Heute in den Feuilletons

Asche und Schnee

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2010. Im Guardian schimpft Orhan Pamuk auf Europa, das die Türken nicht integrieren will. In der FAZ diagnostiziert Thilo Sarrazin überbordenden Opportunismus und kriecherische Feigheit in Politik und Medien. Die NZZ auch. Der Freitag gibt Sarrazin rechter als ihm recht sein. Die SZ stellt die Frage "Wie leer wäre die Welt doch ohne Hausmusik?" Die FR erzählt das Leben eines gewissen Jesus von Nazareth. Angesichts derart guter Nachrichten wünscht der Perlentaucher seinen Lesern und Leserinnen ein schönes Wochenende!

NZZ, 24.12.2010

Wir werden unfreier und merken es noch nicht einmal, beklagt Martin Meyer und fürchtet eine Epoche der Gesinnungsverwaltung heraufziehen: "Die Schule der Moralexperten unterrichtet über alles, vom Klima- und Umweltschutz über artgerechte Landwirtschaft und ethisch verantwortete Essgewohnheiten bis zum einwandfreien Zusammenleben mit Minderheiten und zum Fähigkeitsnachweis für Großeltern für die Betreuung ihrer Enkel. Falls aber ein Fernsehmoderator noch einen Witz in der Kehle trägt, hat er die Pointe vorher zu seinem eigenen Vorteil mit der höheren Stelle abgesprochen."

Weiteres: Aldo Keel berichtet von einer Debatte in Finnland zur Abschaffung des Schwedischen als zweiter Nationalsprache. Besprochen werden eine Ausstellung zu Carl Friedrich von Rumohr im Museum Behnhaus Drägerhaus in Lübeck, eine Schau des Architekten Bohuslav Fuchs im Ringturm in Wien, Katherine Anne Porters Roman "Narrenschiff", die Gesamtausgabe von Tove Janssons "Mumins".

In Literatur und Kunst besucht Andrea Köhler die Millionenerbin und "poor rich girl" Gloria Vanderbilt in ihrem New Yorker Studio. Josef Imbach erklärt uns "unschickliche" Gemälde des Mittelalters, die Maria als Schwangere zeigten. Franziska Meier liest Dantes "Göttliche Komödie".

FR, 24.12.2010

Der Theologe und Experte für Frühchristentum Gerd Lüdemann erzählt das Leben eines gewissen Jesus: "Aufgewachsen ist Jesus mit mehr als fünf Geschwistern in dem galiläischen Ort Nazareth. Seine Muttersprache war Aramäisch, was nicht ausschließt, dass er einige Brocken Griechisch verstanden hat."

Außerdem: Christian Thomas besucht eine Ausstellung mit spätgotischen Bibelillustrationen Berthold Furtmeyers in Regensburg. Besprochen werden weiter Calixto Bieitos "Fidelio"-Inszenierung in München, Shakespeares "Was ihr wollt" und Roland Schimmelpfennigs "Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes" am Burgtheater in Wien und die Autobiografie der amerikanischen Anarchistin Emma Goldman.

Weitere Medien, 24.12.2010

Die Türken nehmen Abschied vom europäischen Traum, schreibt Orhan Pamuk im Guardian. Die Türken seien enttäuscht, dass die Europäer unfähig seien zu Multikulti: "Wenn man von Istanbul aus auf Europa schaut, sieht man als erstes, dass Europa (wie die Europäische Union) über seine inneren Probleme hadert. Viel weniger als die Amerkanier haben die Völker Europas die Erfahrung des Zusammenlebens mit Menschen anderer Religion, Hautfarbe oder kultureller Identität, und diese Perspektve begeistert sie auch nicht: Dieser Widerstand lässt die europäischen Probleme noch unlösbarer erscheinen. Die jüngsten deutschen Diskussionen um Integration und Multirkulturalismus sind ein Beispiel heirfür."

Aus den Blogs, 24.12.2010

Nun also auch Apple, meldet Gawker: "Apple banned the Wikileaks iPhone app, determining it could hurt people, or is illegal, or both. The company didn't actually specify why 73 million iPhone owners are forbidden from using the app... Apple's Trudy Muller told the New York Times the app "violated our developer guidelines. Apps must comply with all local laws and may not put an individual or group in harm's way."

Paul Buchheit, ehemals Google- dann Facebook-Manager und nun Venture-Kapitalist, glaubt nicht, dass Google Facebook schlagen kann, sagt er zu Gawker: "As for social, I expect that Google will find greater success with their self-driving car and moon landing initiatives. I think it's worth noting that the two most successful Facebook competitors, Twitter and Foursquare, were both started by people who were relatively unsuccessful at Google."

Thomas Osten-Sacken schreibt in freeirannow: "Heute, am 24.12., liest man inmitten all des besinnlichen Getues in deutschen Zeitungen nirgends an prominenter Stelle ein Wort über das Schicksal von Marcus Hellwig und Jens Koch. (Zumindest laut Google Suche). Sie sind keiner Zeitung an diesem Tag auch nur einen längeren Kommentar wert!"

Berliner Zeitung, 24.12.2010

Der Schriftsteller Peter Wawerzinek erzählt im Magazin vom Besuch seiner Schwester in Berlin. Hier der Anfang: "Wie viel Schnee inzwischen gefallen sein mag, frage ich mich oft zur Weihnachtszeit. Wissend, dass es immer schneit, wenn mir im Leben etwas Besonderes geschieht. Also ist da an der Tatsache auch nicht ein Wunder zu vermelden, dass es zu schneien beginnt, wie ich meine kleine Schwester und ihren Mann am Hauptbahnhof abhole, wir draußen vor der Tür gemeinsam eine Zigarette zur Begrüßung rauchen. Asche und Schnee bestimmen die wichtigen Situationen in meinem Leben."
Stichwörter: Wawerzinek, Peter, Zigarette

Welt, 24.12.2010

Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter hat ein einfaches Rezept für unsere Probleme mit dem Islam: Selektion am Flughafen. "Warum werden die Kontrollen nicht vornehmlich auf junge muslimische Männer ausgerichtet? Daran sind unsere politischen und kulturellen Eliten schuld, die sich weigern, den Islam selbst als potenzielle Quelle der Aggression und der Mordgier anzusehen. Wenn man alle zu potenziellen Verdächtigen macht, erscheint der Drang, Menschen in Flugzeugen in die Luft zu sprengen, als eine allgemein menschliche Verirrung oder als ein Naturphänomen wie Schneeverwehungen."

Außerdem: Alexander Kluge denkt über die große Bedeutung des Heilig Abend in Deutschland nach, den wir natürlich "niemals gegen eine Pflegeversicherung eintauschen würden wie den Buß- und Bettag". Besprochen werden unter anderem Brigitte Kronauers Schriftstellerporträts "Favoriten" Viktor Kelners Biografie des jüdischen Historikers Simon Dubnow und Katharina Mommsens Buch über Schiller und Goethe "Kein Rettungsmittel als die Liebe".

Im Feuilleton erinnert Ulrich Weinzierl an die Berliner Rundfunklegende, den Theaterkritiker Friedrich Luft. Andreas Rosenfelder verabschiedet die galant-drastischen Kontaktanzeigen, die die London Review of Books nun abschaffen will. Stefan Keim erzählt, wie die Kölner Oper derzeit ohne feste Herberge auskommt. Besprochen werden Matthias Hartmanns Shakespeare-Inszenierung "Was Ihr wollt" an der Wiener Burg und ein Buch von Friedrich Schleiermacher über den Heilig Abend.

TAZ, 24.12.2010

Die taz widmet sich auf mehren Seiten den familiären und kommunikativen Sollbruchstellen des Weihnachtsfests, unter anderem gibt Barbara Müller Überlebenstipps die sich aus ihren Erfahrungen mit dem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation gewonnen hat.

Den Christen im Irak ist in diesem Jahr nicht nach Weihnachten zumute, berichtet Ina Rogg. "Statt an das Fest zu Christi Geburt, denken viele an Flucht. Kurz vor der Adventszeit hatten Extremisten in Karrada eine Kirche überfallen und ein Massaker unter der versammelten Gemeinde verübt. Seitdem haben hunderte Familien Bagdad verlassen, viele weitere sitzen auf gepackten Koffern."

Weitere Artikel: Georg Blume erzählt von Weihnachten in Indien. David Denk unterhält sich mit Funny van Dannen über Weihnachten, die Kleinfamilie und sein neues Best-of-Album. Kirsten Küppers spaziert mit der Architektin Julia Gill durch eine Fertighaussiedlung. Außerdem zu lesen ist ein Vorabdruck aus dem im Januar erscheinenden Buch "Anständig essen" (Galiani Verlag) von Karen Duve. Auf der Medienseite ist ein Gespräch mit dem inzwischen 85-jährigen Journalisten Wolf Schneider und seiner Tochter Susanne über Journalismus und das Leben in einer Journalistenfamilie zu lesen.

Besprochen werden Ayelet Waldmanns Buch "Böse Mütter" sowie mehrere Krimis (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 24.12.2010

Keine frohe Botschaft verkündet Thilo Sarrazin. Er hat viel gelernt in diesem Jahr. Auch über den Opportunismus unserer meinungsbildenden Schichten: "In Politik und Medien gibt es nach meiner Überzeugung heute keineswegs mehr, sondern eher weniger Zivilcourage und wirklich unabhängiges Denken als in der Weimarer Republik oder in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Weh uns, wenn sich die Verhältnisse, in denen wir uns so behaglich und selbstgerecht aufgehoben fühlen, einmal zu unseren Ungunsten ändern sollten. Wir werden uns dann wundern über den überbordenden Opportunismus und die kriecherische Feigheit rings um uns."

Weitere Artikel: Arno Geiger, Anna Katharina Hahn, Andreas Maier erinnern sich an einen Weihnachtsabend mit der Familie. Constanze Kurz zieht in ihrer Maschinenraum-Kolumne Schlüsse aus dem winterlichen Versagen der Bahn fürs Internet. In der Glosse verkündet uns Gina Thomas, das Papst Benedikt heute um 7.45 in der BBC den Thought for the Day gesprochen haben wird. Nicht das Sacher in Wien, das Sacher in Salzburg ist eine Reise wert, meint Jürgen Dollase. Wikileaks brachte kein System "zum Wackeln", man wird einfach einen neuen Geheimnisschutz aufbauen, meint achselzuckend Gerd Roellecke. Sabine Frommel besichtigt das neue, von Odile Decq entworfene Museo d'Arte Contemporanea Roma in Rom. Uwe Ebbinghaus erzählt in einer Reportage von einem Nomaden, der in Zügen lebt. Jürgen Kaube schreibt zum Tod von Claus Koch.

Besprochen werden die Ausstellung "Man, Myth, and Sensual Pleasures" über den Renaissancemaler Jan Gossart im New Yorker Metropolitan Museum, Matthias Hartmanns Inszenierung von Shakespeares "Was ihr wollt" am Burgtheater, einige CDs, darunter ein Bach-Album mit der Pianistin Simone Dinnerstein ("unerhört stark, berstend lebendig", staunt Eleonore Büning) und was Neues von Motörhead (dazu gibt's online ein Interview mit Lemmy Kilmister), sowie Bücher, darunter Francis Wyndhams Roman "Der andere Garten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)

In Bilder und Zeiten erzählt Karen Krüger am Beispiel des in Istanbul lebenden Armeniers Mihran Prkich vom komplizierten Zusammenleben zwischen Türken und Armeniern. Brigitte van Kann erzählt die Geschichte des russischen GOSET, des ersten jüdischen Staatstheaters der Welt. Und Wolfgang Sandner unterhält sich mit der Gospelsängerin Queen Esther Marrow (mehr hier) über Gott und Kirchenmusik.

In der Frankfurter Anthologie schreibt Dirk von Petersdorff über ein Goethe-Gedicht:

"Weihnachten

Bäume leuchtend, Bäume blendend,
Überall das Süße spendend,
In dem Glanze sich bewegend,
Alt und junges Herz erregend -
Solch ein Fest ist uns bescheret,
Mancher Gaben Schmuck verehret;
..."

Freitag, 24.12.2010

Warum tut de FAZ das?, fragt Freitag-Herausgeber Jakb Augstein als Reaktion auf Sarrazins FAZ-Artikel: "Die FAZ lässt Sarrazin den Satz schreiben: 'Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten'. Das stimmt einfach nicht. Es ist eine Lüge. Und zwar eine offensichtliche, die den Leser fassungslos macht. Es ist nicht nur so, dass keineswegs keiner Sarrazins Thesen bestritten hat - sondern es ist vielmehr so, dass die Experten geradezu kohortenweise über Sarrazins Kurzschlüsse hergefallen sind. Es sind nämlich nicht die Daten falsch, die er nutzt. Sondern die Schlüsse, die er daraus zieht."

SZ, 24.12.2010

Die SZ bringt die deutsche Version von Orhan Pamuks "Europa"-Artikel aus der Comment is Free-Sektion des Guardian. Gottfried Knapp kann es nicht fassen: Die EU will die Lichtinstallationen Dan Flavins und anderer nicht mehr als Kunstwerke, sondern nur als gewöhnliche Leuchtkörper gelten lassen. Auf Seite 2 des Feuilletons können sich die Leser mit einem literarischen Rätsel zu Weihnachten vergnügen. Jörg Häntzschel porträtiert den evangelikalen Kichenfürsten Robert Schuller aus Los Angeles, der sich von den besten Architekten absurde Glaspaläste als Kirchen hinstellen lässt (und jetzt Gläubigerschutz beantragen musste).

Eine Doppelseite widmet sich der Frage "Wie leer wäre die Welt doch ohne Hausmusik?" "Von wegen Dichter und Denker: In Deutschland gibt es sieben Millionen Laienmusiker", konstatiert etwa Reinhard J. Brembeck..

Auf der Medienseite fürchtet Nikolaus Piper, dass sich amerikanische Medien - die Ultrakonservativen hier, die Linksliberalen dort - in eine bürgerkriegsähnliche Rage reden: "Eigentlich gibt es gar keine amerikanische Medienöffentlichkeit mehr, es gibt zwei feindliche Medien-Universen."

Für die SZ am Wochenende hat Willi Winkler ein Dramolett über Geißler und Sarrazin auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt verfasst. Till Briegleb meditiert über die "Massendroge" Charisma. Hannes Vollmuth schickt eine kleine Kulturgeschichte des Nussknackers. Die Künstlerin Sam Taylor-Wood erzählt im Interview von ihrer glücklichen Patchworkfamilie.