Heute in den Feuilletons

Was wir brauchen, ist sauberer Atomstrom

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.09.2010. Die NZZ beklagt in strengen Worten die dröge faktische Einförmigkeit deutscher Politik. Für Spiegel Online unternimmt Henryk Broder einen Gang durch die absurdesten Behörden der Republik. Neunetz und netzpolitik fragen sich, warum die Bundesregierung eigentlich immerzu Lobbyarbeit für die Printpresse macht, statt für Medienkompetenz zu werben. Die FAZ bringt ein bisher unbekanntes Trinklied von Gottfried Benn: "Welch gewaltiger Schritt der Natur/ Bis zum Gerstensaft!"

NZZ, 25.09.2010

In keinem anderen Land, nicht einmal in den USA ist die mediale Hyperventilation derart Dauerzustand wie in Deutschland, konstatiert Berlin-Korrespondent Ulrich Schmid, nirgendwo die Kluft zwischen "niederschmetternder Durchschnittlichkeit" der Ereignisse und ihrer medialen Vermarktung so groß: "Es ist eben gerade nicht die behauptete angebliche Zerrissenheit, sondern die dröge faktische Einförmigkeit deutscher Politik, die die Hysterie in den Medien und die Hahnenkämpfe der Politik provoziert. Deutsche Politiker leiden unter einer kollektiven Profilierungsneurose. Sie wissen genau, dass sie sich im Grunde nur geringfügig von ihren Rivalen unterscheiden, und das verleitet sie zum rhetorischen Overkill. Beklagenswert ist beides, die Dauerpolemik der Medien und Politiker ebenso wie der breite faktische Konsens in der Classe politique. Und beides hat unangenehme Konsequenzen. Der breite politische Konsens verführt dazu, heikle Fragen zu verdrängen und intellektuelle Tabuzonen zu schaffen."

Weiteres: Joseph Croitoru berichtet von den heftigen Auseinandersetzung in Israel, die die Weigerung von Schauspielern ausgelöst hat, bei Gastspielen ihrer Theaterhäuser in der Siedlerstadt Ariel aufzutreten. Brigitte Kramer schildert, wie sich die argentinischen Verlage schon für die Zeit nach der Frankfurter Buchmesse rüsten.

In Literatur und Kunst widmet sich Jürgen Müller dem jungen Vermeer anlässlich einer Ausstellung in der Dresdner Gemäldegalerie. Susanne Ostwald erinnert an die vor zweihundert Jahren geborene englische Schriftstellerin Elizabeth Gaskell. In den Bildansichten schreibt Anne Weber über Pierre Bonnards "Le boxeur".

Besprochen werden Annette Hugs Roman "In Zelenys Zimmer", Alain Claude Sulzers Roman "Zur falschen Zeit" und drei Bände zu Caravaggio.

FR, 25.09.2010

Georg Imdahl hat sich auf der zweiten Quadriennale in Düsseldorf umgesehen und ist von deren Beuys-Ausstellung mit "in immenser Anzahl aufgebotenen Arbeiten" durchaus angetan. Wenig gute Worte findet er hingegen für eine Rückschau auf die Düsseldorfer Kunst der Achtziger: "Das Kaleidoskop der eigenen Geschichte und Bedeutung, durch das Düsseldorf mit der zweiten Quadriennale auf sich selbst schaut, zeigt bloß etablierte Historie. Es mangelt an Zündstoff; ein Bilderstreit wird sich von hier aus nicht entfachen."

Weitere Artikel: Eine gut aufgelegte Sandra Danicke berichtet von der Präsentation von "El Taco", einem Mordsklumpen aus einem südamerikanischen Meteoritenfeld (mehr), im Frankfurter Portikus. Sehr verhalten berichtet Jürgen Otten von den Umtrieben am Berliner Hebbel-Theater, wo man derzeit dem Geist der Revolution (oder was davon übrig blieb) nachspürt. Im Gespräch verteidigt der Hamburger Kultursenator Reinhard Stuth (CDU) seine Sparpläne, gegen die sich derzeit Protest formiert:



Besprochen werden der Saisonauftakt am Centraltheater in Leipzig und beim hr-Sinfonieorchester sowie Alan Pauls' Roman "Geschichte der Tränen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 25.09.2010

Marcel Weiß kommentiert auf Neunetz die seltsame Lobbyarbeit der Bundesregierung für eine einzelne Branche, die "Nationale Initiative Printmedien": "Das Problem ist weiterhin, dass sowohl in weiten Teilen der öffentlichen Debatte als auch bei den Ansätzen der Politik von der falschen Prämisse ausgegangen wird: Printerhalt statt Lesen, Presseverlage statt Journalismus." Und Markus Beckedahl kommentiert das gleiche Thema auf netzpolitik.org: "Warum gibt es eigentlich keine Nationale Initiative Medienkompetenz, sondern stattdessen diese rückwärtsgewandte Veranstaltung?"

Welt, 25.09.2010

Im Aufmacher der Literarischen Welt schreibt Julian Barnes über Ford Madox Ford und seine Liebe zur Provence. Tilman Krause freut sich, dass der hundert Jahre alte Schriftsteller Hans Keilson jetzt auch internationale Anerkennung erfährt. Besprochen werden unter anderem Ken Folletts neuer Schmöker "Sturz der Titanen" und der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem (Auszug). Und Jacques Schuster erinnert an Maximilian Harden, einen der einflussreichsten Journalisten der Kaiserzeit und Weimarer Republik. Für die Feuilletonseite besucht Laura Ewert das Berliner Archiv der Jugendkulturen. Und Manuel Brug warnt vor dem Treiben ominöser Agenten, die das Talent der wenigen Tenorstars gnadenlos auspressen.

TAZ, 25.09.2010

Timo Berger führt uns durch die Musikszene Argentiniens, das seinen Hang zum Schweinerock (Rock chabon) aufgegeben hat und nun einen nueva cancion urbana pflegt, zu "dem Singer-Songwriter wie Pablo Dacal, Coiffeur, Florenica Ruiz und Lisandro Aristimuño oder Bands wie Rosal und FlopaManzaMinimal" gehören. Brigitte Werneburg trifft Hedwig Fijen, die Gründerin der Manifesta, die sich zur veritablen Kuratorenschmide entwickelt hat und in zwei Wochen in Murcia und Cartagena beginnt. Philipp Goll unterhält sich mit Katja Diefenbach und Stephan Geene vom queeren Buchladen und Verlag b_books.

Auf Flimmern und Rauschen widmet sich Rene Martens anlässlich Tom Rachmans Roman "Die Unperfekten" gängigen Journalistenklischees.

Besprochen werden Carlos Busqueds neoexistenzialistischer Thriller "Unter dieser furchterregenden Sonne", Felix Bruzzones Erzählungen "76" und Andre Gorz' Schrift "Kritik der ökonomischen Vernunft" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

Tagesspiegel, 25.09.2010

Nach dem Tod der amerikanischen Videothekenkette Blockbuster untersucht Joachim Huber die deutsche Situation: "Die Videotheken in Deutschland haben längst nicht den Geschäftstod vor Augen, gleichwohl weisen die Zahlen eindeutig nach unten. Gab es 2005 bundesweit 4273 Videotheken (Läden und Automaten), so waren es 2009 noch 3009. Nach Angaben des Interessenverbandes des Video- und Medienfachhandels in Deutschland (IVD) ist der Umsatz im gleichen Zeitraum von 320 auf 256 Millionen Euro gesunken."

Spiegel Online, 25.09.2010

Henryk Broder amüsiert sich mit einem Buch über die absurdesten Behörden Deutschlands. Dazu gehören zum Beispiel die Landesmedienanstalten, "von denen es gleich 14 gibt; sie sollen die privaten Radio- und TV-Stationen zwischen Flensburg und Berchtesgaden überwachen. Was machen die insgesamt etwa 460 Mitarbeiter den ganzen Tag? Doku-Soaps auf RTL 2 gucken? Bei 9Live an Gewinnspielen teilnehmen? Mit Cindy aus Marzahn chatten? Fest steht nur, dass die Tätigkeit der Landesmedienanstalten rund 140 Millionen Euro jährlich kostet, wovon der größte Teil für die Gehälter der Mitarbeiter und 'Öffentlichkeitsarbeit' ausgegeben wird."

SZ, 25.09.2010

Beim Durchsehen von Erziehungsratgebern der Evangelikalen und Gesprächen mit Aussteigern der Zeugen Jevohas kommt Oliver Das Gupta zu dem Befund, dass die Prügelstrafe in beiden konfessionellen Lagern entweder geflissentlich geduldet oder offen befürwortet wird: "Fast zynisch klingt es, wenn die Autoren betonen, Kinder dürften nicht misshandelt werden. Die Rute, so schreiben sie, sollte nicht Ablassventil für den Ärger der Eltern sein. Vielmehr sei sie 'das Haupthilfsmittel der Eltern, den Kindern das Gericht Gottes zu verdeutlichen - und später die Gnade Gottes'."

Weitere Artikel: Arg um einige Schwägerinnen-, Vettern- und Tantenecken herum konstruierte Verschwandschaftsverhältnisse zwischen Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin lassen Antonia Grunenberg über deren nicht ganz unkomplizierten Beziehungen untereinander spekulieren. Andrian Kreye referiert Eckpunkte von Melinda Gates' Plädoyer für geldintensive Entwicklungshilfe auf der Tedx-Konferenz, das man sich hier in voller Länge ansehen kann. Javier Caceres berichtet aus Spanien vom Fund eines mutmaßlichen Brueghel-Bildes. Geradezu Omina der Finanzkrise hat ein unkender "lorc" in den gerade bei Sotheby's versteigerten Kunstwerken aus der Konkursmasse der Lehman Brothers ausfindig gemacht. Auf der Medienseite unterhält sich Christopher Keil mit dem Spiegel-Verlagschef Ove Saffe ("Der mögliche Rückgang der Gesamtauflage unter die Millionengrenze war ein geplantes, uns bewusstes Szenario").

Besprochen werden der Film "The Town" von Ben Affleck, Calixto Bieitos Interpretation von Verdis "Aida" in Basel, eine Theateradaption von Godards Film "Die Chinesin" an der Berliner Volksbühne, eine Ausstellung von Fotografien von Peter Lindbergh im C/O Berlin, eine Ausstellung von Bronzino-Bildern in Florenz und Janne Tellers kontrovers diskutiertes Jugendbuch "Nichts was im Leben wichtig ist" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 25.09.2010

Alexander Kosenina stellt ein jüngst aufgefundenes Trinklied von Gottfried Benn vor, das der Dichter nach seiner Rückkehr nach Hannover 1935 wohl hastig hingeworfen hat, ein Auszug:

"Welch gewaltiger Schritt der Natur
Bis zum Gerstensaft!
Autochthone Durstregelung,
Flüssigkeitszufuhr
halb aus Trieb und halb aus Lust
Erhabenes Erhobensein
über die Vorstufen
von Dahindämmern u. Arterhaltung! (...)"

Weitere Artikel: Swantje Karich besucht die erste kleine von der kommenden Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bajargiev kuratierte Ausstellung zweier junger Künstler (nämlich Guillermo Faivovich und Nicolas Goldberg) in Frankfurt Wie die meisten Köche übersteht auch der Rotterdamer Star Francois Geurds den Besuch des Gastrokritikers Jürgen Dollase nicht unlädiert. Rechtsprofessor Gerd Roellecke liefert das Ergebnis einer späten Lektüre von Uwe Tellkamps "Turm": die entgeisterte Frage, warum das übrig gebliebene DDR-Bürgertum nicht auf die Idee kam, sich in bürgerlicher Weise in die Politik einzumischen. Thomas Thiel berichtet, dass man bei Amazon aus der Wikipedia kompilierte Bücher kaufen kann. Zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung bringt Katja Oskamp der "Ostfrau" (in Gestalt einer Lokführerin namens Sabrina) eine Hommage dar.

Besprochen wird eine Ausstellung mit Raphaels Entwurfskartons und ausgeführten Teppichen für die Sixtinische Kapelle in London (an deren Zustandekommen der Papst persönlich beteiligt war). Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um Neueinspielungen von Schumanns Klavierwerken, um eine CD mit Werken von Rolf Riehm, um Blues und Jazz von Derek Trucks und Herbie Hancock und um eine neue CD von Lloyd Cole.

In Bilder und Zeiten feiert Felicitas von Loevenberg den britischen Romancier Ian McEwan, in dessen jetzt auf deutsch erscheinendem Roman "Solar" es um den Klimawandel und einen alternden Nobelpreisträger geht. McEwans im Gespräch vorgebrachter Lösungsansatz für die Klimakrise wird hierzulande womöglich nicht so gut ankommen: "Was wir brauchen, ist sauberer Atomstrom. Diese Entwicklung muss jetzt technisch vorangetrieben werden."

Außerdem in Bilder und Zeiten: Andreas Rossmann betrachtet Heinrich Hausers Ruhrgebietsfotografien aus dem Jahr 1928, die neu als Buch herausgebracht werden. Andreas Platthaus versenkt sich in die Skizzenbücher Werner Tübkes. Auf der Literaturseite wird unter anderem Thomas Pynchons neuer Roman "Natürliche Mängel" besprochen. Für die letzte Seite interviewt Julia Spinola Alfred Brendel, der froh ist, nie mehr Konzerte geben zu müssen.

Und für die Frankfurter Anthologie liest Marie Luise Knott ein Gedicht des rumäniendeutschen Autors Werner Söllner - "Am Bodensee:

Kein Leck im Boot,
In der Haut kein Loch.
Die Freunde sind tot
oder sterben. (...)"