Heute in den Feuilletons

Handlungen, Empfindungen, Erkenntnisse

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2011. In der FR erklärt Marcia Pally, warum die Demokraten in den USA nicht siegen: Sie haben keine Eier. Slate meint: Google Plus ist im Grunde schon tot. Im Tagesspiegel ergründen Thea Dorn und  Richard Wagner die deutsche Seele. In der Welt schreibt Marek Dutschke, ja, der Sohn von Rudi, zum Jahrestag des Mauerfalls. Bernard-Henri Levys Libyen-Buch (und -Initiative) nötigt der SZ am Ende doch Respekt ab. Die FAZ plädiert dringend für eine Max-Ophüls-DVD-Ausgabe. Außerdem: Auf nach London, zur Leonardo-Aussstellung.

TAZ, 09.11.2011

Le Journal du Dimanche hat in der Türkei den Hacker ausfindig gemacht, der die Webseite von Charlie Hebdo lahmgelegt hat (mit dem Brandanschlag auf das Büro der Redaktion will er allerdings nichts zu tun haben), berichtet Rudolf Balmer: "Er nennt sich Ekber und sagt, er sei zwanzig Jahre alt und stamme aus Rize wie die Familie von Premierminister Recep Tayyip Erdogan, den er sehr bewundere. Ekber ist Student an der Universität Isik, wo er sich zum Informatikingenieur ausbilden lässt. Natürlich hatte er bis dahin noch nie von Charlie Hebdo gehört, aber als er in der türkischen Boulevardzeitung Akam die Schlagzeile 'Maßlose Respektlosigkeit gegenüber dem Propheten Mohammed' las, beschloss er zu reagieren: 'Dieser Publikation musste die Antwort erteilt werden, die sie für solche Dummheiten verdiente.'"

Weiteres: Alle 122 Ausgaben der Literaturzeitschrift Neue Rundschau seit 1890 sind jetzt online zugänglich. Ein Schatz, freut sich Dirk Knipphals, allerdings kein ganz billiger: 98 Euro kostet das Jahresabo.

Besprochen werden Roland Emmerichs Shakespearefilm "Anonymus" und Band 7 der Dokumentationsreihe zur "Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden" mit dem Schwerpunkt Sowjetunion (Leseprobe, zum Buch gibt es auch ein Interview mit Co-Herausgeber Dieter Pohl).

Und Tom.

Welt, 09.11.2011

Ein Akt der historischen Versöhnung? Zum Jahrestag des Mauerfalls schreibt auf der Forumsseite Marek Dutschke, ja, der Sohn von Rudi, zusammen mit seinem Kommilitonen Johannes Staemmler, zum Jahrestag des Mauerfalls: "Die Zeit ist gekommen, eine neue Wende zu vollziehen. Die Deutungshoheit und Meinungsmache muss jetzt von jüngeren Generationen übernommen werden."

Im Feuilleton bespricht Hanns-Georg Rodek Roland Emmerichs Shakespearefilm "Anonymus". Johnny Erling berichtet, dass die Chinesen schon umgerechnet 700.000 Euro für Ai Weiwei gespendet haben - ein Drittel der Summe, die er als Steuernachforderung zahlen soll. In seiner Kolumne "J'accuse" wendet sich Alan Posener gegen Bonuspunkte auf Kredit- und Kundenkarten und gegen diese insgesamt. Josef Engels resümiert das Berliner Jazzfest, bei dem immer jüngere Musiker immer älteren Zuhörern gegenüber standen.

FR/Berliner, 09.11.2011

Obama und die Demokraten werden die nächsten Präsidentschaftswahlen nicht gewinnen. Zu weich, zu schneewittchenhaft, meint Marcia Pally. "Vor einem Jahrhundert waren sie noch richtig gute Kämpfer. Sie waren genauso machtversessen und ausgebufft wie die Republikaner. Seit den 1960ern aber strömten vor allem die politisch korrekten, friedvollen 68er in die Partei, und denen fehlte jeder Killerinstinkt".

Weiteres: Birgit Walter freut sich, dass Berlin den Hitler-Attentäter Georg Elser endlich mit einem Denkmal würdigt - das Denkmal selbst findet sie allerdings eher misslungen. Andreas Herberg-Rothe plädiert für mehr Marktwirtschaft statt Kapitalismus.

Besprochen werden einige lokale Ereignisse und Roland Emmerichs Film "Anonymus".

Aus den Blogs, 09.11.2011

Gestern hat Google Plus endlich die langerwarteten Unternehmensseiten eröffnet (hier die Perlentaucher-Seite). Ob's noch hilft? Google Plus ist zwar schnell gewachsen, aber das ist angesichts der Marketingmacht der Konzerns kein Wunder, meint Farhad Manjoo in Slate: "The real test of Google's social network is what people do after they join. As far as anyone can tell, they aren't doing a whole lot. Traffic-analysis firms have consistently reported Google+'s traffic to be declining from its early peak."

(Via Openculture) Cory Doctorow hat seine Essaysammlung "Content" mit dem interessanten Konvertierungsprogramm Sisu in verschiedene E-Book-Formate transferiert. Hier darf man sie kostenlos herunterladen.

Bach visualisiert (alle Erklärungen dazu gibt es bei openculture):



NZZ, 09.11.2011

Marion Löhndorf besucht die imposante Gerhard-Richter-Retrospektive in der Londoner Tate Modern. Sieglinde Geisel feiert das 25-jährige Bestehen des Berliner Literaturhauses. Viel - fast zu viel - Videokunst hat Samuel Herzog auf der Kunstbiennale in Brasiliens Musterstadt Curitiba gesehen. Besprochen werden Jürgen Oelkers' Studie zur Reformpädagogik "Eros und Herrschaft" und der dritte Band von Haruki Murakamis Großroman "1Q84" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 09.11.2011

Im Interview mit Peter von Becker sprechen Thea Dorn und Richard Wagner über ihr Buch "Die deutsche Seele", den 9. November und den neuen Willen zur Kulturnation. Dorn: "Ich möchte schon, dass ein Land in seinem Innersten mehr ist als die Summe seiner Steuerzahler und Transferleistungsempfänger."

SZ, 09.11.2011

Bei Lektüre von Bernard-Henri Levys Buch über den von ihm mit angezettelten Libyenkrieg "La Guerre sans l'aimer" ist Stefan Ulrich schon deutlich geworden, dass die Waffenbruderschaft des Philosophenfeldherrn mit Präsident Sarkozy nur eine strategische war: "Die französische Regierung behauptet, sie habe den Rebellen nur einmal, Ende Mai, in geringem Umfang Waffen geliefert. Levy schreibt, sie habe bei verschiedenen Gelegenheiten reichlich für Nachschub gesorgt. Er erzählt, wie er am 16. April gegen Mitternacht mit General Junes, dem Militärchef der Rebellen, heimlich in den Elysee-Palast kam, um Sarkozy zu treffen. Auf die Bitte des Generals um Waffen habe der Präsident geantwortet: 'Wir helfen Euch bereits. Wir liefern über Katar.'"

Spektakulär sei die große Leonardo-da-Vinci-Ausstellung, die gerade in der National Gallery in London eröffnet wurde, findet Kia Vahland und freut sich ganz besonders darüber, dass für einmal wieder der überschäumende Künstler vor den Wissenschaftspionier da Vinci trete: "Zu erleben ist ein irrender, probierender und sich überfordernder Zeichner und Maler, der kaum eine Arbeit zu Ende brachte vor lauter Ansprüchen und Einfällen. Einer, der gar nicht erst so tut, als wäre jeder Strich von vornherein großartig, und der ständig damit hadert, wie begrenzt eine Bildfläche und die Aufnahmefähigkeit der Menschen sind, denkt er doch immer komplexer, will noch mehr Handlungen, Empfindungen, Erkenntnisse ausdrücken."

Weiteres: Bei der vom Tölzer Knabenchor gesungenen großen Messe von Orazio Benevoli "diffundiert und transzendiert" Michael Stallknecht "sich in den Raum hinein". Zwar freut sich Stephan Speicher schon, dass der glücklose Hitler-Attentäter Georg Elser mit einer Profil-Skulptur in der Berliner Wilhelmstraße geehrt wird, doch etwas weniger reklamehaft hätte sie ihm glatt noch besser gefallen. Ira Mazzoni hat den Nachruf auf den Denkmalschützer Gottfried Kiesow verfasst. Kurz gemeldet wird, dass die Mietskaserne 1520 Sedgwick Avenue in der Bronx und damit die Geburtsstätte des Hip-Hop gerettet wurde.

Besprochen werden neue Jazz-CDs, Roland Emmerichs Shakespeare-Film "Anonymus", Shakespeare- und Arthur-Miller-Aufführungen am Schauspielhaus Bochum und Bücher, darunter "Never Get Out of This World Alive", der Debütroman des amerikanischen Countrysängers Steve Earle (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 09.11.2011

Ohne Anlass und darum um so engagierter plädiert Verena Lueken für eine DVD-Ausgabe der Filme Max Ophüls", die bisher nur höchst lückenhaft vorliegen. Besonders fehlen seine deutschen Filme aus der Zeit vor der Emigration. Nebenbei zitiert Lueken Ophüls" erstes Kinoerlebnis mit vier Jahren: "Ein dicker Mann mit wilden Augen war sehr aufgeregt. Er zappelte mit den Armen in der Luft, er schlug sich gegen die Brust. Er rannte auf mich zu, wie wenn er mir was tun wollte. Ich hielt mich an meiner Großmutter fest. Er tat aber nichts. Er hielt inne. Er schaute nach unten. Er sah auf einem Schreibtisch ein riesengroßes Tintenglas. Er soff es aus. Er lief von unten her langsam blau an. Er erschrak fürchterlich. Wie sein Gesicht ganz blau wurde, wurde es hell im Zelt - und der Film war zu Ende."

Weitere Artikel: Gina Thomas feiert die große Leonardo-Ausstellung in der Londoner National Gallery, in der die Hälfte der etwa 15 bekannten Gemälde Leonardos gezeigt werden, unter anderem beide Versionen der "Felsgrottenmadonna". Dieter Bartetzko schreibt zum Tod des Denkmalschützers Gottfried Kiesow.

Besprochen werden David Cronenbergs Film "Eine dunkle Begierde" und Bücher, darunter Andreas Höfeles nur auf englisch vorliegende Studie "Stage, Stake, and Scaffold: Humans and Animals in Shakespeare"s Theatre" (mehr hier).