Heute in den Feuilletons

Die Schädel auf Augenhöhe

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.07.2010. In der FR rät Seyla Benhabib Israel zur demokratischen Selbstauflösung. In der NZZ sieht Richard Herzinger Israel als potenziellen Turbo für einen demokraischen und wirtschaftlichen Aufschwung in der Region. Für die SZ besucht Ralf Bönt die Killing Fields von Kambodscha. Die Welt lauscht dem 80-jährigen Grass, der dem 50-jährigen Grass lauscht. Im Blog des Literaturagenten Andy Ross erklärt die New Yorker-Redakteurin Mary Norris, was ein O.K.er ist. In der FAZ porträtiert Jan Wagner den amerikanischen Lyriker Wallace Stevens: "Ohoyaho, / Ohoo".

FR, 24.07.2010

In einer gekürzten Übersetzung wird ein zuerst bei Reset.doc erschienener Artikel der politischen Philosophin Seyla Benhabib abgedruckt, die sich Gedanken über den Zustand von Israel macht (ohne die Situation in den umliegenden Staaten auch nur zu erwähnen). Israel muss sich, so Benhabib, auf den Weg in Richtung einer liberalen Demokratie machen, auch wenn die gegenwärtige Identität des Landes dadurch zerstört wird: "Israel ist auch deshalb keine liberale Demokratie, weil es auf einem politisch-theologischen Kompromiss zwischen dem orthodoxen Rabbinat und dem säkularen Staat beruht... Während die meisten Demokratien in einer Form der Nation beheimatet sind, die über eine eigene Sprache, Geschichte und über eigene Gesetze verfügt, muss Israel, um eine wirkliche Liberaldemokratie zu werden, die politisch-theologische Konstruktion im Herzen des gegenwärtigen Staates aufgeben und eine demokratische Verfassung annehmen, deren modernes Staatsbürgerschafts- und Einbürgerungsrecht internationalen Menschenrechtsstandards genügt."

Weitere Artikel: Grete Götze porträtiert den britischen Dramatiker Simon Stephens. In einer Times Mager von Judith von Sternburg geht es um nicht weniger als Elvis Presley, den Tod, das Geld, das Leben. Marcia Pally erklärt in ihrer US-Kolumne amerikanischen Unternehmergeist und die Handelsklausel in der Verfassung.

Besprochen werden eine Ausstellung mit den Werken von Jürgen Klauke im Karlsruher ZKM, ein Jazzkonzert mit dem Quartett Zitrone und Zimt im Frankfurter Palmengarten und Bücher, nämliche Ulrike Jureits und Christian Schneiders Essay "Gefühlte Opfer: Illusionen der Vergangenheitsbewältigung" und Jo Nesbos Thriller "Headhunter" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 24.07.2010

Sehr politisches Feuilleton heute in der NZZ. Anders als Seyla Benhabib in der FR sieht Richard Herzinger nicht nur Probleme, sondern auch Trümpfe auf der Seite Israels - vorausgesetzt, die andere Seite zeigt sich dereinst friedensbereit: "Israel ist ein Aushängeschild dafür, was eine freiheitliche Demokratie auch unter schwierigsten Bedingungen erreichen kann. Sollten seine Nachbarn ihre hasserfüllte Ablehnung des jüdischen Staats einmal aufgeben, könnte er schnell zum Turbo einer ungeahnten Prosperität in der gesamten Region werden. Der Westen sollte sich deshalb davor hüten, den Staat Israel aus falscher Rücksichtnahme auf 'die islamische Welt' wie eine Art Schandfleck zu behandeln."

Der türkische Autor Nedim Gürsel macht sich in einem zweiten Essay Sorgen, dass sein Land von Europa abrückt: "Der Rechtsstaat, die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, die Menschenrechte: All dies macht den Blick auf Europa nach wie vor unabdingbar für den demokratischen Fortschritt in meinem Land."

Besprochen werden zwei Ausstellungen über Johann Peter Hebel in Hinterzarten und Karlsruhe, die "Schweigsame Frau" unter Nagano in München und Bücher, darunter Olivier Roys Studie "Heilige Einfalt - Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen" (Leseprobe).

Für Literatur und Kunst besucht Petra Kipphoff das riesige Archiv des Getty Research Institutes in Los Angeles. Alena Wagnerova erinnert an den außerhalb seiner Heimat so gut wie unbekannten tschechischen Romantiker Karel Hynek Macha (1810 bis 1836). Besprochen werden auch hier Bücher, darunter Essays von Dzevad Karahasan (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 24.07.2010

(via Arts and Letters Daily) In seinem Blog "Ask the agent" unterhält sich der Literaturagent Andy Ross mit einer Redakteurin des New Yorker über ihre Arbeit: Mary Norris ist dort Copy Editor. Was genau sie tut und welche Überarbeitungsphasen ein Artikel im New Yorker durchläuft, erklärt sie hier: "There are four full-time O.K.?ers, as well as a team of about six proofreaders, some of whom act as O.K.?ers when we need them. Basically, on the day a piece closes, you read it, and give the editor your query proof, which will also contain the queries of a second proofreader, and after the editor has entered all the acceptable changes and sent the new version to the Makeup Department, you read that new version. There will sometimes be a 'closing meeting,' when the editor, the writer, the fact checker, and the O.K.?er sit down together over the page proof and discuss final changes. The O.K.?er then copies these changes onto a pristine proof called the Reader?s (to keep the paper trail) and enters them into the electronic file, and sends the revised piece back to Makeup. The next version is read against the Reader?s proof by another layer of proofreaders, the night foundry readers. The system is full of redundancy and safety nets."

Und hier, als Trost für das Wetter, ein Glückskeks: Miles Davis und John Coltrane spielen "So what".


Welt, 24.07.2010

Wirklich zu sich kommen Grass' Romane erst, wenn er sie selber liest, meint Eckhard Fuhr nach Anhören entsprechender CD-Editionen: "Es kommt noch ein Weiteres hinzu, was das Hören des 'Butt' zu einem auch anrührenden Erlebnis macht. Hier spricht der 80-jährige das, was der 50-jährige berserkerhaft um die Form ringend zu Papier brachte. Es ist ein rückschauendes Vorlesen."

Weitere Artikel aus der Literarischen Welt: John von Düffel schreibt eine Hommage auf den Heiligen See in Potsdam. Thomas Schmid beißt sich nochmals die Zähne aus an Christa Wolfs Werk "mit dem rätselhaft verknödelten Titel" "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud". Meinhard Miegel fragt sich in einem kleinen Essay, wem die Sozialhilfe in der heutigen Form eigentlich hilft. Besprochen wird unter anderem Jedediah Berrys "borgianische Detektivgeschichte" "Handbuch für Detektive".

Im Feuilleton bereitet Manuel Brug sich und uns auf Hans Neuenfels' "Lohengrin"-Inszenierung in Bayreuth vor - seine erste Arbeit im Festspielhaus. Besprochen wird der Film "Kleine Wunder in Athen".

TAZ, 24.07.2010

Ömer Erzeren betont in einer Art Rundschau über die Diskussionslage im Land die Entwicklung, die die Türkei in der Kurdenfrage in den letzten Jahren durchgemacht hat - daran ändere auch das aktuelle Aufflackern gewalttätiger Konflikte erst einmal nichts. "Vieles hat sich im letzten Jahrzehnt verändert. Niemand leugnet heute die Existenz der Kurden. Politiker buhlen auf Kurdisch um Wählerstimmen. Der staatliche Fernsehsender TRT sendet auf Kurdisch. Die Universitäten gründen Kurdologie-Institute. Der Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen ist längst aufgehoben. Doch vieles liegt noch im Argen. Bis heute gab es keinen ernsthaften Vorstoß in Richtung muttersprachlichen Unterricht."

Weitere Artikel: Nina Apin porträtiert die georgienstämmige Autorin Nino Haratischwili und stellt ihren Roman "Juju" über ein Buch, das Selbstmorde auslöst, vor. Mit schönem Sinn fürs Antizyklische erklärt Dirk Knipphals mit Hilfe der Literatur, wie man Hitze beschreiben kann. Doris Akrap erläutert in der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne, warum das erste englischsprachige Al-Qaida-Online-Magazin Inspire - trotz flotter Artikelüberschriften wie "Make a Bomb in the Kitchen of Your Mom" - ein Flop ist. In der Berlin-Kultur interviewt Tim Caspar Boehme den antitraditionalistischen Cellisten Alban Gerhardt, der heute Abend im Radialsystem sämtliche Cellosuiten von Bach am Stück spielt. Auf den vorderen Seiten zieht der Politologe Albert Stahel eine vernichtende Bilanz der westlichen Afghanistan-Politik - inzwischen, stellt er fest, sei längst nichts mehr zu retten, die Afghanistan-Konferenz letzte Woche sei eine reine Farce gewesen.

Besprochen werden Bücher, darunter Olivier Schrauwens bisher nur auf Flämisch erschienener Comic "De man die zijn baard liet groeien" und Felix Baums kleine Geschichte der K- und anderen Splittergruppen "Von Adorno zu Mao" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 24.07.2010

Der Schriftsteller Ralf Bönt berichtet von seiner Reise zu den Killing Fields in Kambodscha. Der Schrecken der Gegenwart liegt für ihn dabei im sorglosen Umgang mit dem Unfassbaren, das geschah: "Vor einem Turm mit Hunderten ausgestellten Schädeln der Ermordeten lässt sich ein japanisches Paar mit Cheese-Lächeln fotografieren - von einem ebenfalls lächelnden Angestellten der Gedenkstätte. Direkt am Turm knipst der Tourist sich noch ein paar Mal selbst mit dem Apparat am ausgestreckten Arm, die Schädel auf Augenhöhe nur wenige Zentimeter entfernt, seine Grimassen dabei heroisch... Dann stehen wir vor dem Baum, an dem die Kinder erschlagen wurden, hier liegen einige Knochen und Zähne seltsam nebeneinander aufgereiht, wie eben gefunden. Da entdecke ich unter meinem Schuh einen flach in der Erde liegenden Knochen, offenbar ein Oberschenkel."

Weitere Artikel: Der Völkerrechtler Michael Bothe (hier in einem Interview von 2008 zur Kosovo-Frage) legt die Feinheiten des Urteils des Internationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo dar: Hinterher weiß man, dass eigentlich gar nichts klar ist und von der Etablierung der Unabhängigkeit des Kosovo überhaupt nicht die Rede sein kann. Moderne Architektur und wohnende Menschen haben sich, bedauert Gerhard Matzig, auseinander gelebt und schuld seien vor allem die überambitionierten Architekten. Allerdings gebe es nun Anzeichen für eine Wiederannäherung. Auf zwei Seiten geht es um die bevorstehenden Festspiele in Bayreuth und Salzburg. Wolfgang Schreiber unterhält sich mit Hans Neuenfels über dessen spätes Festival-Debüt mit einer "Lohengrin"-Inszenierung. Olaf Przybilla nimmt den neuen und fraglos als Bollwerk gegen die Altförderer in Stellung gebrachten Bayreuth-Förderverein "Taff" (Twitter/Facebook) als unmissverständliches Zeichen für den Durchsetzungs- und Konfrontationswillen der neuen Ko-Chefin Katharina Wagner. Ganz grundsätzlich denkt Reinhard J. Brembeck über Festspiele als Phänomen nach. Und die Salzburg-Seite ist in Kleinkapitel von A wie "Altmeister" bis Z wie "Zweig" (Stefan) unterteilt. Auf der Literaturseite erinnert Gottfried Knapp an den jüngst verstorbenen Verleger Gustav Stresow.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende erzählt Hilmar Klute von einer Art Nostalgie-Protestmarsch ins Wendland. Roland Huschke porträtiert den britischen Hollywoods-Erfolgsregisseur Christopher Nolan, dessen neuer Film "Inception" (mehr) in dieser Woche in die deutschen Kinos kommt. Vorabgedruckt aus Franke Potentes erstem Band mit Erzählungen "Zehn Stories" (Verlagsseite) wird eine Geschichte mit dem Titel "Kitamatura oder 49 Tage". Tanja Schwarzenbach unterhält sich mit dem Schriftsteller Tom Rachman über "Journalisten".

Besprochen werden die Ausstellung mit Stillleben von Christopher Williams in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, das allseits und auch von Jens-Christian Rabe gefeierte Debütalbum "The ArchAndroid" von Janelle Monae (Website) und Gershom Sholems neu herausgegeben Schrift über "Das Davidschild" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 24.07.2010

Für Bilder und Zeiten porträtiert Jan Wagner den amerikanischen Lyriker Wallace Stevens (1879 bis 1955), dessen Musikalität er rühmt: 'Stevens nutzt das ganze Arsenal von Rhythmen und Reimen (darunter so übermütige wie komische Binnenreime wie 'catarrhs' auf 'guitars'), um seinen Texten ein Höchstmaß an Musikalität zu verschaffen, die sich stellenweise bis zum Ausruf, zu Lauteruption und schierem Übermut steigert: Wer wagte es noch, stößt er auf Zeilen wie 'Ho! Ho! // But ki-ki-ri-ki / Brings no rou-cou, / No rou-cou-cou' ('Depression before Spring') oder 'Ohoyaho, / Ohoo' ('Life is Motion'), Stevens als einen distanzierten, ja verkopften Autor zu bezeichnen?" (Hier der Eintrag über Stevens bei poets.org: rechts stehen einige Gedichte, "The Idea of Order at Key West liest der Dichter selbst. Und hier noch viel mehr Gedichte von Stevens.)

Weitere Artikel: Ulrich Raulf (einst Redakteur dieser Zeitung, heute Chef in Marbach) erinnert sich an seine Studentenjahre in der einstigen DKP-Hochburg Marburg. Andreas Platthaus hat einen Ortstermin in der Renovierungswerkstatt der Stuttgarter Staatsgalerie, wo gerade an der "Grauen Passion" von Hans Holbein d.Ä. gearbeitet wird. Sebastian Balzter unterhält sich mit dem finnischen Computerspielautor Sami Järvi, der sieben Jahre an seinem neuen Spiel "Alan Wake" gearbeitet hat. Und auf der Literaturseite wird unter anderem Stig Dagermans "Schwedische Hochzeitsnacht" besprochen (die Literaturseite wird zahlenden Abonnenten heute im Netz vorenthalten).

Das Feuilleton eröffnet Felicitas von Lovenberg mit einem Blick auf den unweigerlich kommenden Bücherherbst, als dessen aufregendste Novitäten sie einen Roman von Martin Mosebach und die Tagebücher von Fritz J. Raddatz aus den achtziger und neunziger Jahren annonciert. Dirk Schümer meldet, dass der ohnehin anorektische italienische Kulturetat weiter gekürzt werden soll. Jordan Mejias berichtet, dass der gefürchtete Literaturagent Andrew Wylie eine Art eigenen Verlag für die E-Versionen der Bücher seiner Autoren gründet, die er überdies exklusiv über Amazon vertreiben will. Jürgen Dollase empfiehlt in seiner Gastrokolumne die "im Prinzip wunderbare Taube" des Kochs Karl-Emil Kuntz von der Krone in Herxheim. Oliver Jungen besucht das zum Museum umgestaltete Gefängnis auf der Festung Hohenasperg (mehr hier). Jobst Knigge stellt eine mehrbändige Ausgabe von Hemingway-Briefen in Aussicht, die das Bild des Schriftstellers verändern könnte. Für die letzte Seite begibt sich Marcus Jauer nach Norderney, um sich dort aus unklaren Gründen auf die Suche nach Horst Köhler zu begeben. Auf Seite 1 freut sich Julia Spinola auf die vielen schönen Abende in Bayreuth und Salzburg.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht?s um das nun doch auf CD erscheinende Album von Danger Mouse & Sparklhorse, auf der man auch Mark Linkous noch einmal hören kann (die Stücke waren bisher nur im Netz veröffentlicht) und um eine Veroperung von Camus' "Caligula" durch Detlev Glanert. Jan Brachmann erinnert außerdem an den norwegischen Geiger Ole Bull, der auch komponierte.