Heute in den Feuilletons

Im Angesicht totaler Sinnlosigkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2011. Der chinesische Autor Liao Yiwu emigriert nach Deutschland. In Spiegel Online ruft er die deutschen Intellektuellen auf, sich für chinesische Dissidenten einzusetzen. Der Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger benennt den Helden der Stunde: Nick Davies, der in einem Buch zuerst die Abhörskandale in der britischen Presse aufdeckte. Jeff Jarvis notiert: Nicht ein Internet-, sondern ein Presseunternehmen ist verantwortlich für eine der übelsten Datenschutzverletzungen der Geschichte.  In der FR kritisiert Richard J. Evans die Studie "Das Amt". In der FAZ feiert Clemens J. Setz  "The Pale King", David Foster Wallaces nachgelassenen Roman.

Spiegel Online, 08.07.2011

Der chinesische Autor Liao Yiwu, Autor von "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser" emigriert nach Deutschland: "Ich bin nicht mehr bereit, mich in China wie eine Geisel halten zu lassen." Im Interview mit Stefan Kuzmany mahnt er die deutschen Intellektuellen: "Deutschland hat eine Verantwortung, die aus seiner Geschichte resultiert: Erst die Nazi-Diktatur, dann die DDR-Zeit. Wenn die Ostdeutsche Merkel meint, ihren Schwerpunkt auf Wirtschaft setzen zu müssen, kann sie das tun. Aber die Intellektuellen sollten das Gewissen des Landes sein und ihre Stimme erheben."

Aus den Blogs, 08.07.2011

Rupert Murdoch schneidet für Felix Salmon in paidcontent.org in dem unglaublichen Skandal um die (jetzt vom Markt genommene) News of The World ziemlich schlecht ab: "For a man who's spent his entire life in the media business and understands it as well as anybody who's ever lived, Rupert Murdoch is quite astonishingly inept at crisis management... Instead, what we?ve seen from Murdoch and his top executives is lies, obfuscation, pushback, bluster, dissembling, and generally the unedifying spectacle of extremely rich and powerful people doing their very best to never be called to account."

Und Jeff Jarvis notiert trocken zu dem Skandal, dass die schlimmsten Verletzungen der Privatsphäre in den letzten Jahren nicht von irgendeiner Internetfirma begangen wurden, sondern einem Presseunternehmen: "Among the most deliberate and abhorrent mass violations of privacy committed in recent memory did not come as a result of technology, social services, databases, hackers, thieves, leakers, or governments. It was an act of a news organization, News Corp., which hacked into the phones of a reported 4,000 people, including not just celebrities but dead children and the families of the victims of terrorism and war. "

Hmmm, falls Sie jemals davon geträumt haben sollten, Beine wie ein flauschiges Kaninchen zu haben, ist dies das Kostüm Ihrer Wahl. Und dazu noch hundert Prozent Schwarzwaldware! Wir Perlentaucher warten noch auf die Fuchsstrümpfe. (Foto: Gregor Hohenberg für die Zeit)


Weitere Medien, 08.07.2011

Alan J. Rusbridger, Chefredakteur des Guardian, antwortet auf Leserfragen zum Abhörskandal der Zeitung News of the World. Auf die Frage, ob auch andere Zeitungen Telefone belauscht haben könnten, antwortet er: "I think the bulk of Nick Davies's evidence relates to the News of the World. He did write a more general chapter on the so-called dark arts of Fleet Street in his book, 'Flat Earth News'. To be frank, it's taken him all this time to land this one, so he's hardly had time to look elsewhere so far." Und überhaupt: "Nick Davies is the hero of the hour." Davies hatte in seinem Buch "Flat Earth News" (Auszug) zuerst über den Skandal berichtet.
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FR, 08.07.2011

Michael Hesse interviewt den Historiker Richard J. Evans, Autor des Standardwerks "Das Dritte Reich", zur Studie "Das Amt" und zur deutschen Debatte dazu. Auch er kritisiert das Buch - vor allem, weil es die englischsprachige Literatur zum Thema kaum berücksichtige und weil es die Rolle des Auswärtigen Amtes im Holocaust trotz allen Willens zur Kollaboration als zu bedeutend darstelle: "Das Außenamt hatte hierbei keine zentrale Stellung inne. Es ist ein Problem des Buches, dass die Rolle des Amts in manchen Bereichen als zu zentral dargestellt wird. Auch die These der Hauptverantwortung des Außenamtes für die Nürnberger Antisemitismus-Gesetze ist nicht haltbar." Hier Evans' ausführliche Rezension des Bandes als pdf-Dokument.

NZZ, 08.07.2011

Nikos Tzermias erzählt, wie der italienische Schuhkönig Diego Della Valle (Tod's) das Kolosseum, die Scala und Pompei vor dem Zerfall retten will. Besprochen wird die Ausstellung "Les Sujets de l'abstraction" im Genfer Musee Rath.

Ist die Demokratie in Ägypten schon wieder in Gefahr? Die Schriftstellerin und Kulturjournalistin Mansura Eseddin befürchtet es: Auf der einen Seite versuchten Muslimbrüder und Salafisten ihre undemokratischen Vorstellungen von einem Gottesstaat durchzusetzen, auf der anderen Seite entpuppe sich das Militär immer deutlicher als skrupelloser Bewahrer des alten Systems.

Welt, 08.07.2011

Bisher blieben die Berliner Opern mangels Glamour von den Scheinpremieren internationaler Kooperationen verschont, schreibt Manuael Brug, aber jetzt ist diese Sitte auch hierzulande angelangt: "Abgerundet wird das Zweitaufgusspaket .. an der Berliner Staatsoper im Schiller Theater in der nächsten Saison mit einem gut abgehangenen Händel-Oratorium aus der Jürgen-Flimm-Werkstatt, Zürcher Baujahr 2003. Damals produzierte sich darin freilich Cecilia Bartoli..."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr macht auf die demokratiehistorischen Verdienste der Schützenvereine aufmerksam, die im Moment ihr 150. Jubiläum feiern. Andreas Rosenfelder fragt sich, ob Angela Merkels Dissertation wohl ihren Empfehlungen zu einer populären Wissenschaftesprache entspricht. Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des indischen Filmemachers Mani Kaul. Marc Reichwein schreibt in seiner Feuilletonkolumne über die schwierige Kunst des Lobens. Wibke Gerking resümiert die Zürcher Festspiele. Und die Medienforscher Leif Kramp und Stephan Weichert eröffnen eine neue Serie über die Zukunft des Fernsehens und äußern sich selbst recht skeptisch über die Innovationskraft der Öffentlich-Rechtlichen.

TAZ, 08.07.2011

Michael Baute berichtet über das einwöchige Festival Bergmanveckan auf der Ostseeinsel Farö, das jedes Jahr an den schwedischen Regisseur Ingmar Bergman erinnert und auf dem es auch neue Filme aus Skandinavien zu sehen gibt. Ulrich Gutmair berichtet über den Beschluss im Haushaltsausschuss, wonach Kuppel und Fassade des zu bauenden Berliner Stadtschlosses privat finanziert werden müssen: "Wenn's dumm läuft, steht das Schloss also irgendwann ohne Kuppel und Fassade da."

Besprochen werden das Album "Lemming" der Kölner Band Band Locas in Love und das Buch "Exorbitant Privilege. The Rise and Fall of the Dollar" des US-Ökonom Barry Eichengreen, der darin trotz Grienchenland-Krise einen Bedeutungszuwachs des Euro prophezeit. Auf der Medienseite berichtet Rene Martens über den Tarifkonflikt in der deutschen Presse - Redakteure streitken gegen Gehaltskürzungen vor allem bei Anfängern, viel Berichterstattung findet sich hierüber in den anderen Zeitungen nicht.

Und Tom.

FAZ, 08.07.2011

Clemens Setz beschreibt fasziniert eine Figur aus David Foster Wallaces noch nicht übersetztem Nachlass-Romanfragment "The Pale King": den Steuerbeamten Shane Drinion, ein Mann, der sich nicht langweilen kann, der jedem Detail dieselbe Aufmerksamkeit schenkt. "Shane Drinions Gespräch mit Meredith Rand, so majestätisch, präzise und überraschend in seiner stillen Skurrilität es auch ist, erscheint als eine Art Testlauf für die verstörende, in ihren unkonzentriertesten Augenblicken durchaus an Selbsthilfesentenzen erinnernde These des Romans, nämlich dass ein menschliches Wesen, das durch nichts mehr gelangweilt werden kann, das "unboreable" ist, als einziges einen wirklichen Unterschied in der Welt bewirken kann. Drinion ist die Verkörperung dieser Erkenntnis (wenn es denn tatsächlich eine ist), der Crashtest-Dummy für das Programm des Romans: das Studium menschlicher Aufmerksamkeit und Konzentration im Angesicht totaler Sinnlosigkeit." (Links zu Leseproben findet man bei der Wikipedia)

In ihrer Kolumne plaudert Constanze Kurz aus dem Nähkästchen, bzw. der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft", der sie angehört: Weil bei der jüngsten Sitzung das politisch erwünschte Ergebnis zur Netzneutralität von den Sachverständigen partout nicht zu bekommen war, wurde einfach zur Geschäftsordnung gegriffen und die Entscheidung vertagt. Mehr dazu von Markus Beckedahl bei Netzpolitik.

Weitere Artikel: In den Niederlanden wird - nicht nur, aber auch - bei der staatlichen Kulturförderung gespart (mehr dazu in der Nachtkritik), ohne dass das groß jemanden aufregt, berichtet Dirk Schümer: "Weniger als die Hälfte aller Niederländer hat im vorigen Jahr überhaupt ein Museum besucht; gerade einmal acht Prozent waren in der Oper." Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmannsegg hält angesichts der verfahrenen Lage "freimütige Diskussionen" auch mit den Europa-Skeptikern für die Grundvoraussetzung dafür, dass das Projekt Europa vorankommt. Vom Auftakt des Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt mit einer Rede Urs Widmers berichtet Lena Bopp. Weil Österreich auf die jüngst gefundene Atlas-Figur des Adriaen de Vries Anspruch erhebt, kann die Statue, wie Gina Thomas berichtet, nun doch nicht bei Christie"s versteigert werden. Als richtige Entscheidung für "mündige Bürger" lobt Jochen Müller-Jung die Entscheidung des Bundestags zur Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Das Jazz Baltica Festival im schleswig-holsteinischen Salzau resümiert Ulrich Olshausen. Und heute morgen online: Thilo Sarrazins Kommentar zum Bericht des Sachverständigenrats Migration aus der gestrigen FAZ.

SZ, 08.07.2011

Angesichts des vielfachen Missbrauchs des Naumburger Meisters für nationalistische Anliegen war Willibald Sauerländer angesichts der großen Schau in Naumburg (Website) erst einmal skeptisch. Nach dem Besuch freilich ist diese Skepsis gewichen: "Nun jedoch durchwandert man beglückt eine Ausstellung, die im schönsten Sinne gelungen ist. Präsentation und Katalog haben die Werke des 'Naumburger Meisters' dem nationalen Rachen entrissen, in einen europäischen, vor allem aber einen frömmigkeitsgeschichtlichen Zusammenhang gerückt." 

Weitere Artikel: Über massive Eingriffe der Regimes in die Arbeit der Uni-Ableger der Sorbonne und der New York University in den Golfstaaten informiert Janek Schmidt. Catrin Lorch erfährt ihm Gespräch mit Ai Weiweis Galeristen Urs Meile, dass es dem Künstler vom "Spirit" her und auch gesundheitlich gut geht und dass er die Mitgliedschaft in der Berliner Akademie der Künste freudig annimmt. Christine schildert den heftigen Streit, der in Brasilien um ein Schulbuch tobt, das nur noch umgangssprachlich einfaches (und in den Ohren der Elite falsches) Brasilianisch lehrt. Im Gespräch mit Wolfgang Schreiber zeigt sich die scheidende Intendantin der Deutschen Oper Berlin Kirsten Harms zum Ende einer schwierigen Zeit eher zufrieden. Volker Breidecker hat die ambitionierten Frankfurter Poetikvorlesungen von Sibylle Lewitscharoff gerne gehört und freut sich erst recht auf ihren im Herbst erscheinenden Blumenberg-Roman. Von der Verleihung der Lions in Cannes für die besten Werbefilme berichtet Susanne Gmür. Bei der Wahl ihres neuen Adlerkopflogos (hier) hat sich, wie Stephan Speicher findet, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz "ästhetisch vergriffen".

Besprochen werden der Erinnerungs-Performanceprojekt-Abend "80*81 Findings, 2081" mit Georg Diez und Christopher Roth, die Ausstellung "John Chamberlain. Curvatureromance" in der Münchner Pinakothek der Moderne und jede Menge Neuerscheinungen zu Ludwig II.