Heute in den Feuilletons

Jede Veränderung ist Verschlechterung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2011. Krisen, Krachs und Katastrophen. Jetzt auch im Feuilleton. In der FAZ nehmen uns die Soziologen Jens Beckert und Wolfgang Streeck alle Hoffnung: Kein Lösungsansatz wird verfangen. Aufstände und Extremismus sind unausweichlich. In der NZZ warnt der Philosoph Michael Hampe: Die Ideologien des Marktes, aber auch der Natur sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Wir sind ohnhin zur Zivilisation ohne Zukunftsvision geworden, meint der Historiker Philipp Blom in der FR. Und die SZ mokiert sich über mögliche Alternativen!

Welt, 20.08.2011

Thomas Schmid lässt noch einmal Liao Yiwus Berliner Auftritt mit Herta Müller in sich nachklingen - und besonders Liaos Rezitation seines Gedichts "Massaker": "Sie kommt von ganz tief her, ist fremd und sie verliert auch in der anschließend vorgetragenen Übersetzung nicht ihre rätselhafte Wucht. Mehr als ein Graben trennt diesen freundlichen, bescheidenen, seiner selbst sich aber bewussten Menschen von diesem Berliner Kulturmilieu, das respektvoll erschüttert ist, um hernach in den lauen Sommerabend zu entgleiten."

Weitere Artikel: Manuel Brug hat in einem gnadenlos sich selbstvermarktenden Schloss Versailles Lully-Opern gesehen und gehört. Michael Pilz porträtiert den Popsänger Stephen Malkmus, der mit seiner Band Pavement in den Neunzigern eine Indie-Ikone war, aber unverdrossen weitermacht. Alan Posener geht mit Götz Aly essen. Bettina Stangneth fragt, warum der BND Akten des Nazitäters Alois Brunner gelöscht hat. Hans-Joachim Müller betrachtet Werke der Sammlung Ingvild Goetz, die zur Zeit an verschiedenen Münchner Stätten ausgestellt sind (zum Beispiel hier und hier). Tim Ackermann begutachtet den Neubau der Kunsthalle Bremen.

Für die Literarische Welt liest Urlich Weinzierl den Briefwechsel zwischen Marie-Louise von Mentesiczky und Elias Canetti. Ruth Klüger bespricht für ihre Kolumne Lorrie Moores Roman "Ein Tor zur Welt", der vor dem Hintergrund des 11. Septembers spielt. Besprochen werden außerdem Michael Kumpfmüllers Kafka-Roman "Die Herrlichkeit des Lebens", Johannes Willms' Talleyrand-Biografie und ein Fantomas-Roman von Pierre Souvestre und Marcel Allain.

Tagesspiegel, 20.08.2011

Malte Lehming stellte schon im gestrigen Tagesspiegel folgende wichtige Frage: "Warum ist es aufklärerisch, totalitäre Strukturen in der Hierarchie des Vatikan zu diagnostizieren, aber fremdenfeindlich, auf den Zusammenhang zwischen Islam und religiöser Intoleranz hinzuweisen?"
Stichwörter: Islam, Vatikan

FR/Berliner, 20.08.2011

Europa ist zur "Festung der ängstlich Begüterten" geworden, die jede Veränderung mit Händen und Füßen ablehnen, klagt der Historiker Philipp Blom. "Noch halb betäubt vom Scheitern der großen Ideologien und überfordert von den anstehenden Entscheidungen sind wir zur Zivilisation ohne Zukunftsvision geworden. Renten und Gesundheitssystem, Klima und Energieversorgung, internationale Machtgefüge, Überbevölkerung und Überschuldung: Jede Veränderung ist Verschlechterung."

Weitere Artikel: Seine Konzerteindrücke von den diesjährigen Salzburger Festspielen fasst Hans-Klaus Jungheinrich zusammen. Kai Posmik erinnert an den Diebstahl der Mona Lisa aus dem Louvre vor 100 Jahren.

Besprochen werden diverse Auftritte beim Berliner Tanz-im-August-Festival, Ausstellung mit Werken des isländischen Künstlers Ragnar Kjartansson im Frankfurter Kunstverein und Christoph Heins Roman "Weiskerns Nachlass".

Weitere Medien, 20.08.2011

(Via Achgut) Richtig beleidigt bespricht Andy Pöttgen im Vorwärts Götz Alys neues Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden?"- Aly wirft einigen Sozialdemokraten um 1900 ein zumindest zwiespältiges Verhältnis zum Antisemitismus vor, der manchen als "Sozialismus der dummen Kerls" galt: "Seinem Abschnitt über die Sozialdemokratie kommt die Zuspitzung nicht zugute. Durch seine unvollständige Darstellung vermittelt er den Eindruck, Antisemitismus sei in der SPD eine allgemein akzeptierte Denkweise. Dem Anspruch, den Deutschen unangenehme Wahrheiten aufzutischen, wird Aly so nicht gerecht. Vielmehr vermittelt er den Eindruck, durch nur scheinbar ehrliches Anpacken von 'heißen Eisen' auf reißenden Absatz zu hoffen."

TAZ, 20.08.2011

Thomas Groh setzt die Geschichte des Hollywood-Alien-Films mit der US-Realgeschichte ins Verhältnis - und zwar bis in die unmittelbare Gegenwart: "In 'Planet der Affen: Prevolutions' etwa sind es jedenfalls keine Überwältigungen von außen mehr, die auf eine Krise hinweisen, sondern Bilder von Straßenkämpfen und revolutionärer Auflehnung. Kurz nach dem weltweiten Kinostart fanden die Londoner Riots statt."

Weitere Artikel: Ulrike Herrmann unterhält sich mit der Ex-Fondsmanagerin Susan Leverman, die aus ethischen Gründen ihren Job aufgab, aber trotzdem immer noch Börsenratgeber schreibt. In den Notizen zum Kleist-Jahr sieht Jochen Schimmang den Autor als Mann des Kinos und großartiger einzelner Sätze. Felix Zimmermann porträtiert Rainer Seegers, der bei den Berliner Philharmonikern die Pauke schlägt und außerdem Schmetterlinge sammelt. Ruth Reichstein schreibt über die Todesfälle beim belgischen Pukkelpop-Festival. Aktuelle Zahlen zum deutschen Buchmarkt kommentiert Dirk Knipphals - so erfährt man unter anderem, dass das E-Book extrem langsam Marktanteile gewinnt.

Besprochen werden das neue Zomby-Album "Dedication" und Bücher, darunter Georg Stanitzeks große Studie zum deutschen Nachkriegsessayismus "Essay - BRD" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 20.08.2011

Unter dem Titel "Die Natur gibt es nicht" greift der Zürcher Philosoph Michael Hampe zwei seiner Auffassung nach gerade zirkulierende Ideologien an, die des Marktes - und eben die der Natur: "Lebensprobleme, wie die ökologische oder die Finanzkrise, haben mit konkreten Konstellationen von Personen und Sachen zu tun. Ihre Analyse verlangt gesteigerte Unterscheidungsfähigkeit. Wegen ihrer Abstraktheit taugen Ideologien nicht zur Lösung solcher Probleme. Ihre intensive Rezitation ist Ausdruck und Mitursache der Krisen, nicht Bedingung ihrer Bewältigung."

Weitere Artikel in Literatur und Kunst: Eduard Kaeser schreibt über die "Simulation von Organtätigkeiten" und die Selbsterkundung des menschlichen Geistes in der Hirnforschung. Die Anglsitin Elisabeth Bronfen legt einen Essay über die Nacht vor. Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer betrachtet Joachim Patinirs Gemälde "Überfahrt in die Unterwelt".

Im Feuilleton versucht Joachim Güntner in einem angenehm unaufgergten Artikel die Gründe für den Erfolg Charlotte Roches zu ermitteln. Und Renate Klett stellt den Schweizern das erfolgreiche Berliner Alternativtheater im Ballhaus Naunynstraße vor.

Besprochen werden die Ausstellung "Fetisch Auto - Ich fahre, also bin ich" im Basler Museum Tinguely und Bücher, darunter Cees Nootebooms "Schiffstagebuch".

SZ, 20.08.2011

Mit an Herablassung grenzender Sympathie im Einzelfall, mit Skepsis im Grundsätzlichen blickt Till Briegleb auf die Commons-Bewegung, die an Projekten gemeinsamer Nutzung und Allmendenbildung arbeitet: "Im Westen sind Gemeingüter-Projekte wie improvisierte Stadtgärten, selbstverwaltete Schwimmbäder, autarke Energieversorgung oder autonome Künstlerviertel letztlich vor allem schöne politische Hobbys zur Stärkung alternativer Lebensstile - was als solches absolut begrüßenswert ist, wenn sich die Betreiber nicht in den Glauben verirren, sie täten etwas anderes als der pluralistische Angebotskapitalismus auch."

Weitere Artikel: Warum Bildungsreformen immer scheitern, versucht Burkhard Müller zu erklären. Über den Zauber des verlorenen Meisterwerks - zum Beispiel der Mona Lisa - in der Kunst denkt der Historiker Bernd Roeck nach. In Khaled al-Khamissis Kairo-Kolumne erzählt ein Taxifahrer von einem Todesfall während der Revolution, der den Autor zu Tränen rührt. Auf die Gründung einer Anti-Berlusconi-Intellektuellenbewegung des Namens "Generation Q" weist Henning Klüver hin. Kia Vahland würdigt den Erweiterungsbau der Kunsthalle Bremen. Fritz Göttler schreibt knapp zum Tod des großen Filmemachers Raul Ruiz.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende ist Darin Strauss' "wahre" Geschichte "Mein halbes Leben" vorabgedruckt. Peter Wagner unterhält sich mit Neil Ansell, der lange als Eremit gelebt hat, über die "Stille".

Besprochen werden die Hollywood-Komödie "Crazy, Stupid, Love" (mehr) und Bücher, darunter Feridun Zaimoglus Ruhrpott-Krimi "Ruß" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 20.08.2011

Die Soziologen Jens Beckert und Wolfgang Streeck deklinieren alle Lösungsansätze für die gegenwärtige Finanzkrise durch und kommen zu dem Ergebnis, dass die Katastrophe nicht mehr zu vermeiden ist: "Der Vertrauensverlust ist mittlerweile überall angekommen. In der nächsten Stufe wird die Krise auf das soziale System übergreifen. Anzeichen finden sich bereits in steigender Arbeitslosigkeit, Auswanderung und Gewaltausbrüchen in besonders betroffenen Ländern."

Weitere Artikel: Marcus Jauer schreibt ein launiges Feuilleton über die Feuerteufel, die in Berlin Autos anstecken. Christian Geyer fühlte sich durch eine Auftritt Charlotte Roches bei Markus Lanz an die siebziger Jahre erinnert. Jürgen Dollase aß beim niederländischen Spitzenkoch Jonnie Boer aus Zwolle. Tilmann Lahme berichtet über eine Vergrößerung der Thomas-Mann-Weihestätten in Lübeck und die erste Einrichtung einer solchen in München ab 2014. Jürg Altwegg blättert durch den neu konzipierten Schweizer Monat (mehr hier). Olivier Guez' Reportage ist dem unheimlichen Aufstieg der Mormonen in immer mehr amerikanische Spitzenpositionen gewidmet. Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um eine neue Platte von Joss Stone, ein Hamburger Popprojekt namens "Nuclear Raped Fuck Bomb" und Max Regers Violinkonzert, eingespielt von Kolja Lessing.

Bilder und Zeiten präsentiert den Briefwechsel zwischen Canettis Geliebter Marie-Louise von Montesicky und Canetti über seine vor ihr zunächst verheimlichte zweite Ehe. Rose-Maria Gropp erzählt wie Jean-Leon Geromes Gemälde "Der Heilige Hieronymos" im Frankfurter Städel wiedergefunden und restauriert wurde. Auf der Literaturseite geht?s unter anderem um Michael Kumpfmüllers Kafka-Roman "Die Herrlichkeit des Lebens". Und Marco Schmidt unterhielt sich am Rande des Filmfestivals von Marrakesch mit Francis Ford Coppola.

Für die Frankfurter Anthologie liest Ingrid Bacher ein Gedicht Max Herrmann-Neißes - "Notturno:

Wind würgt den Wald. Wie totgeschlagen liegt
ein dunkler Teich(...)"