Heute in den Feuilletons

Gar kein Platz mehr für Gezicke

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.01.2014. Die NZZ verfolgt mit Entsetzen den Erfolg des Films "Fack ju Göhte". Die SZ traut sich nach Sankt Pauli. Für die FAZ reist Andrzej Stasiuk nach Belzec. In der Welt entpuppt sich Rolando Villazón als Rolando-Villazón-Bewunderer. Die taz fordert mit Thomas Mießgang eine neue Kultur der Unhöflichkeit.

TAZ, 14.01.2014

Mit großem Vergnügen liest Frank Schäfer Thomas Mießgangs Essay über die Kultur der Unhöflichkeit "Scheiß drauf" und lernt, dass die Rabiatesse, die im Pop einst "zum Kommang" gehörte wie das Hotelzimmerzertrümmern, dem Effizienzpostulat der Leistungsgesellschaft gewichen ist: "Bestes Beispiel: Castingshows, Kaderschmieden der Ikonen von morgen. Vor allem bei 'The Voice of Germany' herrscht eine so produktive, durch und durch professionelle Arbeitsatmosphäre, da bleibt gar kein Platz mehr für Gezicke (sonst stets das nötige Salz in der Suppe des Reality-Formats). Die Coaches versuchen die Performance-Leistung ihrer Kandidaten zu optimieren, Interpreten, die meist seit Jahren als Profimucker arbeiten, lassen sich willig schleifen, pflegen immer höfliche, beste kollegiale Verhältnisse zu ihren Kombattanten."

Weitere Artikel: Detlev Claussen erinnert an Herbert Marcuses Schrift "Der eindimensionale Mensch", die vor fünfzig Jahren im amerikanischen Original erschien. Aram Lintzel knöpft sich den neuerdings sehr gehypten Akzelerationismus vor und lässt kein gutes Haar an dieser strategischen Affirmation der Beschleunigung.

Besprochen werden die Ausstellung "Anybody can have an idea" im Dortmunder Museum Ostwall (Bild: Dieter Roth, Karnickelköttelkarnickel, 1970) und die Memoiren des kenianischen Schriftstellers Binyavanga Wainaina "Eines Tages werde ich über diesen Ort schreiben" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

Spiegel Online, 14.01.2014

Große Meldung allenthalben und auch bei Spiegel Online: Google (oder die NSA?) kauft den Rauchmelder- und Thermostat-Hersteller Nest Lab - für schlappe 3,2 Millarden Dollar - und dringt somit auch ins Haus ein.
Stichwörter: Google

Welt, 14.01.2014

Im Interview mit Manuel Brug spricht Rolando Villazón offen über seinen sängerischen Narzissmus und kommt auch anderweitig nicht darum herum, sich selbst zu bewundern: "Ich finde es ganz schön mutig, in meinem nicht mehr ganz so jugendlichen Alter nun den Ferrando in 'Così fan tutte' nach den Konzerten in Baden-Baden auch in szenischen Aufführungen an der Scala zu wagen."

Außerdem stellt Johanna Rosenfeld kulturkritische Betrachtungen über das Spiel "Send me to heaven" an, für das man sein Handy möglichst hoch in die Luft werfen muss. Hanns-Georg Rodek resümiert die Verleihung der Golden Globes. Mladen Gladic verfolgte eine Tagung des Merkur zur Lage der Essayistik in Deutschland

Und auf der Forumsseite hat Ulrich Clauss nach den Snowden-Enthüllungen als erster Welt-Autor begriffen, "dass jeder Router für den Internetanschluss daheim, jedes Betriebssystem auf dem PC, im Handy oder im Wohnzimmerfernseher ein technisch für die Attacke durch beliebige Angreifer präpariertes Zielobjekt sein kann", und fordert Gnade für Snowden.

Tagesspiegel, 14.01.2014

Wie gut - zumindest bis 1936/37 - die moderne Bildsprache zur Nazipropaganda passte, lernt Gunda Bartels in einer Ausstellung über die Berliner Jahre des Werbegrafikers Herbert Bayer im Bauhaus-Archiv Berlin: "Da findet sich ein an die erst noch zu erfindende Pop-Art erinnerndes Plakatmotiv von 1938 für eine Bauhaus-Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art. Ein seinerzeit als 'zu modern' abgelehntes Plakatmotiv für den Berliner Pergamonaltar (1931). Seine vielen Titelblätter für die Zeitschrift 'Neue Linie'. Oder ein unglaublich fortschrittlich aufgemachtes Werbeheft für die Hygiene-Ausstellung 'Wunder des Lebens' von 1935. In das Plakat für die Schau am Kaiserdamm - eine menschliche, von einer luftballonartigen Sphäre umgebene Gestalt - hat Herbert Bayer zwar die Bauhausfarben Rot, Blau und Gelb geschmuggelt, trotzdem bleibt ein erheblicher Schönheitsfehler: Sie propagierte die NS-Rassenideologie und ist eine von drei NS-Großausstellungen, für die Bayer Broschüren gestaltet hat." (Bild: Herbert Bayer, Einsamer Grofistadter, 1932)

Weitere Medien, 14.01.2014

Dieses kleine Gemälde von Renoir, das eine Dame auf einem Flohmarkt für 7 Dollar gekauft hatte, wurde nun dem Museum von Baltimore zurückgegeben, wo es vor 62 Jahren gestohlen wurde, meldet Le Monde.


Stichwörter: Baltimore

NZZ, 14.01.2014

Joachim Güntner verfolgt mit Entsetzen den Erfolg des Films "Fack ju Göhte", auch wenn er dem klassischen Bildungsdünkel keine Träne nachweinen möchte: "Heute bringt er keinen Vorteil mehr. Sein Geltungsverlust wäre nur zu begrüßen, steckte dahinter nicht eine verkorkste egalitäre Ideologie, die mit dem Dünkel zugleich das Bildungsverlangen austreibt. Die Mentalität ist keineswegs neu, 'Fack ju Göhte' nur ihre Blockbuster-Ausgabe."

Besprochen werden eine Ausstellung zu Künstlerhäusern in der Villa Stuck in München (Bild: Claude Monet vor seinem Haus in Giverny, 1921), eine Schau zum Spätwerk des amerikanischen Malers Philip Guston in der Frankfurter Schirn, ein Festival zu Ehren des Komponisten Giacinto Scelsi in der Gare du Nord in Basel, Friederike Mayröckers Gredichte "études" und Jacek Dehnels Roman "Saturn" über die Malerfamilie Goya (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 14.01.2014

Hier die jährliche Umblätterer-Liste mit den zehn angeblich besten Feuilleton-Texten des letzten Jahres.

FAZ, 14.01.2014

Andrzej Stasiuk besucht sein geliebtes Ostpolen, unweit der heutigen Grenze zur Ukraine, wo die Deutschen einst das Vernichtungslager Belzec betrieben, von dem nach dem Krieg kaum eine Spur blieb: "Es regnete, der Schnee schmolz. Das ganze Gelände des Lagers ist mit Schotter, Steinen, Resten aus den Öfen, Schlacke bedeckt. An der Stelle, wo der Weg zu den Gaskammern lag, ist ein Spalt in die Erde gehauen. Man geht tiefer und tiefer hinein, bis der Himmel oben fast verschwindet."

Weitere Artikel: Der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan konstatiert, dass der neue iranische Präsident Hassan Rohani sich zwar salbungsvoll zur künstlerischen Freiheit äußert, an der strengen Zensurpraxis aber bisher kein Jota verändert hat. Mark Siemons hat sich eine Pressekonferenz des chinesischen Kulturministers Cai Wuan angehört, aus der hervorgeht, dass sich die Partei wie eh und je mit der Allgemeinheit gleichsetzt. Joseph Croitoru zeichnet die israelische Debatte über den Film "Bethlehem" nach (Kritik in der taz), der von palästinensischen Spitzeln des israelischen Geheimdienstes handelt. Reinhard Loske, Professor für Nachhaltigkeit, fragt in einem Essay, ob die Grünen eine Chance haben, die neuen Liberalen zu werden. Auf der Medienseite annonciert Michael Hanfeld das Sat 1-Doku-Drama "Der Rücktritt" über die Wulff-Affäre, das aber erst im Februar laufen wird. Und Stefan Schulz berichtet, dass über den Google App Store nun eine Gesichtserkennungs-App angeboten wird - wenn auch nicht von Google selbst. Sascha Lobos Absage ans Internet steht jetzt auch online.

Besprochen werden eine Ausstellung der Künstlerin Alicja Kwade im Museum Haus Esters in Krefeld (Bild: Alicja Kwade, 7 x Dionysos Offers, 2013), Steve McQueens neuer Film "12 Years a Slave", den Verena Lueken als eine der besten filmischen Thematisierungen von Sklaverei ansieht, Stücke des barocken Dichters Caspar von Lohenstein in Mainz und Bücher, darunter eine Biografie über Gabriel Fauré (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 14.01.2014

Till Briegleb flaniert durch das von der Polizei zum "Gefahrengebiet" ernannte Sankt Pauli, deren Bewohner mit allerlei kreativen Maßnahmen - darunter mit demonstrativ herumgetragenen Klobürsten (mehr) - auf diese Adelung seitens der Ordnungskräfte reagierten: "Der Klobürsten-Aufstand war die spontane und mittlerweile Wirkung zeigende Strategie, mit Spott auf die archaische Keilerei zwischen Polizist und Anarchist einzuwirken."

Außerdem: Die SZ lässt über Sinn und Nutzen von Online-Wahlkabinen diskutieren: Johan Schloemann fürchtet eine Entwertung des Wahlakts ("Die einzige Gelegenheit, bei der man für die Demokratie noch den Hintern hochkriegt, entfällt"). Jörg Häntzschel erhofft sich - vertrauenswürdige Technik vorausgesetzt - eine höhere Wahlbeteiligung. David Steinitz resümiert die Golden-Globes-Nacht. Abgedruckt ist das Plädoyer für Europa des vergangene Woche gestorbenen ehemaligen Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer.

Besprochen werden eine große Willi-Baumeister-Schau in Stuttgart (Bild: Willi Baumeister, Tori mit blauem Punkt, 1937), David Martons "Doppelgänger" nach Motiven von E.T.A. Hoffmann in Stuttgart und Bücher, darunter Jerome Charyns Krimi "Unter dem Auge Gottes" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).