Heute in den Feuilletons

Riesiger weißer Eber

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2010. In der Welt äußert sich der deutsch-iranische Filmemacher Ali Samadi Ahadi entsetzt über die Verurteilung seines Kollegen Jafar Panahi. Die FR fragt, ob Filmfestivals zu intensiv mit dem iranischen Regime zusammenarbeiten.  Die NZZ empfiehlt Japan-Reisenden Schutzmaßnahmen gegen Waldgötter. In der FAZ rumort es noch mal sehr heftig gegen das Buch "Das Amt". 

FR, 23.12.2010

Daniel Kothenschulte kommentiert die drakonischen Sanktionen des iranischen Regimes gegen den Regisseur Jafar Panahi (sechs Jahre Gefängnis, zwanzig Jahre Berufs- und Ausreiseverbot): "Noch immer kooperieren Filmfestivals allzu leichtfertig mit den kulturellen Institutionen von Diktaturen wie Iran und China." Alles was man von der Berlinale hört, ist, dass Panahis Platz bei Sitzungen der Jury 2011, zu der er eingeladen wurde, demonstrativ leer bleiben soll.

Weitere Artikel: Dirk Pilz stellt den künftigen Intendanten der Berliner Festspiele, Thomas Oberender vor. Besprochen werden die große Napoleon-Ausstellung in Bonn und einige Bücher, darunter Jan Assmanns Studie "Religio duplex - Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung", an deren Idee von einer die Religionen überbrückenden humanen Botschaft Arno Widmann nicht recht glauben will (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 23.12.2010

Im Interview ist der deutsch-iranische Filmemacher Ali Samadi Ahadi entsetzt über die Verurteilung seines Kollegen Jafar Panahi in Teheran: "Wird die Grüne Bewegung durch Verhaftung, Folter, Unterdrückung oder selbst Tötung lahm gelegt? Ich glaube nicht. Der Grund, warum die Menschen vor anderthalb Jahren in Iran zu den Wahlurnen gegangen sind, waren hohe Arbeitslosigkeit, Inflation, Willkür, mangelnde Perspektiven für die Jugend und ungleiche Behandlung zwischen Mann und Frau. Diese Probleme haben sich nicht aufgelöst, im Gegenteil, die Zustände sind immer extremer geworden: Die Inflation ist explodiert, die Ungerechtigkeit gegenüber Frauen ist weiter gestiegen, Iran ist - noch vor China - Hinrichtungsweltmeister geworden."

Weiteres: Michael Pilz erklärt das Phänomen des Trans-Siberian Orchestras, das mit seiner Bühnenshow aus Heavy Metal, Weihnachtsliedern und guten Botschaften in den USA ein Millionenpublikum anlockt. Richard Kämmerlings schimpft im Kommentar über die kostenlose, die "ungebührliche" Tagesschau-App: "Schließlich müssen die Verlage mit ihren konkurrierenden Angeboten Geld verdienen." Im telefonischen Kurzinterview freut sich Thomas Oberender, als Leiter der Berliner Festspiele nach Berlin kommen zu dürfen. Besprochen werden Calixto Bieitos "gedankenkalte" Inszenierung des "Fidelios" in München und Jens Neuberts Verfilmung des "Freischütz".

Berliner Zeitung, 23.12.2010

Die Aktionen westlicher Geheimdienste gegen den Iran scheinen erfolgreich zu sein, meint der Politologe Behrouz Khosrozadeh in einer Analyse der Lage des iranischen Regimes: "Setzte der Iran bisher rein taktisch auf Verhandlungsbereitschaft - weil er annahm, die Kosten eines Krieges seien für den Westen zu hoch -, so wendet nun der Westen fast die gleiche Strategie gegen Teheran an. Eine Strategie, die effizient ist, im Gegensatz zu einem Krieg nichts kostet und gegen die der Iran weder rechtlich noch militärisch ankämpfen kann."
Stichwörter: Geheimdienste, Iran

TAZ, 23.12.2010

Jürgen Gottschlich berichtet über das Ende der achtzehnjährigen Wiederherstellungsarbeiten an der Hagia Sophia und andere mehr oder weniger gelingende Restaurierungsprojekte in Istanbul. Cristina Nord unterhält sich mit dem chilenischen Filmemacher Patricio Guzman über die politische Situation in Chile und seinen Essayfilm "Nostalgia de la luz".

Besprochen werden Tom Tykwers Film "Drei" und das neue Album "Eh fi Amal" von Fayrouz, der Grand Dame des libanesischen Pop.

Und Tom.

NZZ, 23.12.2010

In hiesigen Regionen fungiert nur die immergrüne Tanne als "Bannwerk gegen das Böse", im schintoistischen (und immergrünen) Japan sind Bäume generell beliebte Sitze von Gottheiten, informiert Daniela Tan in einem Text über Heilige Bäume, wie er so nur in der NZZ erscheinen kann: "Im heterogenen Raum der archaischen Glaubenswelt Japans manifestierte sich die Waldgottheit beispielsweise in Form eines weißen Hirsches, eines riesigen weißen Ebers oder eines weißen Hasen. In den Schriften des Volkskundlers Yanagita Kunio findet sich eine Anweisung an Reisende, die sich gezwungen sehen, im Freien zu nächtigen. Nachdem man die Gottheit des Bergwaldes um Erlaubnis gebeten hat, signalisiert ein mit immergrünen Zweigen abgesteckter viereckiger Platz den profanen Raum des Wanderers, in dem ihm nichts zustoßen wird."

Urs Hafner erhebt Einspruch gegen die immer großzügigere Vergabe von Ehrendoktor-Titeln: "Die Freiburger philosophische Fakultät hat heuer den 'berühmten Journalisten' Roger de Weck ausgezeichnet (Luzern tat dies 2006), letztes Jahr Franz Hohler. Das ist, bei allem Respekt für das Schaffen der Preisträger, nicht leicht zu vereinbaren mit den vom Reglement geforderten 'ausgezeichneten Verdiensten um die Wissenschaft'."

Weiteres: Auf der Filmseite schwärmt Susanne Ostwald von den "Prachtweibern", denen Mathieu Amalrics in seinem Film "Tournee" über eine "New Burlesque"-Truppe huldigt. Alexandra Stäheli bespricht Bruno Chiches Verfilmung von Martin Suters Roman "Small World". Bernhard Lang stellt einen neuen Kommentar zur Zürcher Bibel vor. Peter Hagmann sah Calixto Bieitos "Fidelio"-Inszenierung in München.

SZ, 23.12.2010

Reinhard J. Brembeck hat vorgestern zu früh vor dem Münchner Opernpublikum gewarnt: Calixto Bieitos Inszenierung des "Fidelio" wurde durchaus umjubelt. Und Brembeck jubelt mit: "Sie thematisiert das aus den Schreckenserfahrungen des 20.Jahrhunderts heraus erstandene Unbehagen an jeder Art von Idealismus, von Utopie". Alex Rühle erklärt dem staunenden SZ-Publikum den Sozialtypus des Nerd und identifiziert Obama und Assange als "Nerds - Genies, die Hilfe brauchen". Stefan Mayr präsentiert ein bisher unbekanntes Foto, das den jungen Bertolt Brecht mit Rokoko-Gewand und mit Mozart-Perücke zeigt. Alexander Menden unterhält sich mit der britischen Zeichnerin und Autorin Posy Simmonds, deren Comic "Tamara Drewe" von Stephen Frears verfilmt wurde. Alex Rühle meldet, dass Mark Zuckerberg nach China gereist ist und dass nun Gerüchte über die Gründung einer chinesischen Facebook-Filiale kursieren.

Besprochen werden eine Ausstellung über das Architekturbüro Wandel Hoefer Lorch & Hirsch (idiotische Architektenwebsite in Flash-Technologie) in München und Filme, darunter Patricio Guzman Filmessay "Nostalgia de la Luz - Nostalgie des Lichts" (mehr hier), außerdem Bücher, darunter die jetzt erstmals auf deutsch edierten Tagebücher von Samuel Pepys.

Auf der Medienseite erklärt Götz George, warum er immer, immer weiter den "Schimanski" spielt. Gemeldet wird, dass das ZDF seine Literatursendung "Die Vorleser" mangels Quote mit sofortiger Wirkung einstellt.

FAZ, 23.12.2010

Im Leitartikel auf der ersten Seite antwortet FAZ-Redakteur Rainer Blasius seinen Kritikern Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann (Verfasser der Studie "Das Amt"), die ihm kürzlich in der SZ vorgeworfen haben, die Arbeit der Historikerkommission mit "raunenden Fragen, beleidigenden Unterstellungen und Falschbehauptungen" begleitet zu haben. Falls Blasius diesen Vorwurf widerlegen wollte, ist er gescheitert. Hier seine Gegenvorwürfe: Erstens hätten Eckart Conze und Norbert Frei in den letzten Jahren nur ein einziges Mal das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes besucht (das soll ein Mitarbeiter des Archivs behauptet haben). Zweitens lasse die Kommission Kritiker Joschka Fischers, der die Studie in Auftrag gegeben hat, schlecht wegkommen: "Überhaupt wird eine Braunbuch-Perspektive, mit der Bonner Spitzenbeamte im Jahr 1965 unter Beschuss gerieten, jetzt mit einem gesamtdeutschen Ritterschlag belohnt." Drittens nimmt Blasius an, dass die namhaften Herausgeber "keine Zeile selbst geschrieben", sondern dies ihren Mitarbeitern überlassen haben. Viertens sei die Studie in der Endredaktion von einem Verlagslektor betreut worden, der "eine Agentur für Autoren betreut". Und fünftens schließlich standen alle unter "Erwartungsdruck und Rechtfertigungszwang", weil die Studie 1,5 Millionen Euro Steuergelder verschlungen habe.

Niklas Maak freut sich im Feuilleton für das Städel über Guercinos Gemälde "Madonna mit Kind", das der ehemalige Kunstredakteur der FAZ, Eduard Beaucamp, und seine Frau dem Museum geschenkt haben. Maak erzählt auch, wie die Beaucamps zu dem Bild kamen: "Anfang 1981 entdeckten Eduard Beaucamp und seine Frau, die ebenfalls Kunsthistorikerin ist, das Gemälde in den Räumen des Frankfurter Auktionshauses Arnold; es stand ungerahmt und verschmutzt in einem Kellerwinkel auf dem Boden. Auf der Versteigerungsliste wurde es für eine Kopie aus dem neunzehnten Jahrhundert gehalten und auf vierhundert Mark taxiert. Das Paar erkannte die außerordentliche Qualität des Gemäldes und ersteigerte es - für tausendfünfhundert Mark."

Außerdem kommentiert Niklas Maak den Kölner Kunstfälscherskandal. Renate Klett resümiert das Krakauer Theaterfestival. Die chinesischen Behörden wollen künftig keine englischen Wörter mehr in ihrer Sprache tolerieren, die die Reinheit des Chinesischen zersetzen, berichtet Mark Siemons.

Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung des "Fidelio" in München und Bücher, darunter Erzählungen von Sung Suk-je (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).