Heute in den Feuilletons

Moralisches Unterfutter

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2012. Die Welt begibt sich mit und gegen Judith Butler auf die Suche nach multiplen Identitäten in Israel. Der sueddeutsche.de-Chefredakteur Stefan Plöchinger erzählt in seinem Blog, wie deutsche Zeitungswebsites, wenn sie nicht gerade nach Leistungsschutzrechten jammern, ihre Google-Statistik frisieren. Bei den Berichten aus Venedig fällt auf, dass Terrence Malick nun gar nicht mehr angesagt ist. Statt dessen wird Paul Thomas Anderson gefeiert, dessen Film über Ron Hubbard zwar nicht Scientology-kritisch, dafür aber ein Meisterwerk sei.

Welt, 03.09.2012

Soso, ausgerechnet Israel findet Judith Butler boykottwürdig. Marko Martin findet das nun wieder ziemlich dumm, denn es ist vor allem Israel, in dem Judith Butlers Thesen gelebt werden, zum Beispiel von Ostjerusalemer Palästinenser mit israelischer ID und israelischen Arabern "mit Pass und Wahlrecht", die sich ihre multiplen Identitäten auch ohne Butler zusammenbasteln: "Für die FreundInnen der Queer-Theorie könnte man vielleicht noch den Tel Aviver Paradise-Club erwähnen, in dem uns ein schwedisch-jüdisches Transsexuellen-Shemale namens Eden (blauäugig und blond, die Brüste von einem Schönheitschirurgen im kolumbianischen Cali entwickelt) voller Rührung davon erzählte, was ihrer ausgefallenen Existenz die letztliche Sicherheit gibt - der israelische Pass."

Der "Arte povera"-Künstler Michelangelo Pistoletto erklärt Hans-Joachim Müller im Interview, warum italienische Künstler aus allen Fachrichtungen in den sechziger Jahren aus ihren Ateliers auf die Straße gingen: "Wir nannten uns 'Der Zoo'. Die Idee war, dass die Tiere aus ihren Käfigen ausbrechen, die verschiedenen künstlerischen Disziplinen ihre angestammten Institutionen verlassen. Käfig, das war das Symbol für die traditionelle Weise, ein dogmatisches System am Leben zu halten. Menschen leben in Käfigen. Religionen sind Käfige. Wir wollte den Käfig der Kunst aufschließen, indem wir an anderen Orten Kunst machten und zeigten."

Weitere Artikel: Frank Kaspar berichtet von einer Berliner Konferenz über Schwarmtechniken. Dankwart Guratzsch freut sich über das "Darwineum" im Rostocker Zoo, das am Freitag eingeweiht wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Mythos Olympia" im Berliner Gropius-Bau, Rudolf Thomes Film "Ins Blaue", Jan Bosses Inszenierung von Tschechows "Platonow" im Hamburger Thalia-Theater und erste Konzerte Christian Thielemanns in Dresden.

Auf der Reportageseite erzählt Annette Dowideit, wie leicht Grundschullehrer heute ein ADHS-Kind fürs Leben abstempeln können, indem sie es für "förderbedürftig" erklären: "Es fängt an mit Zeugnissen, auf denen steht, das Kind sei 'bedürfnisgerecht' unterrichtet worden, also weniger kompliziert als andere. Dem Kind bleiben Türen verschlossen: Die Schullaufbahn im Gymnasium wird unmöglich; damit erübrigt sich auch ein Studium."

Aus den Blogs, 03.09.2012

Stefan Plöchinger, Chefredakteur von sueddeutsche.de, schildert in seinem Blog sehr kenntnisreich, mit welchen miesen Tricks Nachrichtenseiten ihre Statistik gegenüber Google, aber auch den für Werbung wichtigen Diensten IVW und Agof aufbessern: "Was mich an der ganzen Sache am meisten ärgert, ist, dass viele Tricks nicht mal in der Fachwelt Thema sind - diese allerdings jeden Monat die IVW- und AGOF-Rankings als überzeugend, absolut und unangreifbar wahrnimmt. Dabei könnte man gerade jetzt Fragen stellen. Wie passen die abgefeimteren Google-Optimierungen zum Beispiel zu einem Leistungsschutzrecht, bei dem einige der besonders trickreichen Reichweitengenerierer Wortführer sind?"

(via open culture) Und hier liest - oder besser: singt - Dylan Thomas sein Gedicht "Do Not Go Gentle into That Good Night":


NZZ, 03.09.2012

Joachim Güntner hat die Ausstellung über den Gulag besucht, die von der Organisation Memorial zusammengestellt wurde und nach Neuhardenberg nun im Schiller-Museum in Weimar zu sehen ist. Sehr eindrücklich zeigte sie ihm, was es heißt, im Lager den Kampf ums Überleben zu führen: "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, und allein die Gemeinsamkeit des Leidens stiftet noch keine Kameradschaft. Mit Schaudern liest man von Leichenfleddereien, bei denen die Habe Sterbender gierig aufgeteilt wurde, von Prügel-Empfängen für Neuankömmlinge, von der Schutzlosigkeit der Häftlinge gegenüber den Übergriffen des Wachpersonals. Ein fadenscheiniges, vielfach geflicktes Sommerkleid weckt die Frage, wie denn die Trägerin damit ihren Aufenthalt in drei Gefängnissen zu überstehen vermochte."

Adam Krzeminski erklärt gewohnt kenntnisreich, warum sich der Dialog der polnischen Kirche mit der russischen Orthodoxie schwieriger gestaltet als einst mit den deutschen Bischöfen: "Die Lasten der Vergangenheit sind komplizierter, die Zukunftsperspektiven nebulös, und es fehlt an kirchenpolitischen Gemeinsamkeiten."

Außerdem erzählt Manuel Gogos von seiner Reise in das berühmte griechische Bergdorf Kazaviti auf Thassos. Peter Hagmann hat in Luzern zwei Abende von Maurizio Pollinis Konzertreihe "Perspectives" gehört.

Weitere Medien, 03.09.2012

Paul Thomas Andersons Film über den Scientology-Gründer Hubbard, "The Master" ist zwar gar nicht kritisch mit Scientology, Anderson hat ihn auch erst Tom Cruise gezeigt, bevor er ihn herausbrachte, aber das ist irgendwie alles nicht so schlimm, findet Anke Westphal in der FR: "Ja, Scientology kann 'The Master' ruhig ignorieren. Und irgendwie ist das auch gut so, denn Kino ist mehr als nur eine Waffe. In diesem Fall ist es ein Rausch exzellenter Bilder - und eine Tour de Force für zwei der besten Schauspieler der Welt" (nämlich Philip Seymour Hoffman und Joaquin Phoenix ).

SZ, 03.09.2012

Der französische Bücherherbst zeigt eine Tendenz zum "Schlagzeilen-Roman", der jüngere, skandalträchtige Ereignisse literarisch aufgreift, beobachtet Joseph Hanimann und stellt einige Titel ausführlicher vor. Von Widerstand gegen diesen Trend weiß er auch zu berichten: "Literarischer Populismus! - schimpfte schon vor ein paar Monaten der Romancier Charles Dantzig ...: Die Fiktion verkomme zur Reportage, das Formenspiel zum öden Bericht, das ästhetisch Überbordende zum moralischen Unterfutter - je perverser, desto besser." Eine Dokumentation dieser bereits im Frühjahr geführten Debatte findet sich hier.

Weitere Artikel: Bei den neuen, beim Filmfest in Venedig gezeigten Filmen von Peter Thomas Anderson (mehr) und Terrence Malick (mehr) befindet sich Tobias Kniebe sichtlich im Kinoglück. Michael Moorstedt berichtet, dass die Online-Fern-Uni Khan Academy fachliche Kritik auf sich gezogen hat (mehr dazu hier). Christian Kohl informiert über Pläne, das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald als Weltkulturerbe einstufen zu lassen (mehr dazu hier). Christoph Markschies schreibt den Nachruf auf den Theologen Peter C. Bloth, Andrian Kreye den auf den Poptexter Hal David, der auch an diesem Evergreen beteiligt war:



Besprochen werden neue DVD-Veröffentlichungen, eine Schostakowitsch-Einspielung des Los Angeles Philharmonic Orchestra, Stephan Kimmigs "Ödipus Stadt" am Deutschen Theater in Berlin, die Rekonstruktion der historischen Sonderbund-Ausstellung von 1912 im Wallraf-Richartz-Museum in Köln (nach der sich Georg Imdahl fragt, "ob in hundert Jahren eine Ausstellung unserer Tage noch einmal wiederholt und dadurch nobilitiert wird") und Bücher, darunter A.L. Kennedys Roman "Das Blaue Buch" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 03.09.2012

Für Thilo Bode, Chef der Organisation Foodwatch, rettet Bundeskanzlerin Merkel den Euro auf Geheiß der deutschen Industrie und hat überdies im Parlament keine ernsthafte Opposition: "Auch stört es die Industrie keineswegs, dass die Importländer der Eurozone die deutschen Exporte gar nicht mehr bezahlen können. Vielmehr haftet die Deutsche Bundesbank mit völlig unzureichend besicherten Krediten, so dass letztlich der Steuerzahler die deutsche Exportindustrie subventioniert."

Weitere Artikel: Dietmar Dath hat in Venedig gleich drei religiöse Filme gesehen - zwei sind grauenhaft (unter anderem, eiskalt abserviert, der neue Terreck Malick mit "Supermarkt-Klassik von der Potpourri-CD für 9 Euro" und "Alten-, Kranken- und Armenfotografie aus dem Caritas-Wandkalender") einer macht ihm die Faszination des Scientology-Gründers in Gestalt von Philipp Seymour Hoffman verständlich - in Paul Thomas Andersons "The Master". Eleonore Büning berichtet vom "Hochzeits"-Konzert der Dresdner Staatskapelle unter ihrem frisch gebackenen Chef Christian Thielemann, die Bruckners Siebte köstlich ausziseliert, aber leider ohne formalen Zusammenhalt präsentierten.

Besprochen werden außerdem Stephan Kimmigs Spektakel "Ödipus Stadt" nach sämtlichen antiken Dichtern , am Deutschen Theater Berlin, die Ausstellung "Heilige, Künstler Narren" in der Kah der BRD Bonn, "Platonow" am Hamburger Thalia Theater und Bücher, darunter eine Anthologie mit schottischer Lyrik (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).