Heute in den Feuilletons

Nur ein Piekser, mehr nicht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2010. Der Gesetzesentwurf der Verlage für ein Leistungsschutzrecht ist in den Medien der Verlage noch nicht Thema. Irights.info fragt: Sind sich Wirtschaft und Behörden über die Kosten für ein solches Gesetz im Klaren? In Albanien darf man zu Ostern wieder ungestraft Eier färben, erzählt die NZZ. Die SZ skizziert die Debatten zum Burkaverbot in Frankreich. Für die Welt berichtet die Filmemacherin Eva Munz aus Thailand.

NZZ, 10.05.2010

Christina Kleineidam beschreibt die religiöse Renaissance in Albanien nach dem Ende der Hoxha-Diktatur: "'Immer nach Ostern kontrollierte die Geheimpolizei Sigurimi den Hausmüll, wenn gefärbte Eierschalen darin waren, konnte es gefährlich werden' - so erinnert sich der 41-jährige Andon Merdani, Bischof der orthodoxen, autokephalen Kirche Albaniens, an die Zeit der Diktatur, die 1991 zusammenbrach. Die Wände seines Büros in Tirana sind mit Kruzifix, der Foto des Erzbischofs sowie verschiedenen Ikonen dekoriert, so, als hätte es die Zeit, in der Heiligenbilder nur im Geheimen überlebten, Kerzen nur versteckt in den Kleiderschränken alter Frauen brannten und Taufen nur unter Lebensgefahr gespendet wurden, nie gegeben. Eine Zeit, in der Glaube mit Aberglaube, Dekadenz oder gar Staatszersetzung gleichgesetzt und durch eine unnachsichtige Sicherheitspolizei geahndet wurde; all dies auf Befehl des kommunistischen Diktators Enver Hoxha, der mit eiserner Hand bis zu seinem Tod, 1985, regierte."

Weitere Artikel: Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel plädiert dafür, im Netz zwischen Content und journalistischen Angeboten zu unterscheiden. Ein Teil der Seineufer in Paris soll Fußgängerzone werden, meldet Marc Zitzmann. Jürg Meier freut sich über Schweizer Qualität beim 21. Schaffhauser Jazzfestival. Joachim Güntner besucht Suhrkamps temporären Buchladen in Berlin

Besprochen werden Dusan David Parizeks Inszenierung von Agota Kristofs Stück "Gestern" am Zürcher Schauspielhaus und die Aufführung von Georg Friedrich Händels Musikdrama "Hercules" am Luzerner Theater.

Aus den Blogs, 10.05.2010

Die vom Internetmagazin irights.info publizierten Gesetzentwürfe für ein Leistungsschutzrecht (wir berichteten) sind in den Medien ihrer Erfinder - der Zeitungsverleger - so weit wir sehen, heute noch nicht Thema. Hält man den Ball flach? Auf Irights.info kommentiert Philipp Otto zu den Entwürfen: "Spott ist aber nicht angebracht, dazu sind die Pläne zur Einführung eines solchen einseitigen Monopolrechts viel zu gefährlich. Vielen Industrieverbänden, Interessenverbänden, Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und Nutzern ist noch gar nicht bewusst, was da in den letzten Monaten hauptsächlich in Fachgremien spekuliert und diskutiert wurde. Die Auswirkungen hinsichtlich hoher Kosten für Unternehmen wie auch öffentliche Einrichtungen dürften dramatisch sein."

TAZ, 10.05.2010

Katrin Bettina Müller sah eine Performance der New Yorker Off-Off-Theatergruppe Nature Theater of Oklahoma - nicht ganz das, was man beim Theatertreffen gewohnt ist: "Für das Theatertreffen in Berlin, das jedes Jahr zehn besondere Inszenierungen auswählt, ist das Nature Theater of Oklahoma auf jeden Fall ein Fremdkörper, nicht nur durch die englische Sprache (mit deutschen Übertiteln), sondern mehr noch durch das Gefühl. Hier greift jemand zu den Mitteln des Theaters, der sich da nicht zu Hause sieht. Sondern aus einer von Unterhaltungsformaten überfüllten Gegenwart auf das Theater wie auf etwas zugreift, das die Betriebstemperatur der Kultur runterkühlt, bis man sie wie in einem Labor zerlegen und analysieren kann. Theater als ein solch analytisches Hilfsmittel zu instrumentalisieren, das ist es, was das Nature Theater interessant macht."

Außerdem: Knut Henkel berichtet über Proteste gegen Fidel Castros Knebelung der kubanischen Kulturszene. Für die tazzwei war Johann Tischewski beim 5. Science Slam in Hamburg.

Besprochen werden CDs von Marcel Dettmann und Pascal Fuhlbrügge sowie Florian Möllers' Fotobuch "Wilde Tiere in der Großstadt".

Und Tom.

Welt, 10.05.2010

Die Filmemacherin Eva Munz, die lange in Thailand lebte, schreibt eine farbige Reportage über Bangkok im Ausnahmezustand. Dabei scheint sie nicht unbedingt auf Seiten der rebellierenden "Roten" zu stehen und schreibt über ihren Che Guevara Thaksin Shinawatra: "Im Jahr 2003 erklärt er der Lastwagenfahrerdroge YaaBaa ('Verückt-Medizin') den Krieg: 'War on Drugs'. Innerhalb von drei Monaten soll die Polizei Herstellung, Vertrieb und Nutzung dieser Aufputschdroge beenden. Thaksin gibt den Polizisten die 'license to kill'. Provinzverwaltungen werden Phantasie-Quoten für die Verhaftung oder Tötung von Drogenkriminellen auferlegt, schwarze Listen zusammengekritzelt, Nachbarn denunziert. Menschen verschwinden, außergerichtliche Hinrichtungen finden statt. Am Ende der drei Monate sind 2500 Thais tot, LKW-Fahrer, Nutten und Slumbewohner dafür immer noch high."

Weitere Artikel: Andreas Rosenfelder empfiehlt jedem, der noch die letzten Illusionen über Kirche verlieren will, die komödiantische britische Fernsehserie "Father Ted", die leider nie in Deutschland lief. Sebastian Hammelehle wohnte einer Diskussion zwischen den beiden Linksintellektuellen klassischer Oberservanz Dietmar Dath und Hermann Gremliza in Hamburg bei. Berthold Seewald erinnert an den Beginn des "Blitzkriegs" vor siebzig Jahren. Alan Posener erinnert an den Architekten Richard Neutra, dem in Herford eine Ausstellung gewidmet wird.

Besprochen werde eine Dramatisierung von "Paris, Texas" mit Heike Makatsch in Leipzig und die Ausstellung "Deutscher Geist - Ein amerikanischer Traum" in Marbach.

Für die Welt am Sonntag porträtiert Andreas Rosenfelder den Autor Tilman Jens, der mit einem zweiten Buch über die Demenz seines Vaters Walter nachlegt. Viktor Jerofejew behauptet in einem Essay: "Jeder Russe will ein Stalin sein." Harald Peters porträtiert Lady Gaga. Abgedruckt wird außerdem ein Gesprächsmittschnitt David Foster Wallaces von 1996 mit dunklen Ahnungen über kommende Zeiten.

FR, 10.05.2010

In der Leitglosse wendet sich Natalie Soondrum gegen die von amerikanischen Ärzten im Namen von Multikulti vorgebrachte Idee einer "symbolischen Beschneidung" von Mädchen ("nur ein Piekser, mehr nicht"). Harry Nutt verfolgte eine Tagung über "Wut" in Berlin. Judith von Sterneburg erinnert an Johann Peter Hebel, der vor 250 Jahren geboren wurde. Katrin Hillgruber freut sich über den Meraner Lyrikpreis für Andre Rudolph.

Besprochen werden das unter anderem vom Goethe-Institut mit initiierte Musiktheaterprojekt "Amazonas" bei der Münchner Musiktheaterbiennale und eine Dramatisierung von "Paris, Texas" mit Heike Makatsch in Leipzig.

SZ, 10.05.2010

In Frankreich steht die Entscheidung über ein Burkaverbot an. Auf Seite 3 berichtet Stefan Ulrich aus der französischen Trabantenstadt Venissieux (mehr), wo der muslimische Bevölkerungsanteil in der Mehrheit ist: "Als 'islamische Republik' wird Venissieux bisweilen bezeichnet. In Frankreich wurde die Stadt zum Sinnbild einer radikalen Islamisierung in den Banlieues. Sogar Terroristen sollen aus Les Minguettes kommen." Unter anderem kommt auch der langjährige kommunistische Bürgermeister Andre Gerin, ein ausgesprochener Befürworter des Verbots, zu Wort: "Wir müssen die Fundamentalisten genauso bekämpfen wie Rassisten und Rechtsextreme." (Der Artikel ist inzwischen durch eine Reportage aus NRW ersetzt, die auch nicht online steht.)

Weitere Artikel: Peter Münch, Israelkorrespondent der SZ, stellt "J Call" vor, eine Initiative jüdischer Europäer, die sich gegen die aktuelle Siedlungspolitik der israelischen Regierung wendet - und zugleich das Existenzrecht Israels betont. Henning Klüver meldet, dass der italienische Kulturminister Sandro Bondi dem Filmfestival in Cannes fernzubleiben gedenkt. Grund: Die Aufführung des berlusconi-kritischen Dokumentarfilms "Draquila - L'Italia che trema" (mehr Informationen und erste Kritiken hier). Jutta Person gratuliert dem Gebäude der Westberliner Akademie der Künste zum 50. Geburtstag. Alexander Kissler berichtet von einem Rechtsstreit über die Frage, ob der Austritt aus der katholischen Kirche nur die Körperschaft oder auch die Glaubensgemeinschaft betrifft.

Besprochen werden eine Ausstellung im C/O Berlin mit urbanen Fotografien der Agentur Ostkreuz, der Dokumentarfilm "David wants to Fly" (mehr), eine Theaterinszenierung von Wenders' "Paris, Texas" am Leipziger Centraltheater mit Heike Makatsch (mehr), neue DVD-Veröffentlichungen, der Auftakt der Abschiedstournee der Scorpions, eine Ausstellung mit Landschaftsbildern, die keine sind, von David Schnell in Hannover (mehr) und Bücher, darunter ein Fotoband mit Aufnahmen aus dem Berlin-Mitte der Achtziger Jahre (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 10.05.2010

Kerstin Holm beobachtete die Siegesfeiern in Moskau mit den Augen einer Tanzkritikerin und bewunderte, von Theorien zum Ornament der Masse sichtlich nicht angekränkelt, den Stechschritt der russischen Armee: "Die russische Armee ist ineffizient, sie verheizt ihre Leute, doch an die Schönheit ihrer Parademärsche reicht nichts heran."

Weitere Artikel: Dirk Schümer berichtet über die Streiks gegen die italienische Opernpolitik, die, wie es aussieht, den totalen Zusammenbruch des Systems herbeiführen könnte. Martin Kämpchen hat Arundhati Roys langen Essay über ihre Begegnung mit der maoistischen Guerilla gelesen und hält fest: es ist "nach dem Roman ihr überzeugendster Prosatext" (alle Links im Perlentaucher, hier und hier). In der Glosse schildert Andreas Rossmann, wie ein vom Architekturbüro Sanaa entworfener, mit Preisen bedachter Bau seine völlige Praxis-Untauglichkeit bewies. Von einer Tagung, die sich mit der aparten Frage "Wer kennt Walser?" (Martin ist gemeint) befasste, berichtet Anja Hirsch. Martin Otto liefert historische Hintergründe zur Meldung, dass der Jurist Karl Binding, der im Jahr 1920 Koautor einer Schrift des Titels "Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens" war, von der Leipziger Ehrenbürgerliste gestrichen wurde. In osteuropäischen Zeitschriften liest Joseph Croitoru, wie in Rumänien und Bulgarien alte Eliten neue nationale Leitkulturen zu schmieden versuchen. Die Geburtstagsglückwünsche der Woche gehen an den Schauspieler Gabriel Byrne (60), den Musiker Stevie Wonder (60), den Physiknobelpreisträger Georg Bednorz (60) und den Künstler Jasper Johns (80).

Besprochen werden ein Kölner Konzert der Band Delphic (Website), die Ausstellung "Kunduz, 4. September 2009" in Potsdam, die Ausstellung "Erwin Wurm, Liquid Reality" in Bonn, Su Turhans Film "Ayla" (mehr), und Bücher, darunter Judith Butlers neue Studie "Raster des Krieges" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).