Vorgeblättert

Leseprobe zu Georges-Arthur Goldschmidt: Ein Wiederkommen. Teil 3

27.02.2012.
Das wiederholte weiche Anschlagen der Räder, das nun dumpfer und härter war als bisher, bedeutete, daß man über Weichen fuhr und in eine Stadt kam, er mußte geschlafen haben. Der Zug verlangsamte und hielt schließlich an einem mit rautenförmigen gelblichen Fliesen versehenen, nicht sehr hohen Bahnsteig. In großen roten Buchstaben konnte man DIJON lesen. Er hatte es auf der Karte gesehen, der Zug fuhr über Louhans, Bourg-en-Bresse, la Roche-Migennes, Dijon und dann Paris. Als der Zug wieder anfuhr, sah er einen nicht sehr hohen Kirchturm, und er wußte sofort, daß es Spätgotik, 14. Jahrhundert, war. Dann folgten endlos, stundenlang Wiesen, Hecken und Felder, und Dörfer hie und da.
     Allmählich war es aber dichter besiedelt mit Ansammlungen rotbedachter kleiner Häuser wie Pocken in der Landschaft, dann Reihen von Sägedächern, dann wieder Wälder und plötzlich Stadtgebäude, Straßen mit breiten Bürgersteigen, eine sehr hohe Mauer in einer Senke mit einer Inschrift aus Backsteinen

     PARIS À CINQ MINUTES

Der Zug verlangsamte wieder und fuhr in den Bahnhof Paris Gare de Lyon ein. Arthur hatte nicht überprüfen können, ob es auch wirklich fünf Minuten waren, denn er besaß keine Uhr. Um ihn herum stand man schon auf, und er blickte zum Koffer, der im Netz über ihm die ganz Reise lang gerasselt hatte, ein bräunlicher Pappmachékoffer.
     Der Koffer auf dem Metallgerüst erinnerte ihn daran, daß er verköstigt wurde, von dem Wohlwollen einer entfernten Kusine abhing, die ihn ebensogut in eine Werkstatt als Lehrling hätte stecken können, damit er einen Beruf erlerne. Er hatte nicht einmal Taschengeld dabei, das hatte er noch nie bekommen. Im Internat kam man für ihn auf, und dies befand sich so weit oberhalb des Dorfes, daß es sowieso wenig Gelegenheit gab, etwas zu kaufen, und wenn man ihn auf Besorgungen schickte, traute er sich nicht, vom Geld ein paar Centimes zu nehmen, um sich Brot oder Käse zu kaufen. Hunger hatte er immer, und zum Glück hatte es nun nach dem Krieg Pellkartoffeln in Mengen gegeben, und davon aß er ganze Teller voll und träumte von braun-gelb überbackenem Nudelauflauf. Das hatte er im Kopf, als nun der Zug an einem mit wieder gelblichen Fliesen ausgelegten Bahnsteig hielt, wie noch vor gar nicht so langer Zeit im kleinen Bahnhof von Sallanches. Diese Fliesen waren einheitlich, es gab sie überall, so wie die Fenstersimse der Schule, die Streichhölzer oder die Lichtschalter, wie innere Erkennungszeichen des Landes. Und in Sekundenschnelle stieg in ihm die Frage auf, eine Kleinigkeit, die als Selbstschutz diente, wenn Kummer oder Heimweh in einem aufzusteigen drohen: ob in Paris die Lichtschalter auch so wie im Internat sind oder wie damals auf dem Bauernhof, wo der Strom erst gerade gelegt worden war? Es waren runde Schalter, auf die eine Art Aluminiumhaube um einen oben abgerundeten kleinen Stift geschraubt war, den man rauf- und runterkippte. Innerhalb der Haube lag zur Isolierung ein Stück Pappe, das bei jedem Schalter anders war, grau, grün, rosa oder gestreift und sogar manchmal mit Teilen von Buchstaben bedruckt, und man stellte sich die Menschen vor, die es hineingelegt hatten, wo sie jetzt wohl waren, ob sie überhaupt noch lebten. Solche kleinen Gegenstände verbanden einen Ort mit einem anderen, an dem man schon gewesen war, es war ein wenig wie ein Heimwehschutz.


Alle Reisenden zogen ihre Koffer aus dem Netz, stemmten sie herunter, manche stiegen auf die Holzbank, um sie herunterzuhieven, man sagte sich "Auf Wiedersehen", und so zog er seinen alten Koffer, indem er ihn abstützte, auch aus dem Netz.
     Im Laufe der acht Jahre im Internat hatte sich doch einiges zusammengesammelt: alte Unterhosen von ehemaligen Mitschülern, zwei Hemden, die man ihm geschenkt hatte, und viele kleine violett umrandete Broschüren mit Auszügen aus den großen Werken der französischen Literatur: Voltaire, Chateaubriand, Vi­gny, Victor Hugo und vor allem von den großen Klassikern Pascal, Racine oder Bossuet, deren majestätische Prosa in ihm immer den Anblick von Prunksälen mit kannelierten Pilastern entlang der Mauern und bemalten Plafonds entstehen ließ und die er nun im Koffer rumpeln hörte. Darin lagen auch ein Nachthemd und seine Schulbücher für die Vorbereitung auf den zweiten Teil des Abiturs. In Frankreich bestand damals das Ab­i­tur aus zwei Prüfungen im Abstand von einem Jahr.


Herr von Weinbein schwieg, und dann standen sie beide unter hoher Verglasung zwischen grün bemalten schmalen Säulen in einem unendlichen Raunen von überall her, hinter den vielen Geräuschen waren Stimmen, Klingeln, Rollen, Rufe zu hören. Am Ausgang sagte Herr von Weinbein auf einmal: "Wir werden ein Taxi nehmen, und ich bringe Sie ins Hotel de l'Univers, Rue Jean-Jacques Rousseau, wo jemand Sie dann abholen wird."
     Sonderbar war es, daß er, Arthur Kellerlicht, selbst mitging, daß er dabei war, wie ein Zeuge, den er überall mit hinnahm, den er nie loswerden konnte, den er sogar auf dem Klo dabeihatte, beim Essen, Schlafengehen und bei allem anderen, der sich aber vor allem ins Fäustchen lachte, schon im Zuge hatte es angefangen, es war ihm, als ob er in einem Korsett mit Reißverschluß eingeschlossen war, und dabei sah er doch alles und wunderte sich, daß die grauen, ein wenig abgerundeten Hausfassaden so niedrig waren. Man kam auf eine Art erhöhte, gepflasterte Terrasse, die Gebäude davor schienen sich auf einmal zu erheben und mehrere Stockwerke hoch zu werden. Mit den Fingern zählte er ab, sechs Etagen übereinander.
     Dann fuhr man Taxi, saß auf brüchigem Leder in einem schmalen Gehäuse hinter dem breiten Rücken des hantierenden Chauffeurs, mit Blick auf halbierte Passanten und Schaufenster. Ab und zu öffnete sich die Sicht auf vor bläulichem Hintergrund verlaufende Straßenfluchten mit Balkonfassaden und unzähligen Fenstern, Schneisen, die den Blick in die Ferne leiteten. Immer wieder änderte das rot-schwarz lackierte Taxi die Fahrtrichtung, um einen herum waren überall andere Autos, hohe oder niedrigere, in denen auch Menschen saßen, Gesichter im Profil, die einen plötzlich ansahen, und es war, als trüge man sich selbst wie eine ans Fenster gehaltene Tafel. Stoßweise hielt der Wagen an Ampeln, Pferdewagen fuhren vorbei, man hatte die riesigen fast menschlichen Hintern auf Gesichtshöhe.
Auf einmal hielt der Wagen, und der Chauffeur streckte den Arm hinaus, um an einem kleinen Kasten zu drehen, an dem sich plötzlich ein kleines Schild aufrichtete: "LIBRE", frei. Herr von Weinbein lehnte sich zum Chauffeur vor und bekam einen Zettel für die ausgelegte Summe, stieg mit Kellerlicht die beiden Stufen zum Hoteleingang hinauf, verabschiedete sich von ihm und war verschwunden.
     Im Hotel war man im Bilde, in einem glasierten (mit Fenstern versehenen) Holzkasten saß ein älterer, müde aussehender Mann, der ihm sagte: "Morgen um drei Uhr werden Sie hier abgeholt, und man wird sich um Sie kümmern, ihre Verwandte hat angerufen, Sie sollen hier im Hotel essen und schlafen, junger Mann." Er reichte ihm den Zimmerschlüssel mit einem bronzenen Schild mit der Zimmernummer und dem Namen des Hotels, er lag schwer in der Hand, und auf der Rückseite des Schildes stand in Reliefbuchstaben, die man mit dem Finger ertasten konnte:

     SOLLTEN SIE VERGESSEN HABEN,
     MICH ABZUGEBEN, STECKEN
     SIE MICH IN DEN BRIEFKASTEN.

Er hatte noch nie, das fiel ihm jetzt auf, einen Schlüssel in der Hand gehalten, seit acht Jahren im Internat hatte man immer für ihn die Schlüssel im Schloß gedreht, gehört hatte er sie oft, jeden Schlüssel, so viele waren es nicht einmal, er hatte sie am Geräusch, wie sie sich drehten, erkannt. Und das Geräusch war besonders deutlich und laut, wenn er Karzer bekam, was, seitdem er sechzehn war, drei- oder viermal im Jahr passierte, bei trocken Brot und Wasser drei Tage und zwei Nächte und mit entsprechend kochenden Bestrafungen, wenn er wieder mal überrascht worden war, und er genug Strafpunkte gesammelt hatte.
     Und nun hatte er selbst einen Schlüssel zum Auf- und Zuschließen. Das Zimmer lag im ersten Stock, zur Rechten. Neben dem Gehäuse des Portiers war die Treppe, die er nun hochging. Zum ersten Mal nach vielen langen Jahren, er war damals noch ein kleiner Junge gewesen, stieg er einen roten, ein wenig am Ansatz zerschlissenen Läufer hinauf, es fühlte sich weich unter den Füßen an, das hatte er in seinem Leben bisher nur selten empfunden, nur wenn er barfuß im Büro stand, um gewogen oder bestraft zu werden. Es war ein rich­tiger Läufer, der vornehm auf jeder Stufe auflag, mit ­einer kupfernen Stange und einem Knauf an jedem Ende, eine lange, nicht sehr steile Treppe mit niedrigen Stufen, es war aber alles alt und muffig, rot tapeziert mit fleckigen Stellen.
     Und auf einmal stieg in ihm unerwartet die Treppe des Reinbeker Elternhauses auf, und dabei wußte er doch, wie man die schmerzhaften Erinnerungen von sich stößt, er hatte Übung darin und ließ die Eltern nie mehr in sich hochkommen, stemmte sie einfach weg.
Und nun in ihm die breite Treppe mit dem weißlackierten Geländer und den hie und da abgesprungenen Stellen, für die er sich gerne den Fingernagel hätte wachsen lassen, um unter die Farbschicht zu kommen, sie abzuheben, das ging ihm dann durch den ganzen Körper, wie beim Schorf, wenn man sich das Knie aufgeschlagen hatte. Es war ein grüner Läufer, und ihm war, als hörte er die Stimme der Mutter, wie sie die Treppe hinunterlief und dabei immer etwas ausrief. Auf dem Absatz, Gott weiß warum, stand das Telefon auf einem runden, kleinen Tisch vor dem hohen Fenster, das auf das Laub der Gartenbuchen ging, es hatte ihn gewundert, daß Möbel rund sein konnten. Sonderbar, wenn man die Treppe herauf- oder hinunterging, und man sich um sich selbst drehen mußte, als wäre man doppelt, um von einem Lauf zum anderen zu gelangen. Manchmal war er ganz schnell gelaufen, als ob er sich selbst auf dem Absatz treffen wollte.
     Einmal, auf einer Stufe sitzend, er hielt sich gerade an einem Stab des Geländers fest, hatte das Telefon geklingelt, und auf dem anderen Treppenabsatz hatte er den Vater heraufkommen und seine Glatze von oben sehen können, er hatte den rundlichen älteren Herrn im Streifenanzug, der mit sich selbst sprach, im Profil betrachtet. Es war eine trockene Gleichgültigkeit in ihm, als läge das nun alles links neben ihm, wie nach hinten verschoben.
     Vor ihm lag ein längerer Korridor, mit demselben Läufer wie auf der Treppe ausgelegt, an jeder Tür ein Nummernschild, auf seinem stand "14". Er drehte den Schlüssel im Schloß und befand sich in einem dunklen Zimmer mit einem breiten Bett und zwei großen mit Läden versperrten Fenstern. Einen kurzen Augenblick fragte er sich, ob es erlaubt war, sie zu öffnen.
     Als er sie nun öffnete, blickte er in einen engen Hof mit senkrecht übereinander verlaufenden Fenstern, man hörte Geschirrklappern, es war, als ginge er auf Stelzen, er gehörte nicht dazu, von ihm selbst war nur irgendein Jemand dabei, und er stand daneben, albern und pappig, er konnte nicht weg. Er schlug die großen Läden zurück, die man mit kleinen Haken an der Hauswand befestigen konnte, indem man das Ende der Haken nach oben klappte. Hochgeklappt sahen sie aus wie kleine gußeiserne Köpfe mit schräg sitzender Baskenmütze. Zum ersten Mal sollte er alleine in einem eigenen Zimmer schlafen. Alleine war er nur im Karzer gewesen, oben auf dem Dachboden, zur Strafe.

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Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages
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