Heute in den Feuilletons

Wenn sich der Usbeke rächt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.08.2010. Die SZ war auf Pressereise in nicht verschwundenen niedersächsischen Dörfern. Die FAZ ermittelt, was Deutsche unter Hitler lasen: seichte Unterhaltung.Die NZZ erzählt, dass Robert Walser sich auch auf seinen Job als Lakai gründlich vorbereitete. Außerdem studiert die NZZ die unklaren Musikfatwas des Ayatollah Khamenei. Die taz lauscht der popmusikalischen Bewältigung der Unruhen in Kirgistan.

NZZ, 17.08.2010

(Die NZZ ist heute morgen noch nicht online, darum keine Links.) Sabrina Janesch besucht ein Schloss im polnischen Dabrowa (ehemals Oberschlesien), wo der junge Robert Walser einst als Lakai diente, obwohl er schon publiziert hatte. Warum also? "Walser selber kommentierte es so: 'Ist ein Leben ohne Sonderbarkeiten, ohne so genannte Verrücktheiten überhaupt ein Leben?' Im Herbst 1905 fasste er sich ein Herz, setzte sich in den Zug und fuhr hinaus in die preußische Provinz Oberschlesien. Kurz vorher hatte er einen sechswöchigen Kurs für Diener in Berlin besucht und sich auf die Herausforderung vorbereitet, die vor ihm lag."

Weiteres: Nachdem der iranische Ayatollah Ali Khamenei kürzlich einem Studenten von Musik eher abgeraten hat (der Guardian berichtete), nimmt sich Angela Schader die Fatwa-Sammlung vor, die Khamenei 2005 veröffentlichte, und stellt fest: "Die Richtsprüche und Ratschläge zum Umgang mit der Musik sind ein kleines Fest der Unschlüssigkeiten und der vagen Begriffe." Stefan Hentz verabschiedet die Jazzsängerin Abby Lincoln. Auf der Medienseite fordert der Verleger Norbert Neininger für die Schweizer Medien ein Leistungsschutzrecht "nach deutschem Vorbild" (es gibt zwar noch keins, aber egal).

Besprochen werden Rolf Lapperts neuer Roman "Auf den Inseln des letzten Lichts", Jasco Reilings Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer und der von Ilma Rakusa überschwänglich gelobte Roman "Endstation Russland" von Natalja Kljutscharjowa (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 17.08.2010

Heute tritt der Landtag in Niedersachsen unter David McAlister zusammen, meldet Thomas Kielinger und erzählt noch einmal die englisch-hannoversche Geschichte. Ulrich Weinzierl sinniert über Kalamitäten des Glamourpaares Netrebko-Schrott. Jan Kedves hört die kongolesische Band Staff Benda Bilili.

FR, 17.08.2010

Die FR hat heute morgen nur einen Artikel online. Der britische Autor James Hamilton-Paterson spricht im Interview über seine Faszination für das Meer. Nach Harry Nutt (hier) denkt jetzt Christian Thomas noch mal auf zwei Seiten über den Tanz von Alfred Kohn und seinen Enkeln in Auschwitz nach. Besprochen werden eine Aufführung von Händels "Messias" in Frankfurt und Klaus Böldls Roman "Der nächtliche Lehrer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Stichwörter: Auschwitz

TAZ, 17.08.2010

Nach den Pogromen in Kirgistan gegen die Usbeken hat die Sängerin Yulduz Usmanova eine wütende Ballade geschrieben und für großen Aufruhr im Land gesorgt, berichtet Marcus Bensmann: "Die 46-jährige usbekische Popsängerin Usmanova macht nun in der emotionalen Ballade 'Eine Rede an Allah' die Kirgisen für die Pogrome verantwortlich: 'Für was wurde das Blut vergossen? Hast du gar kein Gewissen? Ach, mein Kirgise, was hast du dich billig verkauft.' Usmanovas Song beginnt mit den Klängen des usbekischen Zupfinstruments Dombra. Später entfaltet Usmanova ihre volle Gesangskraft zu einer von Ethnopop getragenen Melodie: 'Wenn du jede Nation tötest, wer wird dann bei den Kirgisen sein?', singt Usmanova und fordert die Kirgisen auf, um 'Verzeihung zu bitten', denn 'wenn sich der Usbeke rächt, wird es dich nicht mehr geben'."

Weiteres: Die Bloggerin Sarah Brugner und Elias Kreuzmair finden die Zukunft der Musikkritik im weltweiten Netz, an den "Schnittstellen zwischen Künstlern, Leben, Städten". Christian Semler schreibt über Ulrike Jureits und Christian Schneiders Analyse der deutschen Gedenkkultur "Gefühlte Opfer".

Und Tom.

Weitere Medien, 17.08.2010

(Via Gawker) Das Wall Street Journal berichtet von neuen halbverrückten Ideen von Googles CEO Eric Schmidt. Er hat vorgeschlagen, das Namensrecht so zu ändern, dass Jugendliche das Recht bekommen, ihren Namen zu ändern, um schlimmen Einträgen in sozialen Netzwerken zu entkommen. "'I mean we really have to think about these things as a society,' he adds. 'I'm not even talking about the really terrible stuff, terrorism and access to evil things,' he says."

SZ, 17.08.2010

Ira Mazzoni resümiert eine Pressereise durch die ländlichen Gebiete des südlichen Niedersachsen, in denen - wie in anderen Regionen auch - immer mehr Dörfer an Bevölkerungsschwund leiden oder ganz aufgegeben werden: "Es wird Orte geben, die sich auf ihre historische Mitte konzentrieren und 'luftig' gesundschrumpfen. Und andere werden wohl aufgegeben, wenn das Wasser in den kaum genutzten Leitungen fault."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel kompiliert erste Reaktionen auf Jonathan Franzens neuen Roman "Freedom" (Audio-Auszug) und stellt Mutmaßungen über den Grund von Franzens Erfolg an (hier die Kritik aus dem New York Magazine). Laut einem Bericht von Kia Vahland streiten die Stadt Florenz und der italienische Zentralstaat um Einnahmen aus dem Besuch von Michelangelos David-Statue. Wolfgang Schreiber wirft einen Blick auf das beginnende Jugendorchesterfestival Young Euro Classic in Berlin. Hans Schifferle gratuliert der Schauspielerin Maureen O'Hara zum Neunzigsten. Gustav Seibt widerspricht einem Akzente-Artikel des Übersetzers Burkhart Kroeber zu Goethes Übersetzung einer Manzoni-Ode zum Tod Napoleons. Patrick Bethke staunt über eine Tournee Vladimir Horowitz' zur Zeit der großen Depression, die ihn sogar in schwer zugängliche Städte des mittleren Westens führte. Für Michael Moorstedt ist der Kult um das Videospiel "Red Dead Redemption" ein Zeichen dafür, dass das Genre auf dem Weg zur Kunst ist. Egbert Tholl zeichnet die ungewöhnliche Karriere des jungen Dirigenten Yannick Nezet-Seguin nach, der jüngst in Salzburg mit "Don Giovanni" Erfolge feierte.

Besprochen werden eine Hans-Peter Feldmann-Ausstellung in Düsseldorf und Bücher, darunter Gerhard Gamms Studie "Philosophie im Zeitalter der Extreme - Eine Geschichte philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 17.08.2010

Katharina Teutsch stellt einige interessante Ergebnisse von Christian Adams am Donnerstag erscheinender Studie "Lesen unter Hitler" vor. Man erfährt darin unter anderem, dass seichte Unterhaltung viel besser lief als ausdrückliche Propaganda. Und wenn es sein musste, wurde nicht so Passendes eben ideologisch passend gedacht - etwa Margaret Mitchells dreihunderttausendfach verkaufter Bestseller "Vom Winde verweht": "Bernhard Payr, ein Mitarbeiter in Rosenbergs 'Amt für Schrifttumspflege', bekannte sich zähneknirschend zu den Qualitäten von Mitchells Werk. Auf der inhaltlichen Ebene aber kam er zu dem Schluss: 'In der Einsicht, dass ein verlorener Krieg schlimmer ist als alle vorangegangenen Schrecknisse während des Krieges selbst, liegt eine der positivsten Erkenntnisse und Lehren dieses Buches.'"

Weitere Artikel: Karol Sauerland erinnert an die Gründung der "Überbetrieblichen Streikkommittees" an der Danziger Werft und damit an die Ursprünge der Solidarnosc vor dreißig Jahren. In der Glosse konstatiert Hannes Hintermeier nach jüngsten Erfahrungen, dass es sich in Bayern jetzt wohl wirklich ausgeraucht hat. Den unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Elisabeth Noelle-Neumann und dem Hörspielautor Fred von Hoerschelmann stellt Hagen Schäfer vor. Dieter Bartetzko schreibt zum Tod der Jazzsängerin Abbey Lincoln.

Besprochen werden die Eröffnung des Lucerne Festivals mit einem von Claudio Abbado dirigierten halbszenischen "Fidelio" und Bücher, darunter Maruya Saiichis Erzählband "Baumschatten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).