Heute in den Feuilletons

Radikale Veröffentlichung des Herrschaftswissens

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2010. In der Jungle World erzählt der dänische Autor Frederik Stjernfelt, wie die Linke einer an sich reaktionären Ideologie - dem Kulturalismus - aufsaß. Die SZ analysiert den Cypherpunk Julian Assange. Carta erzählt, was Wikileaks mit den Medien macht (vor allem mit denen, die nicht zu seinen Auserwählten zählen). In der NZZ schreibt Slavenka Drakulic über Zensur an Angelina Jolie, die in Bosnien einen Film drehen wollte. In der FAZ spricht Daniel Cohn-Bendit über Freundschaft, Zerwürfnis und Wiederbegegnung mit Jean-Luc Godard und schweigt auch nicht über das Thema Antisemitismus.

Jungle World, 03.12.2010

Eine der Quellen für den linken Kulturalismus, etwa bei Grünen, sind Ethnologie und Anthropologie, sagt Frederik Stjernfelt, den Ivo Bozic zu seinem Kulturalismus-Buch (Auszüge auf Deutsch im Perlentaucher) interviewt: "1947 wurden manche Diskussionen, die wir heute erleben, quasi vorweggenommen, als die Vereinigung amerikanischer Anthropologen gegen den Entwurf der Menschenrechtserklärung der Uno protestierte, und zwar mit der Begründung, der individuelle Universalismus verletzte die Rechte der Kulturen. Seitdem konkurrieren der Kulturalismus und die Menschenrechte um die Vorherrschaft in der Uno und in der internationalen Politik."

FR, 03.12.2010

Daniel Kothenschulte gratuliert Jean-Luc Godard zum Achtzigsten. In der Reihe über die "Menschenrechte" präsentiert der Pädagoge Stefan Weyers die Ergebnisse einer Umfrage unter muslimischen und katholischen Jugendlichen, die zeigen, dass die Muslime in ihrem Denken über Menschenrechte doch noch stärker von der Religion geprägt sind.

Besprochen werden neue Gedichte von Lutz Seiler und Sabrina Janeschs Debütroman "Katzenberge".

NZZ, 03.12.2010

Zensur nennt es die Schriftstellerin Slavenka Drakulic, dass Angelina Jolie in Bosnien vom Kulturminister daran gehindert wurde, einen Film zu drehen, der von einem Vergewaltigungsopfer handelt, das sich in seinen Peiniger verliebt. Gelesen hatte das Drehbuch bis dahin niemand. Außerdem fragt sie: "Wäre es nicht gescheiter, sich um die realen Probleme und Frustrationen vergewaltigter Frauen in Bosnien zu kümmern, als neue Probleme zu erfinden? Sie leiden - unverschuldet - weit mehr an der Ausgrenzung und Zurückweisung in ihrer eigenen Gemeinschaft als durch die mutmaßliche Lovestory eines neu regieführenden Hollywood-Stars."

Weiteres: Knut Henkel porträtiert die argentinische Autorin Claudia Pineiro. Der Stadtplaner Reinhard Seiss setzt auf eine städtebauliche Wende unter Wiens rot-grüner Regierung. Besprochen werden die Symphony Edition, eine 60 CDs umfassende Box mit Aufnahmen von Leonard Bernstein und dem New York Philharmonic Orchestra sowie Einspielungen des Klavierduos Grau-Schumacher.

Welt, 03.12.2010

Thomas Schmid interviewt den ehemaligen Außenminister Klaus Kinkel zu den jüngsten Wikileaks, die diesem vor allem peinlich für die USA zu sein scheinen - die Enthüllungen über den Iran und Nordkorea findet er dagegen gefährlich: "Dort haben wir eine ganz andere Kultur, ein solcher Vorgang löst dort eine viel größere Empörung und eventuelle Reaktionen aus."

Weiteres: Ulf Poschardt gratuliert der "Ikone der Popkultur" Jean-Luc Godard zum Achtzigsten. Hannes Stein besucht das neue National Museum of American Jewish History in Philadelphia, das eine "grandiose Erfolgsgeschichte" erzählt, aber offenbar auch nicht über die Welle des Antisemitismus ausgerechnet zur Zeit des Zweiten Weltkriegs nicht verschweigt. Besprochen wird eine Retrospektive des früh an Aids gestorbenen Fotografen Mark Morrisroe in Winterthur (die den Wert der Sammlung Ringier sicher steigen lässt!)

Aus den Blogs, 03.12.2010

Die deutschen Medien sind nach den Wikileaks gespalten, schreibt Wolfgang Michal in Carta: "Da gibt es die Leitmedien, die das Privileg genießen, die WikiLeaks-Dokumente auswerten, auswählen und veröffentlichen zu dürfen (der Spiegel, dessen Auflage zuletzt schwächelte, ist sogar in der glücklichen Lage, die aktuelle Ausgabe nachdrucken zu müssen). Zum anderen gibt es die Medien, denen zunehmend klarer wird, dass sie ein trojanisches Pferd in ihre uneinnehmbar erscheinende Medienfestung geholt haben. Und schließlich gibt es noch die Medien, deren Leitartikler sowieso lieber Politiker geworden wären, weil sie 'Verbrecherwebsites' wie WikiLeaks am liebsten ausräuchern würden (wenn sie denn wüssten, wie man im Internet etwas ausräuchert)."

Open Culture verlinkt auf die drei besten im Netz zu lesenden Julian Assange-Porträts.

Jens Matheuszik widerspricht im Pottblog Udo Vetters gestriger Entwarnung zum Jugendmedienschutzstaatsvertrag. Eines der Argumente: "Da mit Einsatz der Filtersoftware für den JMStV damit zu rechnen ist, dass dieser Filter immer mehr genutzt wird (man darf davon ausgehen, dass bei öffentlichen Einrichtungen wie Schulen das ganz schnell der Fall sein wird), muss man seine Internet-Seite kennzeichnen, um nicht Gefahr zu laufen, dass man zwar gemäß der brecht?schen Radiotheorie selber sendet, aber niemand die entsprechende Frequenz einstellen kann um mitzuhören."

Nick Denton, Gründer von Gawker und Gizmodo, erklärt, warum er das Blogformat für tot hält: Weil seine Blogs jetzt nämlich im Magazinformat erscheinen: "The internet, television and magazines are merging; and the optimal strategy will assemble the best from each medium."

TAZ, 03.12.2010

Simone Jung erklärt, was es mit dem neuen Elektronikgenre Witch House auf sich hat: "Hypnotisches Klanggebilde mit reichlich Bombast." (Siehe dazu auch Jens Balzers Artikel in der gestrigen FR) Barbara Behrend schildert die Erfolgsgeschichte der Bürgerbühne Dresden, wo im letzten Jahr an sechs Inszenierungen 400 Dresdner mitwirkten. Meike Laaf schreibt über das nicht totzukriegende Zombiegenre, das in Amerika derzeit in der auf einem Comic basierende Grusel-Fernsehserie "The Walking Dead" fröhliche Urstände feiert.

Besprochen werden das Album "Void Coordinates" des Multiinstrumentalisten und Komponisten Elliott Sharp und Heidi Specognas Dokumentarfilm "Das Schiff des Torjägers".

Und Tom.

SZ, 03.12.2010

Niklas Hofmann hat Recherchen zu den intellektuellen Hintergründen des Wikileaks-Gründers Julian Assange angestellt und kann ihn nun im gedanklichen Umfeld von Cypherpunk und radikal-libertärem Krypto-Anarchismus verorten: "Der Krypto-Anarchismus postuliert, dass eine Asymmetrie zwischen dem Staat, der einen möglichst großen Teil der Kommunikation seiner Bürger zu überwachen versucht, und eben diesen Bürgern besteht, gegenüber denen der Staat vieles geheim halte. Die technische Revolution des Cyberspace könne diese Verhältnisse nun umkehren. Alle privaten Informationen könnten und sollten mit kryptographischen Mitteln geheim gehalten werden. Der Staat wäre zur Unterdrückung des Einzelnen dann nicht mehr in der Lage... Der umgekehrte Ansatz, um das gleiche Ziel zu erreichen, wäre die radikale Veröffentlichung des Herrschaftswissens."

Weitere Artikel: Fritz Göttler würdigt Jean-Luc Godard zum Achtzigsten mit einer Relektüre seiner "Histoire(s) du cinema", jenes filmgeschichtlichen Montage-Gesamtkunstwerks, das er als "Zentrum von Godard" begreift. Den großen Geburtstagsartikel schreibt Tobias Kniebe (hier in neun bebilderten Häppchen). Andreas Zielcke kann in der Stuttgarter Schlichterrunde kein neues Demokratiemodell erkennen. Einen Aufsatz zum Verhältnis des modernen Katholizismus zur Geschichtsschreibung referiert Siegfried Weichlein. Lothar Müller schreibt zum Tod des Germanisten Walter Müller-Seidel.

Besprochen werden die Chemnitzer Uraufführung von Emil N. von Recnizeks bereits 1929 entstandener Oper "Benzin" (ganz nett scheint Wolfgang Schreiber die Oper zu finden, mehr aber auch nicht), Frank Castorfs Inszenierung des Walter-Mehring-Stücks "Der Kaufmann von Berlin" (Peter Laudenbach fasst sich kurz und gibt sich gelangweilt) und Bücher, darunter Alain Claude Sulzers Roman "Zur falschen Zeit" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 03.12.2010

Daniel Cohn-Bendit schreibt zum 80. Geburtstag Jean-Luc Godards einen mäandernden Text, in dem es um ihre gemeinsame, aber sehr verschiedene Vergangenheit als Revolutionäre, um Godards "Antisemitismus" und das Zerwürfnis geht, das entstand, weil Cohn-Bendit "Außer Atem" zu laut gepriesen hat. Und zuletzt erzählt Cohn-Bendit noch von seinem Besuch bei Godard Anfang diesen Jahres: "Mit mir wollte er unbedingt seinen Frieden machen, glaube ich. Ich hatte das Gefühl, da ist etwas ganz Prekäres in seinem Verhältnis zur Außenwelt. Mit mir, glaube ich, erlebt Godard etwas, was er selten hatte - wir begegnen uns von Gleich zu Gleich. Wir konkurrieren nicht, wir arbeiten auf unterschiedlichen Planeten. Das entspannt ihn. Das interessiert ihn... Am Ende habe ich ihn gefragt: 'Willst du denn nicht mehr drehen?' Er antwortete: 'Doch, doch, ich will weiter drehen. Und zwar hiermit.' Er kramte zwei Gadgets aus der Tasche. Das erste war ein Kugelschreiber. Den hält er mir hin und sagt: "Schau mal, das haben Spione heute, da ist eine Kamera im Kopf.' Das zweite war ein Wecker. Auch mit eingebauter Kamera."

Weitere Artikel: Andreas Kilb informiert über die eher unentschlossenen Versuche, etwas gegen die Stadtbrache rund um den Berliner Hauptbahnhof zu unternehmen - deren Zustand der Architekt Meinard von Gerkan als "verkommen, vernachlässigt, ungepflegt - unterstes Niveau" bezeichnet hat. Günter Paul erklärt die biochemische Arsen-Überraschung, von der die NASA in einer Pressekonferenz berichtete und bringt es dabei sogar noch fertig, seine Vorurteile übers Internet loszuwerden. Swantje Karich glossiert den Wunsch der Deutschen Bank, die gerade frisch ökosanierten Zentralgebäude "Soll" und "Haben" zu verkaufen. In einer Serie zu "Adventsminiaturen" interessiert sich Jürgen Dollase heute für den "Nikolausteller". Über die Schließung des Chilida-Museums im baskischen Hernani informiert Paul Ingendaay. Einen neuen Einsturz in Pompeji vermeldet Dieter Bartetzko. Zum Tod von Irene Ludwig resümiert Eduard Beaucamp in seiner Kolumne das kunstweltprägende Sammlerleben des Ehepaars Ludwig. In einem weiteren Artikel berichtet Andreas Rossmann, dass sich für die Ludwig Stiftung durch Irene Ludwigs Tod wenig ändern wird. Der Germanist Hans-Jürgen Schings schreibt zum Tod seines Kollegen Walter Müller-Seidel.

Besprochen werden die Ausstellung "Das fremde Abendland?" im Badischen Landesmuseum Karlsruhe und Bücher, darunter Peter-Andre Alts Studie "Ästhetik des Bösen" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).