Vorgeblättert

Leseprobe zu Ernst Piper: Nacht über Europa. Teil 1

25.11.2013.
Mobilmachung

Der Bellizismus bewegte sich in den letzten Friedensjahren des Kaiserreiches zwischen zwei entgegengesetzten Polen. Zum einen war da der Chor der Nationalisten und Imperialisten, die stets aufs Neue die unabweisbaren Forderungen herunterbeteten, damit Deutschland eine seiner Bedeutung gemäße Machtposition und einen der Größe des Volkes entsprechenden Lebensraum erreichen konnte: wirtschaftliche Dominanz in Europa, eine der britischen Flotte ebenbürtige Seemacht, die dauerhafte Ausschaltung der potentiellen Kriegsgegner Frankreich und Russland und ein ausreichend großes Kolonialreich in Afrika. Sprachrohr dieser Leute waren Männer vom Schlage Bernhardis. Zum andern artikulierte die literarische Moderne, der frühe Expressionismus, ein antibürgerliches Aufbegehren gegen überkommene Normen, das auch vor der Feier des Krieges, der Apotheose von Kampf und Erneuerung, Virilität und Ekstase nicht zurückscheute. So schrieb der österreichische Schriftsteller Robert Müller 1912 in seiner Apologie des Krieges: »Einen siegreichen Krieg soll man führen, wie unser Blut ihn lehrt, wenn an einem schönen Sommertage des Gemüts die Blutkörperchen in Schlachtordnung gegen die 'Fremdkörper' ausrücken und in wilder Schlacht die Eindringlinge vollständig vernichten. Nach diesem Morden wird der Kopf klar und hell, die Organe gedeihen und das Gemüt hat Sommer von innen her.« Vom Blut ist die Rede, von Fremdkörpern und von vollständiger Vernichtung. Es ist erstaunlich, mit welcher Deutlichkeit hier die Metaphorik des nationalsozialistischen Rassismus vorweggenommen wird, wobei Müller selbst einen ganz anderen Weg einschlug. Er meldete sich 1914 freiwillig, kam an die Isonzofront, wurde zum Kriegsgegner und starb 1924 an einer Schussverletzung, die er sich selbst beigebracht hatte.
     Der epigonalen zeitgenössischen Lyrik von Waldesgrün und Lerchensang setzten die Expressionisten grelle und heftige Bilder entgegen, kühne Wortkaskaden, lyrische Eruptionen, wilde Proteste gegen bourgeoise Langeweile und überlebte Traditionen. Ihre Beschwörung des Krieges hatte weniger mit Militanz als mit Anarchie zu tun. Dass ihre Zeitschriften Sturm und Aktion hießen, ist gewiss kein Zufall. In ihren Texten trafen sich kosmische Ekstase, Normalitätsüberdruss und Saturiertheitsekel. Am 6. Juli 1910 notierte der 22-jährige Georg Heym in seinem Tagebuch:

Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterläßt. [ … ] Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte. Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllten, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen.

Im Jahr darauf schrieb Heym sein Gedicht »Der Krieg«, das zu seinen Lebzeiten nicht mehr veröffentlicht wurde, inzwischen aber seit Jahrzehnten zum Kanon der berühmtesten expressionistischen Gedichte gehört. Die bildstarke lyrische Apokalypse entstand vor dem Hintergrund der Marokkokrise. Am 16. Januar 1912, im Alter von 23 Jahren, ertrank Georg Heym beim Schlittschuhlaufen in der Havel. Neben Georg Trakl, der am 4. Novem ber 1914 in Krakau starb, und Ernst Stadler, der am 30. Oktober 1914 in der Schlacht bei Ypern fiel, ist er der bedeutendste Lyriker des frühen Expressionismus. Er war ein sprachgewaltiger Dichter, der in formstrengen Sonetten apokalyptische Visionen kommender Katastrophen entwarf. Sein Gedicht »Der Krieg« endet mit den Zeilen:

Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühenden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,

Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalte Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.


Der Krieg, welcher lange schlief und nun wieder aufgestanden ist, wohl eine Anspielung auf den Krieg von 1870/71, der sich 1911 anschickt, sich in gewaltig vergrößerter Dimension zu wiederholen, zerstört alles - Städte, Wälder, Menschen - und zuletzt auch das biblische Gomorra, die Stadt, die in den Tagen Abrahams wegen ihrer Gottlosigkeit von einem Feuer- und Schwefelregen vernichtet wurde. Heym beschwört die absolute Vernichtung, nichts ist mehr geblieben vom abenteuerlich-revolutionären Pathos der Tagebucheintragung aus dem Vorjahr. Das Gedicht reflektiert die eigene Ohnmacht angesichts der Unbesiegbarkeit des Krieges.
     Eine künstlerische Entsprechung zu Georg Heyms Gedichten sind Ludwig Meidners »Apokalyptische Landschaften«. Die ersten entstanden in den »glühenden Sonnentagen« des Sommers 1912. Diese Bilder, die heute von uninformierten Betrachtern oftmals als Kriegsbilder wahrgenommen werden, sind visionäre Darstellungen des Kommenden. Am berühmtesten sind die »Apokalyptische Landschaft« und »Apokalyptische Stadt«, beide aus dem Jahr 1913. Die Bilder sind dominiert von Feuersbrünsten, berstenden Gebäuden und kosmischen Erscheinungen. Letzteres war vermutlich durch den Halleyschen Kometen beeinflusst, der im Mai 1910 über Deutschland erschienen war und in der Bevölkerung eine Weltuntergangshysterie ausgelöst hatte. Eine ganze Reihe von Meidners Bildern tragen den Titel »Apokalyptische Landschaft«, das erste ist von 1912, auch eine »Apokalyptische Vision« hat er gemalt, mehrmals das Motiv »Brennende Stadt« und bereits 1911 »Schrecken des Krieges«. Auf der Rückseite einer der apokalyptischen Landschaften befindet sich das Bild »Barrikade« (1912), das eine ganz ähnliche Grundstimmung hat. Man sieht Kämpfende in einer chaotischen Stadtlandschaft, brennende Häuser, aus denen sich Menschen stürzen, Explosionen. Der Träger der roten Fahne im Vordergrund hat einen Verband um seinen Kopf, und sein Gesicht drückt eher Verzweiflung als Hoffnung aus.
     Meidners untergangsschwangere Visionen wurden nur allzu schnell Wirklichkeit, der prophetische Maler nahm sich des neuen Themas voller Entschlossenheit an. Am 9. August 1914 schrieb er in sein Tagebuch: »Ich muß endlich auch meinen lange geplanten Zyklus beginnen: Europa 1914/15[.] Vor lauter Pinselschwingen kam ich nicht dazu. Zuerst kommt das Huldigungsblatt an den Friedenskaiser dran, mit dem Motto 'Ich kenne keine Parteien mehr' (Ich kenne nur Kanonenfutter!). Muß etwas Starkes, Tolles, Notwendiges werden … Wer zeichnet denn heute die Welt, wie sie ist?« Er jedenfalls tat es. 1914 erschien seine Mappe Krieg mit acht Drucken nach Tuschfederzeichnungen, düstere Bilder, die weit von der offiziellen Kriegseuphorie entfernt waren. Die expressionistischen Stadt- und Kriegslandschaften sind von Soldaten, Dämonen, Totenköpfen und Skeletten bevölkert. Eine wie auch immer geartete Parteinahme für eines der kriegführenden Länder ist diesen Blättern nicht ablesbar.

     Während in den prophetischen Kriegsgedichten von Heym wie in den vor und nach dem Kriegsausbruch entstandenen Bildern von Meidner das Apokalyptische dominiert, kommentierten andere Autoren den August 1914, indem sie das Kathartische des Krieges betonten. Thomas Mann schrieb über den Kriegsausbruch: »Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.« Und Gertrud Bäumer, die Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine und wichtigste Stimme der bürgerlichen Frauenbewegung, nannte die rauschhafte Erfahrung der Mobilisierung »[e]ine Erschütterung, eine Erhebung, ein Weitwerden der Seelen«. Der Krieg wird nicht nur zur Abwehr äußerer Feinde geführt, er wird gewissermaßen zum Selbstzweck, ja er wird gebraucht, um dem Neuen zum Sieg zu verhelfen. Der Schriftsteller und Kunsthistoriker Friedrich Markus Huebner formulierte es so: »Der Krieg ist nicht der Verneiner der sogenannten Neuen Kunst, sondern ihr ungeahnter, sieghafter Zu-Ende-Bildner.« Nach Kriegsausbruch ging Huebner nach Belgien, wo er für das Auswärtige Amt im Sinne der deutschen Flamenpolitik wirkte, die darauf aus war, die Flamen gegen die Wallonen in Stellung zu bringen und so auf die Spaltung des Landes hinzuarbeiten.      Der prominente Kunstkritiker Karl Scheffler, der dem Impressionismus in Deutschland ganz maßgeblich zum Durchbruch verholfen hatte, griff in seinem Essay »Der Krieg«, mit dem er den ersten Kriegsjahrgang der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Kunst und Künstler einleitete, zu einem noch kühneren Bild als Huebner: »Es ist noch stets so gewesen, wenn sich nach blutigen Kriegen die Nation mit mächtiger Anstrengung regenerierte, dass sich an diesem leidenschaftlichen Wachstum das Geniale entzündete, dass auf dem blutgedüngten Boden die Ernten des Friedens nur umso reicher und vielfältiger wogten.« Für Scheffler war der Krieg eine Gnade, ein »Zeichen, dass der Weltgeist es gut mit uns meint«, ein »Kunstwerk der Natur«. Scheffler, ursprünglich als Dekorationsmaler tätig, war als Kunst historiker Autodidakt, aber einer von hoher Bildung. Wir dürfen davon ausgehen, dass ihm Jacob Burckhardts Werk Kultur der Renaissance in Italien bekannt war. Darin findet sich im ersten Abschnitt »Der Staat als Kunstwerk« das Kapitel »Der Krieg als Kunstwerk«. Dort geht es allerdings nicht um ein Kunstwerk der Natur, sondern eigentlich um Kunsthandwerk, etwa im Zusammenhang mit Ritterkämpfen und Rüstungen. Burckhardt wiederum bezog sich auf Machiavellis Dell'arte della guerra (1519/20). Machiavelli, der leidenschaftliche Anwalt der florentinischen Republik, erörterte in diesem Buch, das er als sein Hauptwerk ansah, die Kunst der Kriegführung zum Zweck des Erhalts der Staatsmacht. Machiavelli war noch aufgewachsen in einer Zeit, in der die Condottieri das Geschehen bestimmten, von den italienischen Stadtstaaten bezahlte Söldnerführer. Kriegführung war eine pragmatische Angelegenheit, die eingesetzten Geldmittel entschieden oftmals über Sieg und Niederlage. Der kathartisch-regenerative Ansatz des frühen 20. Jahrhunderts wäre Machiavelli fremd gewesen. Scheffler war womöglich mehr vom Expressionismus, den er eigentlich ablehnte, beeinflusst, als er wahrhaben wollte.
     Scheffler, der vehement für den Impressionismus und dessen wichtigsten deutschen Vertreter Max Liebermann gekämpft hatte, entwickelte in seinem Essay über den Krieg auch eine eigenwillige Variante der Weltreichslehre. In diesem Krieg gehe es um die Weltherrschaft und für Deutschland um eine »zweite, grössere Einigung nach der von 1870/71, nämlich um die Vorherrschaft in Europa«. Mit dem militärischen Sieg werde auch im Künstlerischen die Führung auf Deutschland übergehen, der Impressionismus erweise sich dann als »ein Kunstschicksal für alle Völker arischer Herkunft«, wobei der heutige Leser bedenken sollte, dass »arisch« damals ein ethnographisches Synonym für »indogermanisch« war. An anderer Stelle heißt es im selben Essay: »Jetzt flüstert uns der Genius der Rasse vernehmbar ins Ohr, dass nur durch Katastrophen eine Wiedergeburt möglich ist.« Diese nationale Wiedergeburt solle, so Scheffler, ein »reinigendes Gewitter« sein. Mit dieser Metapher war er nahe bei Thomas Mann. Wenn Scheffler von Wiedergeburt sprach, ging es nicht um Renaissance, sondern um Regeneration.
     Schefflers rassische Stilkunde, die den Impressionismus zum arischen Kunstschicksal erheben wollte, fand ihren Niederschlag auch in seinem Italienbuch. 1913 war es erstmals erschienen, 1915 trat Italien an der Seite der Entente in den Krieg ein. Die heftigen Debatten, die dieser »italienische Verrat« ausgelöst hatte, fanden ihren Niederschlag im Vorwort zur zweiten Auflage des Buches im Jahr darauf. Scheffler distanzierte sich von denjenigen, die forderten, Deutsche dürften nun selbst nach einem gewonnenen Krieg nicht mehr nach Italien reisen: »Es gilt nicht, das Land Italien und seine Kultur äußerlich abzutun, sondern sie innerlich zu überwinden.« »Los von Italien« müsse bedeuten »Los von der Renaissance«, für die Deutschen gehe es um eine »Wiedergeburt des gotischen Geistes«. Eine solche Berufung auf die Gotik war in einer Zeit, in der man Krieg gegen Frankreich, die Urheimat dieses Kunststils, führte, eine delikate Angelegenheit, aber Scheffler wollte vor allem sagen, ihre romanische, sprich: italienische Sehnsucht könnten die Deutschen nur durch höchste eigene schöpferische Anstrengungen überwinden. Doch dafür bot der Krieg nicht den Raum. Jetzt regiere Mars Ultor die Stunde, wie Scheffler zu Beginn seines Kriegsessays geschrieben hatte, der rächende Kriegsgott, und Kunst und Künstler, unter Schefflers Leitung die wichtigste Stimme der modernen europäischen Kunst in Deutschland, stellte sich ganz in dessen Dienst. Der Jahrgang 1914/15 enthielt unter anderem Feldpostbriefe von Max Beckmann, Waldemar Rösler, Max Neumann und einer Reihe weiterer Maler. Er zeigte Kriegsbilder von Max Liebermann, Originallithographien diverser Künstler mit Motiven wie »Soldatentod«, »Heldenlied« oder »Jünglingstod in der Schlacht«, Aufsätze über griechische Kriegergräber, über Krieg und Schlacht in der Kunst, Dürer und den Krieg. Auch der Vormarsch der deutschen Soldaten hinterließ seine Spuren. Es gab Beiträge über die Architektur in den besetzten französischen Städten, die Kunstgeographie der Niederlande und die Zerstörung von Brüssel im Jahr 1695, was wohl eigenes Tun relativieren sollte.

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