Heute in den Feuilletons

Sprung ins Absurde

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.12.2013. Die NZZ beschreibt, wie aus dem Gesinnungsterror von einst ein Verhaltensterror geworden ist. Die FAZ erkundet die Pläne Nadeschda Tolokonnikowas und Maria Aljochinas, die auch nach ihrer Amnestierung nicht brav werden. Die taz macht Schluss mit der Kritik am Konsum. Der Standard erinnert mit Kurt Flasch pünktlich daran, dass auch Christen kaum glauben, was sie glauben zu glauben. Der Perlentaucher aber glaubt an den Weihnachtsmann und wünscht all seinen Lesern freudige Feiertage!

NZZ, 24.12.2013

In einem klugen Essay erhebt Martin Meyer Einspruch gegen die ins Unermessliche angewachsenen Aktivitäten der staatlichen und wirtschaftlichen Überwachungsindustrie, die sich nicht in den Courant Normal einordnen ließen: "Es ist eine Binsenwahrheit, dass für unsere Epoche der Krieg gegen den Terror am Anfang solcher Aktivitäten stand. Es bleibt umgekehrt mehr als zweifelhaft, ob der Zugriff auf Hunderte von Millionen privater Telefone und Computer tatsächlich substanziell zur Verhinderung von Anschlägen führt. Solche Asymmetrie aber ist auch deshalb prekär, weil sie langsam und zusehends schneller ein Klima des Verdachts produziert, das Kulturen und Zivilisationen des bisher frei gehaltenen Selbstbewusstseins einem Heer von 'Experten' unterwirft, die ohne große Rekurs-Chancen der mindestens virtuell gedrückten Subjekte darüber entscheiden, wer sich wie, wo, warum und mit welchen Absichten diesem Verdacht aussetzt. Aus dem Gesinnungsterror von einst ist ein Verhaltensterror geworden."

Weiteres: Der Theologe Samuel Vollenweider beschreibt Weihnachten als einen Moment intensiver Erfahrung, wie man es nur bei seltenen "Widerfahrnisse" oder großen weltpolitischen Ereignissen erlebe. Nico Bleutge liest Ernst Haffners Milieu-Roman "Blutsbrüder" von 1932. Michael Wenk gratuliert Hanna Schygulla zum Siebzigsten.

TAZ, 24.12.2013

Die taz widmet ihre heutige Ausgabe dem Feiern mit Menschen.

"Eine Gesellschaft ohne Feiern und ohne herausgehobene, gemeinsam erlebte Ereignisse ist mir als Kulturwissenschaftler nicht bekannt und auch nicht vorstellbar", sagt Kaspar Maase in einem sehr entspannten Interview mit Jan Feddersen und warnt vor der alten elitären Kritik am Konsum der "niederen Schichten": "Es gibt nicht wenige in diesem Lande, die uns beide auch dort einsortieren würden. Und ob der Konsum im Hartz-IV-Bereich wirklich 'stark' genannt werden kann, da zweifle ich. Gerade vor dem großen Fest des Schenkens ist mir der Hinweis wichtig, dass wir da ja weitgehend sozialen Konventionen und Erwartungen folgen. Und wir tun gut daran - weil der Gabentausch, auch der materielle, eine der Kommunikationsformen ist, die unser persönliches wie familiales Beziehungsnetz immer wieder stärkt und bestätigt. Das kann, über die Pflichterfüllung hinaus, auch das Herz erheben - solange es Menschen gibt, an deren Freude wir uns erfreuen."

Außerdem in dieser Weihnachstausgabe: Michael Rutschky erinnert sich an daran, wie Nelson Mandela den Deutschen beinahe das Tanzen beigebracht hätte. Jürn Kruse besucht das Majak, den Schwulenclub an der Strandpromenade von Sotschi. Nina Apin erzählt vom neunzigjährigen Onkel Alfred, der seinen Kinder das Erbe verhagelte und alles Geld selbst mit seiner dritten Frau ausgab.

Weitere Medien, 24.12.2013

Wenn Kurt Flasch in seinem Buch "Warum ich kein Christ bin" eines klar gemacht hat, so meint Bert Rebhandl in einem besinnlichen Artikel für den Standard, dann dasss auch Christen kaum noch "glauben": "Die Bibel und die kirchliche Überlieferung enthalten entsetzliche Geschichten und herrliche Ideen, wer daran als Ganzes glauben will (und das allein wäre Christentum), kommt um einen Sprung ins Absurde nicht herum."

Dass Religion auch in Europa weiterhin Schaden anrichten kann, zeigte eine Abstimmung im EU-Parlament, die von deutschen Medien kaum wahrgenommen wurde. Dort wurde ein Bericht zum Thema zum Thema "Rechte auf dem Gebiet der sexuellen und reproduktiven Gesundheit" mit knapper Mehrheit abgelehnt. Ebenfalls im Standard äußerte sich dazu die die grüne EU-Abgeordnete Ulrike Lunacek: "Auch bei der Abstimmung im Plenum herrschte eine Stimmung, die etwas Bedrohliches hatte. Die ParlamentarierInnen johlten und buhten, während (die Verfasserin des Berichts Edite) Estrela sprach... Wir erleben seit den letzten paar Jahren ein Erstarken der christlichen FundamentalistInnen, aber auch der rechten, nationalistischen Parteien. Wie stark sie sind und wie gut sie auch untereinander vernetzt sind, hat sich im Vorfeld der Abstimmung und auch durch die Ablehnung gezeigt."

Welt, 24.12.2013

Alan Posener stellt fest, dass arme Leute mehr Lichtschmuck ins Fenster hängen als reiche und erklärt den Lesern, warum das so gut ist. Marko Martin erinnert an Rainer Hildebrandt, den Gründer des Mauermuseums am Checkpoint Charlie, wo Michail Chodorkowsiki seine Pressekonferenz abhielt. Im Gespräch mit Rainer Haubrich scheint der konservative Architekturstar Christoph Sattler halb zu bedauern, halb zu akzeptieren, dass Berlin "dieses Fragmentarische, Zersplitterte, Disparate nicht überwunden" hat.

SZ, 24.12.2013

Peter Richter sichtet die amerikanische Berichterstattung über Barack Obama: Während ihn die einen schon als "lame duck" einschätzen, bringt Ishmael Reed Obama in der New York Times als "President of the Cool" mit Miles Davis in Verbindung und bezieht sich damit vor allem auf dessen Lässigkeit in Auftritt und Rhetorik: "Das 'Cool' im Cool Jazz und schlichtes Desinteresse, die schlendernde Lässigkeit des Basketballspielers und die alten Herrschaftstechniken der Affektkontrolle, Gelassenheitsethiken, die von antiken Philosophen unter Namen wie Sophrosyne oder Ataraxie verhandelt wurden und auf der anderen Seite das, was man im Deutschen einfach Wurschtigkeit nennt: Das ist alles wirklich nicht dasselbe. Aber es steht doch in gewissen tonalen Verhältnissen zueinander, die sich am Ende vermutlich wie Jazz anhören."

Weitere Artikel: Tilda Swinton schwärmt im Gespräch mit Willi Winkler von der Romantik des verfallenden Detroits, wo sie mit Jim Jarmusch den neuen (von Susan Vahabzadeh besprochenen) Film "Only Lovers left Alive" gedreht hat. Gottfried Knapp bewundert den Meister von Meßkirch. Ansonsten viele Geburtstagsgrüße: Thomas Steinfeld gratuliert Jens Malte Fischer (70), David Steinitz Hanna Schygulla (70) und Friedrich Wilhelm Graf dem Literaturwissenschaftler René Girard (80).

Besprochen werden eine Aufführung von Verdis "La Forza del Destino" in München, Michael Thalheimers "Tartuffe"-Inszenierung an der Berliner Schaubühne und eine Faksimile-Ausgabe des 1552 veröffentlichten apokalyptische "Book of Miracles", zu dem es beim Verlag eine prächtig schöne Strecke gibt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 24.12.2013

Die Musikerinnen von Pussy Riot werden auch nach ihrer Amnestierung keine Ruhe geben, berichtet Kerstin Holm: Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina "wollen baldmöglichst zusammentreffen und ihre Pläne koordinieren. Maria Aljochina will sich der Rechtsverletzungen in geschlossenen Anstalten annehmen, in Gefängnissen, Arbeitslagern und in der Zwangspsychiatrie. Es empört sie, dass durch diese Amnestie so wenige politische Häftlinge freikommen."

Weitere Artikel in der Heiligabendausgabe: Andreas Platthuas, Autor von "1813", schildert die Weihnachtstage in Frankfurt im Jahr 1813, die noch ganz im Zeichen des Kriegs gegen Napoleon standen. Jürg Altwegg berichtet über neue Personalquerelen im Centre Pompidou. Wolfgang Sander schreibt zum Tod des Jazzsaxofonisten Herb Geller.

Besprochen werden Eugène Labiches "Das Weiße vom Ei (Une Ile flottante)", inszeniert von Christoph Marthaler in Basel, neue Ausstellungen am Frankfurter Architekturmuseum, ein Konzert dere Berliner Philharmoniker unter dem möglichen Rattle-Nachfolger Andris Nelsons mit neuen Werke unter anderem von Hans Abrahamsen, Philipp Stölzls Verfilmung Noah Gordons Roman "Der Medicus", eine neue Einspielung von Benjamin Brittens "War Requiem" und Bücher, darunter ein Roman Asta Scheibs über das Leben Carl Spitzwegs (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).