Heute in den Feuilletons

Unter den giftigen Farben von Erde und Schimmel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2013. Der FAZ graut es vor dem Deutschlandbild der Louvre-Kuratoren. In der SZ zweifelt Architekt Hans Kollhoff am Verstand seiner Kollegen. Die Paywall bei Zeitungen ist auch eine Einschränkung der gesellschaftlichen Debatte, findet Thomas Wiegold auf Carta. Die NZZ gratuliert der Lettre International zum 25. Geburtstag.

NZZ, 09.04.2013

Joachim Güntner gratuliert der Lettre sehr herzlich zum 25-jährigen Bestehen, die früher ihrem Standpunkt in Berlin einen klaren und weiten Blick auf Europa verdankte. Und heute? "Dem Getue um die ach so kreative Spree-Metropole vermag Frank Berberich wenig abzugewinnen. 'Berlin war vor 1989 die politischste Stadt Deutschlands, heute ist es die unpolitischste, ein Ort, wo die Leute so deprimiert sind, dass sie nicht einmal die Sprache für ihre eigenen Probleme finden', meint der Lettre-Herausgeber. Soll es uns da wundern, dass die deutschsprachige Ausgabe von Lettre am eifrigsten in Basel und Zürich gelesen wird, vor Frankfurt am Main?"

Jürgen Kahl berichtet, wie Taiwans reichster Unternehmer Tsai Eng-meng die Medien des Landes aufkauft, um sie auf einen chinafreundlichen Kurs zu bringen: "Nach dem Kauf von zwei Fernsehsendern und der chinesischsprachigen China Times, einer der auflagenstärksten überregionalen Tageszeitungen, sicherte sich eine neu gegründete und von einem seiner Söhne geführte Tochterfirma zwei Jahre später für 2,4 Milliarden Dollar auch den Zugriff auf China Systems Network (CNS), den größten Kabelfernsehbetreiber der Insel."

Weiteres: Thomas Kadelbach berichtet von phililogischen Schlüsselfunden in Vergils Aeneis. Besprochen werden Schostakowitschs Oper "Lady Macbeth von Mzensk" in Zürich, Elizabeth Taylors Roman "Versteckspiel" und Michael Köhlmeiers erster Gedichtband "Der Liebhaber bald nach dem Frühstück" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 09.04.2013



(via BoingBoing) Für ganz kleine Apartments hat die ukrainische Designerin Julia Kononenko ein Sofa entworfen, das sich bei Bedarf in einen Tisch mit Stühlen umwandeln lässt. Sieht gut aus, nur allzu lange Beine sollte man nicht haben.

Die Paywall bei vielen Zeitungen hat einen Nebeneffekt für die öffentliche Debatte, meint Thomas Wiegold auf Carta. Meinungsartikel von externen Expertern oder Intellektuellen, etwa in der FAZ, haben nicht mehr das einstige Gewicht: "Was auf diesen Verbreitungsweg beschränkt bleibt, bleibt auch in der Diskussion auf den Leserkreis der FAZ beschränkt. Sozusagen: Nur wer katholisch ist, kann über den Papst mitdiskutieren. Die Beschränkung auf die gedruckte Zeitung und das Verstecken des Gastbeitrags hinter einer Paywall sorgt nämlich vor allem für eines: Dieser Text wird - und bleibt - der öffentlichen Debatte entzogen."

TAZ, 09.04.2013

Dominic Johnson schreibt auf den vorderen Seiten den Nachruf auf Margaret Thatcher, die den Kampf gegen die alten Mächten auf der Linken wie der Rechten nur gewinnen konnte, weil alle sie unterschätzen: "Kaum jemand nahm die 49-Jährige ernst, als sie 1975, nach dem Fall der konservativen Regierung von Ted Heath, Oppositionsführerin wurde. Sie war eine Frau - unerhört. Sie war eine Krämerstochter - lächerlich. Sie war Naturwissenschaftlerin - absurd. Politisch galt sie als Null. Damals, Mitte der 1970er Jahre, waren die Konservativen ausgeblutet, ein Verein Ewiggestriger, von Empire-Nostalgikern, der reaktionären Elite aus Grafen, Generälen, Geheimdienstlern und Großindustriellen."

In der Kultur dröselt Rudolf Balmer den Pariser Filz auf. Daniel Schreiber fragt sich in seiner Kolumne, wieviel Wein wohl gut für ihn ist. Besprochen werden das Album "Mars" des New Yorker Musikers Sinkane, Georg Kleins Essaysammlung "Schund und Segen", Mana Neyestanis autobiografischer Comic "Ein iranischer Albtraum" und René Burris Fotoband "Impossible Reminiscences" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 09.04.2013

In der Abendzeitung schimpft Joseph von Westphalen aufs OLG München: "Kein Wunder eigentlich, dies eiskalte Platzanweiserdenken. Staatsanwälte und Richter werden nur die Juristen mit den besten Noten. Das sind nicht immer die Klügsten. Examen mit eins kriegen auch vom Ehrgeiz zerfressene Streber hin, taktlose und politisch verblödete Gefühlskrüppel. Sturheit ist nicht strafbar, aber zum Kotzen."

Welt, 09.04.2013

Hannes Stein staunt, liest und dankt James Salter für seinen neuen Roman "All that is". Enis Berberoglu, Chefredakteur von Hürriyet, erklärt zum NSU-Prozess: "Die Solidarität der deutschen Presse bedeutet mir gerade bei dieser Sache mehr als unsere persönliche Anwesenheit im Gerichtssaal." Hanns-Georg Rodek gratuliert Jean-Paul Belmondo zum Achtzigsten. Besprochen wird John von Düffels neues Stück "Alle sechzehn Jahre im Sommer" in der Inszenierung von Tobias Wellemeyer am Hans-Otto-Theater Potsdam.

FAZ, 09.04.2013

Kein Dada, kein Bauhaus. Helligkeit und Witz sind der Ausstellung "De l'Allemagne, 1800 - 1939 - De Friedrich à Beckmann" im Louvre gründlich ausgetrieben, und die deutschen Kuratoren haben sich von den französischen Kollegen, die entschlossen an ihrem altbackenen Deutschlandbild festhalten, ausspielen lassen, diagnostiziert Niklas Maak: "Wer die Katalogbeiträge nicht liest und nur der Beschilderung der Schau folgt, gewinnt den Eindruck, dass die Deutschen sich nach einem kurzen Moment der Faszination für die Antike in ihre Wälder zurückzogen und dort, im grün vermoosten Dickicht, unter den giftigen Farben von Erde und Schimmel, gegen 1900 verrückt wurden, bevor sie schließlich im Nationalsozialismus wieder herausgekommen sind." (Bild: Arnold Böcklins "Pan im Schilf")

Weitere Artikel: Gina Thomas erinnert daran, dass kaum eine Figur einen derartigen Hass des linken (und rechten) Establishments auf sich zog wie Margaret Thatcher. Jürg Altwegg berichtet über einen Plagiatsskandal um den Pariser Großrabbiner Gilles Bernheim, der unter anderem bei Jean-François Lyotard und Elie Wiesel abgeschrieben haben soll. Peter Walther erzählt eine vergessene Episode des Hauses Suhrkamp, das 1944 und 45 in Potsdam residierte. Die Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld spricht sich gegen eine Regulierung der Management-Gehälter durch die Politik aus. Karen Krüger berichtet, dass auch Proteste nichts gegen den Abriss des ältesten Kinos in Istanbul, Emek, vermögen (mehr hier im Tagesspiegel). Und Jan Brachmann besichtigt einen Pedalflügel, der ähnlich wie eine Orgel auch eine Tastatur für die Füße bereithält. Außerdem unterhält sich Jonathan Fischer mit dem Soulsänger Charles Bradley.

Auf der Medienseite schimpft Michael Hanfeld im Namen des bedrängten "Qualitätsjournalismus" über die Gerüchte um den möglichen Abgang der Spiegel-Chefredakteure.

Besprochen werden Karl Otto Mühls Theaterstück "Rheinpromenade" am Schauspiel Köln, die Ausstellung "Kinderzeit" im Oldenburger Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte und Bücher, darunter Erika Fatlands Band "Die Tage danach" über das Massaker von Utoya (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 09.04.2013

Architekt Hans Kollhoff zweifelt am Verstand seiner Berufskollegen, die offenbar in Erwägung ziehen, Heinz Mohls Erweiterungsbau der Kunsthalle Karlsruhe abzureißen (mehr dazu hier). Ein Vorhaben, an dessen Redlichkeit er erhebliche Zweifel anmeldet, "ein Ansinnen maßloser Selbstüberschätzung. ... Wie weit der Entwurf von Heinz Mohl diese unsere Zeit hinter sich lässt, ahnt man erst beim Vergleich des in den Sechzigerjahren von der Karlsruher Bauverwaltung vorgelegten Entwurfes mit den konkurrierenden Beiträgen im öffentlichen Vergabeverfahren: Alles Kisten."

Weiteres: China zürnt Jackie Chan, der seine Sammlung historischer Sandelholz-Häuser einer Universität in Singapur überlassen will, meldet Tim Neshitov. Volker Breidecker gratuliert dem Fotografen René Burri, Fritz Göttler Jean-Paul Belmondo zum jeweils 80. Geburtstag. Knapp gemeldet wird außerdem, dass der Dokumentarfilmregisseur Les Blank gestorben ist (mehr hier). Werner Herzog aß für ihn einst seinen Schuh, mehr Ausschnitte aus seinen Filmen hier.



Besprochen werden eine Ausstellung über die Kulturgeschichte der Handtasche im Bayerischen Nationalmuseum in München, eine Ausstellung mit Arbeiten von Tony, Kiki und Seton Smith im Kunstmuseum Liechtenstein und Bücher, darunter Thomas Jonigks Roman "Melodram" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).