Kapitän Haddock. In einem spektakulären Neubau des Pariser Architekten Christian de Portzamparc (dem Berliner Publikum als Schöpfer der französischen Botschaft am Pariser Platz bekannt) sind auf 2000 Quadratmetern Originalzeichnungen, Titelblätter, Erstdrucke und historisches Quellenmaterial zu sehen. Es ist das erste Museum in Europa, das einem Comic-Zeichner gewidmet ist - und das zweite überhaupt auf der Welt, nach dem 1994 in Osaka eröffneten Haus für den japanischen National-Comic-Künstler Osamu Tezuka."

Einen "magischen 'Freischütz'", inszeniert von Robert Wilson, dirigiert von Thomas Hengelbrock und eingekleidet von Viktor und Rolf, sah Hans-Jürgen Linke in Baden-Baden: "Nach den unchristlich schillernden Konfliktfarben der ersten beiden Akte wird jetzt alles unschuldig strahlend weiß, auch Agathes Kleid mit der Bonbonnierenkontur, nur das Schuhwerk ist rot. Der Jägerchor (Philharmonia Chor Wien unter Walter Zeh) kommt weiß gekleidet mit roten Schuhen auf die Bühne und singt sein volksliedhaft bekanntes Stück mit einer provozierend simplen, etwas hampelmannhaften Choreografie. Das sieht bezwingend lustig aus und klingt mit den fantastisch intonierenden Hörnern so hinreißend, dass im Festspielhaus etwas passiert, was in deutschen Opern selten passiert: Mitten im Stück bekommt das Publikum eine herbeigeklatschte Jägerchor-Zugabe."

Hier ein Video von der Hauptprobe:



Weitere Artikel: Harry Nutt erklärt, mit welcher Begründung die Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine Restitution des Welfenschatzes ablehnt. In Times Mager erzählt Sylvia Staude von einer Professorin Higgins.

Besprochen werden Peter Steins Dramatisierung von Dostojewskis "Dämonen" auf Steins Anwesen in Italien ("Der Regisseur sorgte mit einer Glocke dafür, dass die Pausenzeit von den immer nur 100 Zuschauern nicht um eine Minute überschritten wurde", berichtet Peter Iden) eine Ausstellung mit Zeichnungen von Bernhard Heisig im Goethe-Haus Frankfurt und Jochen Hörischs Buch "Bedeutsamkeit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 02.06.2009

Der Kunsthistoriker Siegfried Gohr findet es ganz richtig, dass in der umstrittenen (vom Springer-Verlag mitorganisierten) Jubliäumsausstellung "60 Jahre /60 Werke" ausschließlich Werke aus der Bundesrepublik gezeigt werden und fragt, "wo die Sehnsucht nach der DDR-Kunst begründet sein mag außer in den wachsenden Ressentiments gegen die Bundesrepublik. Oder ist es vielleicht so, dass Kunst, die ihre Exzentrik, ihre Freiheit, ihren Genuss und ihre Autonomie einfordert, in dieser Gesellschaft nicht wirklich verankert ist? Gehört die 'DDR-Kunst' nicht eher in ein historisches Museum als in ein Kunstmuseum? Wollen die Deutschen wirklich vor allem Kunst, die anderen Zwecken dient, die nicht um ihrer selbst geachtet und gezeigt wird?"

Weitere Artikel: Die Aufmacher steht fast ganz in Zeichen neuer Museen in Brüssel - nämlich des Magritte-Museums (hier) und des Herge-Museums (hier). Uta Baier lässt sich von Preußenstiftungschef Hermann Parzinger begründen, warum man den "Welfenschatz" nicht herausgeben will. Peter Dittmar kommentiert den Fall eines Betrügers, der per ebay Erstausgaben kaufte, sie mit gefälschten Signaturen der Autoren versah, und sie dann teurer wieder verkaufte.

Besprochen werden neue DVDs und der von Robert Wilson und Viktor & Rolf zugerichtete "Freischütz" in Baden-Baden

Auf der Forumsseite unterhalten sich die heiteren Pessimisten Jan Fleischhauer ("Unter Linken") und Arnulf Baring über die Frage, was links ist und warum nicht.

TAZ, 02.06.2009

"Nie haben die jungen politischen Eliten in Peking so westlich gedacht wie damals", erinnert Georg Blume in einem Rückblick auf den chinesischen Frühling von 1989. Davon könne heute keine Rede mehr sein, zumindest nicht, was die Demokratisierung betrifft: "Viel stärker ist heute die Erwartung, dass der Staat als guter Verwalter alle Chinesen am Reichtum teilhaben lässt. Das wollen sogar die neuen Mittelschichten, zu denen viele 89er heute zählen. Denn sie fürchten sich vor dem Sozialneid einer verarmten Bauernschaft. Darin aber erweist sich die KP immer noch als erfolgreich: Sie schafft es, Schulen, Straßen und Krankenstationen bis in jeden Winkel des Landes zu verteilen."

Weitere Artikel: Hortense Pisano unterhält sich mit den beiden Kuratoren Daniel Birnbaum und Jochen Volz über ihre Konzepte für die Biennale in Venedig. Micha Brumlik fürchtet, dass sich die Grünen-nahe Stiftung "Weiterdenken" in Leipzig ein wenig verhoben hat, als sie den iranischen Botschafter zum "kritischen Dialog" einlud. Für eines der schönsten deutschen Festivals hält Benjamin Weber das Independent-Idyll "Immergut" von Neustrelitz: "Der Ticketpreis ist niedrig, die Bierpreise sind okay." Dominik Schottner hat sich dagegen auf dem Wave-Gotik-Treffen in Leipzig erklärtermaßen gelangweilt.

Besprochen wird die Ausstellung "Flagge zeigen?" über deutsche Nationalsymbole im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig.

SZ, 02.06.2009

Andreas Zielcke resümiert den Streit zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und den Erben jüdischer Kunsthändler um den "Welfenschatz", den die Stiftung nicht wieder herausgeben will. Alexander Kissler verfolgte in Berlin eine Tagung des "Deutschen Ethikrates" zum Thema "Der steuerbare Mensch? Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn". Martin Bauer hat in Zürich einem Kolloquium über Habermas und die Demokratie zugehört.

Besprochen werden die Ausstellung "Herzog Ludwig X. und die Renaissance" in der Stadtresidenz Landshut, die prunkvolle aber unter Robert Wilson und dem Designer-Duo Viktor und Rolf kunsthandwerklich exquisit geratene Aufführung des "Freischütz" bei einem Reiche-Leute-Festival in Baden-Baden ("Nicht Angst, Luxus essen hier Seele auf", meint Wolfgang Schreiber), drei Einakter von Ethan Coen in New York, eine Ausstellung über Frank Lloyd Wright in New York, DVDs mit Jazz-Konzerten und Bücher, darunter Mirko Bonnes Roman "Wie wir verschwinden".

Auf der Medienseite beschreibt Claudia Tieschky den "Bürokratieakt ohne Vorbild", durch den die öffentlich-rechtlichen Sender nach dem jetzt geltenden 12. Rundfunkstaatsvertrag ihre Internetangebote prüfen lassen müssen.

FAZ, 02.06.2009

Julia Voss hat sich das neu eröffnete Magritte-Museum (Website) in Brüssel angesehen und kehrt durchaus beeindruckt zurück: "Magrittes Gemälde werden nicht isoliert präsentiert, sondern hängen zusammen mit Zeichnungen, Postern, Werbearbeiten oder Fotografien, später kommen auch Filme dazu. Womit man im Vorfeld nicht rechnen konnte, wird augenfällig: Magrittes Werk tut die Dichte gut. Während die meisten Künstler eher verlieren, wenn ihre größten Würfe gedrängt beieinander hängen, gewinnt Magritte. In Erscheinung tritt seine Kunst als ein großangelegtes Projekt der Weltverwandlung, einem geradezu fleißigen Bedeutungsrücken, in der Wort und Bild, Sprache und Wirklichkeit immer weiter auseinandertrudeln."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg referiert und kommentiert die ihn nicht durchweg überzeugenden Versuche des Unesco-Präsidentschaftskandidaten Faruk Hosni, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe des Antisemitismus zu entkräften - und meldet, dass sich nun auch die österreichische Ex-Außenministerin Benita Ferrero-Waldner um den Job bewirbt. Niklas Maak hat in Los Angeles das Multi-Talent Miranda July getroffen - mit ihren neuen Skulpturen wird die Künstlerin bei der diesjährigen Biennale in Venedig zu sehen sein. In einer Antwort auf Michael Brenner erklärt der Philosoph Robert Spaemann, warum die Juden aus christlicher Sicht der Missionierung sehr viel mehr als anderen wert sind. In der Glosse berichtet Jordan Mejias von dem Tohuwabohu, das ein Theaterbesuch von Michelle und Barack Obama in New York ausgelöst hat. Andreas Kilb zeigt sich unzufrieden mit dem dreitägigen "Geschichtsforum"-Event in Berlin. Und fünf Männer haben diese Woche runden Geburtstag: der Bestseller-Autor Ken Follett (60), der Tenor Neil Shicoff (60), der Komponist Louis Andriessen, der Illustrator Volker Pfüller (70) und der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt (80)

Besprochen werden Robert Wilsons "Freischütz"-Inszenierung in Baden-Baden, Thomas Langhoffs Münchner Inszenierung von Eugene O'Neills Stück "Ein Mond für die Beladenen", ein Auftritt des Nederlands Dans Theater bei den Wiesbadener Maifestspielen, das neue Album "New York Days" des Trompeters Enrico Rava und Yi Munyols Roman "Dem Kaiser!" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).