Vorgeblättert

Leseprobe zu Georg Kreisler: Letzte Lieder. Teil 1

10.08.2009.
I

Als Kind wusste ich eins: Alles ist ein Märchen. Mein Vater ging zur Arbeit wie der Vater von Hänsel und Gretel; der Wiener Justizpalast brannte wie das Hexenhaus in Hatschi Bratschis Luftballon; und mein Großvater starb und lag in einem gläsernen Sarg wie Schneewittchen. Heute weiß ich: Ehrgeiz, Karriere, Geld, Konkurrenzkampf, das sind alles Märchen, die Wirklichkeit liegt woanders. Gott hat Humor.
     Wo liegt die Wirklichkeit? Beethoven weiß Rat. Wer das nicht glaubt, soll sich einen Computer kaufen, soll vor Geld strotzen wie der Schah von Himalaya und seinen Schmerz hinausbrüllen, weil seine Träume, einer nach dem anderen, zerplatzen. Die Wirklichkeit will gelernt sein. Shakespeare kannte sie, Rembrandt, Bach, sie ist mit den Händen zu greifen. Natürlich ist sie nicht wahr, aber sie ist unsere Wirklichkeit und nicht unser Märchen. Die Wahrheit ist etwas anderes.
     Von der Wahrheit muss man schweigen, über die Wirklichkeit lässt sich reden. Es gibt viele Wirklichkeiten und nur eine Wahrheit. Unsere Wirklichkeit liegt in der Kunst, aber das kann man nicht beweisen, und Naturwissenschaftler wie wir sind skeptisch. Wir beweisen alles und nichts. Wir beweisen die Technik und nennen sie Fortschritt. Wir glauben an uns selbst ohne die geringsten Beweise. Wir haben mit der Wirklichkeit nichts am Hut, nur mit der Religion, die sich "Naturwissenschaft" nennt. Wir beweisen, dass die Technik nicht funktioniert.
     Wenn man in ein Flugzeug steigt und anderswo wieder aussteigt, hat das mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Da ist man wie eine Ameise, die um ein Stückchen Zucker herumgeht, obwohl sie etwas zu fressen sucht. Die Reise mit dem Flugzeug ist kein Teil von uns, wir fühlen nichts, hören und sehen nichts, außer das Notwendigste. Erst wenn wir am Abend in einen Konzertsaal gehen und dort die Ouvertüre zur Zauberflöte hören, begreifen wir die Wirklichkeit unseres Lebens. Einer Biene geht es nicht so, die hat eine andere Wirklichkeit, aber dem Leser dieser Zeilen kann ich die Wirklichkeit der Kunst bestens empfehlen. Es gibt keine andere.
     Bluten wir nicht, ohne es zu merken? Steigen wir nicht täglich offenen Auges in ein Grab? Hingegen, wenn Heine reimt: "Es gibt zwei Sorten Ratten, die hungrigen und satten", soll man sich das nicht auf der Zunge zergehen lassen, soll man da nicht spüren, dass das die Wirklichkeit ist? Natürlich ist es nicht die volle Wirklichkeit, sondern nur ein Teil derselben, und ich weiß: Auch dieser kleine Teil ist nicht leicht einzuatmen. Aber die Entdeckung, dass die Kunst versucht, uns die Wirklichkeit plausibel zu machen, ist etwas Grandioses. Damit ist mein Leben eigentlich schon erzählt.
     Die Autobiografie eines Siebenundachtzigjährigen kann nur unbegreiflich sein, also werde ich mich nicht begreiflich machen können. Aber ich hoffe, dass man mir mein Leben nachfühlen kann und keine Schilderung erwartet. Die Unbegreiflichkeit ergibt sich dabei von selbst, so wie sich die Begreiflichkeit eines Computers von selbst ergibt. Ich benütze keinen Computer.
     Mein Vater sagte mehrmals zu mir: "Den Faust verstehst du nicht." Und es dauerte einige Jahre, bis ich draufkam, dass er ihn selbst nicht verstand, weil er alles vom Standpunkt eines damals noch nicht erfundenen Computers verstehen wollte. Faust ist aber, im Gegensatz zu einem Computer, unbeweisbar, und wenn man meint, ihn zu verstehen, also beweisen zu können, ist man keinen Schritt weiter. Das ist dasselbe wie mit der Ouvertüre zur Zauberflöte. Man versteht sie erst, wenn man sie nicht versteht.
     Als Kind wollte ich nicht lernen wie die anderen, ich wollte erfahren. Außerdem begriff ich schnell, dass ich nicht alles tun konnte, was ich wollte. Wenn ich beispielsweise meiner Mutter den Gefallen tun und Klavier üben wollte, ging es nicht. Ich setzte mich ans Klavier und spielte und sang die Oper Freischütz, statt zu üben. So wie ein Strom zum Meer strebt, wie eine Opernouvertüre zur ersten Szene, so strebte ich meines Weges, unaufhaltsam. Ich schloss daraus und habe es später bestätigt gefunden, dass man Menschen ebenso wenig ändern kann wie die Zauberflöte. Mozart könnte die Zauberflöte ändern, wenn er wollte, sonst niemand. Wenn sich also ein Mensch ändert, so ist es das Werk seines Schöpfers.
     Als Kind hatte ich kein Ziel. Wenn ich im Theater saß und das Stück zu Ende war, hatte ich das Gefühl, es müsse weitergehen. Jedes Happy End war nur vorübergehend, und selbst wenn der Held tot war, ging das Leben weiter, aber das Theaterstück nicht, und das störte mich. Das Ziel eines Theaterstücks ist also nicht, dass es irgendwann zu Ende geht. Kein künstlerisches Werk darf sich sein Ende als Ziel setzen. Wenn man eine Urlaubsreise antritt, ist da auch der Urlaubsort kein Ziel, sondern man fragt sich, was man dort machen wird, wie das Wetter sein wird und dergleichen. Wer ein Ziel hat, ist auf dem falschen Weg. Wer sich ein Ziel setzt, wird nervös. Auch ich wusste, dass ich nie so gut Klavier spielen würde, wie es das Ziel meiner Mutter oder meiner Klavierlehrerin war, und entwickelte mich dementsprechend zu einem unruhigen Kind.
     Am schlimmsten sind die Fernziele, bei denen zynisch der Weg als Ziel bezeichnet wird. Vom furchtbaren Schweizer Pädagogen Pestalozzi stammt der Spruch: "Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterlande." Darunter kann man sich nur vorstellen, dass man nie ans Ziel kommen wird, also ein Versager ist. Auch Pestalozzi wusste das, denn er sagte nie genau, was eigentlich "im Vaterlande leuchten" sollte. Wer sich hingegen entscheidet zu flüchten, ohne ein Ziel zu haben, trifft eine weise Entscheidung. Im Grunde ist Flucht die einzige Entscheidung, die man mit Gewinn treffen kann. In der Schule entschied ich mich, nichts zu lernen, also zu flüchten, und es hat mir nicht geschadet.
     Ich bin trotzdem ein halbwegs gebildeter Mensch geworden, denn wer nach Bildung strebt, wird sie sich so oder so verschaffen, es muss nicht ausgerechnet in der Schule sein. Wer keine Bildung hat, wollte auch nie eine haben. Als Kind ist man meistens mit seinem Garten zufrieden. Auch Sisyphos könnte, im Gegensatz zur gängigen Meinung, ein zufriedener Mensch gewesen sein, es sei denn, er hatte ein Ziel vor Augen. Kinder soll man in Ruhe lassen, aber wozu hat man sie dann? Mozart hatte sechs Kinder, und niemand weiß warum. Fragen, die nur die Kunst beantworten kann.
     Ob ich selbst Kinder habe, ist eigentlich auch eine Frage. Mein erster Sohn wurde mir im Alter von acht Jahren mit Gewalt von der Mutter weggenommen und dann mit richterlicher Erlaubnis von mir ferngehalten. Acht Jahre lang waren wir sehr fröhlich miteinander gewesen, aber das scheint er vergessen zu haben, was ich ihm nicht übel nehmen kann. Er blieb verschollen.
     Auch mein zweiter Sohn war ein fröhliches Kind; erst als Erwachsener entschloss er sich zur Flucht vor mir. Die Gründe dafür sind mir unbekannt, und wenn er meint, sie zu kennen, irrt er sich. Dasselbe gilt für meine Tochter. Ich glaube, ich sollte dankbar sein, denn sie waren reizende Kinder. Aber Kinder sind zerbrechliche Geduldspiele, die meisten Eltern spielen sie gern, und manche Kinder helfen ihnen dabei, andere nicht.
     Natürlich braucht man Lehrer, wenn man sie haben will. Auch mein Vater war mein Lehrer, aber ich entschied selbst, was ich von ihm lernen wollte. Eine Zeit lang glaubte ich bedingungslos jedes Wort, das von seinen Lippen kam, und er glaubte mir nichts. Aber ich bin meinen Eltern unendlich dankbar, denn sie mühten sich redlich. Arnold Schönberg schrieb an Karl Kraus: "Ich habe von Ihnen vielleicht mehr gelernt, als man lernen darf, wenn man noch selbstständig bleiben will."
     Zur Selbstständigkeit verhalf mir schon früh die Kunst, für die mein Vater kein Verständnis hatte. Er bewunderte erfolgreiche Künstler, aber nicht deren Kunst. Künstler war ein Beruf, den man womöglich anderen überlassen sollte, meinte er. Sicher dachte er dabei auch an seinen jüngeren Bruder Otto, der das Elternhaus früh verlassen hatte, um Schauspieler zu werden. Als er damit kaum Erfolg hatte, wurde er Filmproduzent und musste 1925 vor seinen Gläubigern nach Berlin flüchten. Mein Vater hatte nur Verachtung für ihn.
     Das Charakteristische war: Sosehr mein Vater auf seinen Prinzipien bestand und seine kleinbürgerliche Moral verteidigte, so sicher er sich in seiner Existenz als angesehener Rechtsanwalt fühlte, so lebte er doch in einem fortwährenden Angstzustand. Es war die Angst des Philisters vor den Mächtigen, vor Lebensverschiebungen, vor zu viel Optimismus. Dass seine Angst im Jahr 1938 durch Hitler gerechtfertigt schien, hatte nichts mit der irrationalen Angst zu tun, die er jahrelang auch mir einflößte. Sicher war das Gespenst Hitler seit 1933 präsent, aber niemand dachte deswegen an ein nationalsozialistisches Österreich oder gar an den unvorstellbaren Antisemitismus, der sich dann Bahn brach.
     Meine Mutter betete meinen Vater an, war aber ein ganz anderer Mensch. Literatur und bildende Kunst waren ihr fremd, aber in der Musik ließ sie ihre Gefühle laufen. Bezeichnend war, dass sie mich noch auf ihrem Totenbett bat, Bach für sie zu spielen. Sie suchte die Wirklichkeit hinter ihrem Leben, das eingeengt in die Zwänge der damaligen Zeit war. Wenn sie nicht schon mit 47 Jahren gestorben wäre, hätte sie irgendwann auch Schönberg verstanden, was meinem Vater nie gelungen wäre.
     Mein Vater glaubte, dass die Kunst schön sein muss. Der unerwartete Tonartwechsel im Nachspiel am Schluss des ersten Aktes der Oper Bajazzo von Leoncavallo rührte ihn zu Tränen. Überhaupt weinte er schnell, vor allem über Kitsch. Kurz bevor er starb und schon etwas verwirrt war, zitierte er: "So sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt, das Mutteraug? hat ihn doch gleich erkannt", und fragte mich hilflos: "Und was war dann?" Welch ein Unterschied zu meiner Mutter, die Bach hören wollte!
     Damals genoss ich auch Operetten und Schlagermusik, aber instinktiv fühlte ich, dass bei denen die Fantasie fehlte. Bei der heutigen Popmusik, bei Rock, Reggae, Hip-Hop und wie sie alle heißen, ist es umgekehrt: Fantasie ist vorhanden, aber das handwerkliche Können fehlt. Um zu wirken, braucht diese Musik Showeffekte wie Tanz, Lichtwechsel, Möbelzertrümmerung, Publikumsgeschrei, und erst dann kann man ihr gelegentlich auch zuhören. Wenn man sie nur auf einer CD erlebt, empfiehlt sich gleichzeitiges Autofahren, Joggen oder Geschirrspülen.
     Meine Kindheit war kurz. Mit der Besetzung Österreichs durch die Nazihorden im März 1938 fand sie ein jähes Ende. Im Alter von fünfzehn Jahren nahm ich mein Leben selbst in die Hand. Ein paar Jahre lang blieb ich noch der Musik verhaftet, dann überwog die Literatur, allerdings in englischer Sprache. Eine Jugend mit erwachenden Freiheitsgefühlen, erster Liebe, lustigen Streichen und dergleichen hatte ich nicht.

Teil 2