Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin. Teil 3

23.11.2009.
(S. 1163 ff)
Vierter Teil: Materialismus und Messianismus


Erstes Kapitel
Ein problematischer Materialismus
(1)

1. Über einige Deutungen von Benjamins Verhältnis zum Materialismus

Die Vereinbarkeit der Geschichtsphilosophie Walter Benjamins - einer Geschichtsphilosophie, in der eine theologische, romantische und messianische Dimension aufscheint, die mit derjenigen in den Schriften Franz Rosenzweigs verwandt ist - mit seiner Bindung an den Marxismus und seiner Bezugnahme auf den Materialismus war seit den sechziger Jahren Gegenstand von Diskussionen und Polemiken. Die revolutionäre Bedeutung, die er dem Hier und Jetzt beimißt, seine Verurteilung des einfältigen Glaubens an den geschichtlichen Fortschritt, der gleichzeitige Rekurs auf die Marxschen Schriften und die jüdische Tradition sind ebenso faszinierend wie verwirrend. Was seine Thesen von 1940 "Über den Begriff der Geschichte" angeht, in denen diese Verknüpfung von Materialismus und Messianismus ihren eigentümlichsten Ausdruck findet, so haben sie zu oft widersprüchlichen Deutungen geführt. Auch wenn Benjamin ab 1924 unablässig seine Bindung an den Materialismus und sein Bekenntnis zum Marxismus bekräftigte, blieb er dabei doch fern aller Orthodoxie. Die Schwierigkeit, im Bereich der Literaturkritik die neuen Verbindungslinien zu erkennen, die er zwischen den metaphysisch-theologischen und den materialistischen Begriffen sah, taucht auch in seiner Geschichtsphilosophie wieder auf, wo romantische, messianische und materialistische Elemente unzertrennlich miteinander verbunden bleiben.

Gesteht man einmal zu, daß diese Konzeption eines Materialismus, wie Benjamin sie in Anspruch nimmt, einzigartig ist und sich keinesfalls auf die klassischen Modelle des dialektischen Materialismus - einschließlich des Brechtschen - zurückführen läßt, so bleibt immer noch die Frage, ob eine solche Verknüpfung materialistischer und theologischer Elemente kohärent durchgeführt werden kann, ohne sie zu synthetisieren oder miteinander zu verschmelzen. Dem Exegeten obliegt es, diese Verbindungen aufzuweisen.


Selbsttäuschung und subjektive Einheit:
die Bilanz der Diskussionen mit Scholem


Den radikalsten Zweifel an der Möglichkeit einer solchen Verknüpfung formulierte Scholem während des gesamten Briefwechsels, den er in den dreißiger Jahren mit Benjamin führte. In den Essays, die er Benjamin widmete, bringt er diesen Zweifel theoretisch zum Ausdruck. Während er den Fortbestand der theologischen Elemente in fast allen Texten Benjamins auch nach seinem Bekenntnis zum Materialismus - bis hin zur Methodologie der Passagen - hervorhebt, wird er jene Verknüpfung stets als permanente Selbsttäuschung anprangern.

Benjamins früheste Bekenntnisse seines Glaubens an die materialistische Methode waren ein dramatischer Moment ihrer Beziehung, der Beginn einer Krise ihrer Freundschaft und ihrer intellektuellen Symbiose. Sie riefen bei Scholem ungläubiges, fassungsloses Staunen hervor. Das Bild, das er sich von Benjamin gemacht hatte - das eines Literaturkritikers, eines Hamann nahestehenden Sprachphilosophen, der seinen Weg in der Vertiefung von Judentum und Romantik suchte und mit dem er libertäre, ja anarchistische Überzeugungen teilte -, schloß die Möglichkeit eines Bekenntnisses zu den marxistischen Dogmen und einem "radikalen Kommunismus"(2) aus. Benjamins Argumentation, die den heuristischen Aspekt der Einführung materialistischer Begriffe in seine Erkenntnistheorie nach dem Vorbild von Lukacs? Geschichte und Klassenbewußtsein betonte, nahm Scholem nicht ernst. Er war sofort geneigt, diese Entwicklung auf psychobiographische Faktoren und Einflüsse zurückzuführen.(3) Sein Urteil ist jedenfalls kategorisch: Das Bekenntnis zum Marxismus führte bei Benjamin zunächst zu einer "Zweigleisigkeit seines Denkens", einer "dialektische[n] Zersetzung", die dann die Form einer regelrechten geistigen "Spaltung"(4) annahm, wenn er sich bemühte, in seinen Texten unversöhnliche Perspektiven nebeneinander koexistieren zu lassen. In seinen Augen bemühte sich Benjamin krampfhaft, von der ihm eigenen metaphysisch-theologischen Denkweise zu einem ihm völlig fremden materialistischen Denken überzugehen. Einzig bestimmte Texte wie die Trauerspiel-Untersuchung oder der Essay über Kafka seien diesem Vorgang auf wundersameWeise entgangen.(5) Der Konflikt zwischen diesen beiden Perspektiven war in Scholems Augen für die Entfaltung seines Werkes schädlich; daher hatte er das Gefühl, die Bewunderung, die Benjamin für Brecht hegte, sei auf theoretischer Ebene wahrhaft katastrophal gewesen.

Diese Betrachtung der politischen Entwicklung Benjamins in Begriffen von "Krisen" und "Einflüssen" ist offenkundig zu einfach und übergeht völlig die Rechtfertigungen, die er in zahlreichen Briefen - nicht zuletzt an Scholem - dafür liefert. Außer psychobiographischen Erwägungen findet sich bei Scholem keine theoretische Erklärung. Ohne jedes Gespür für die Übergänge, die Verknüpfungen, die Benjamin zwischen seinen beiden Denkweisen herstellt, erkennt er nur so viel an, daß Benjamin dabei keine taktische Absicht verfolgt habe, daß diese Entwicklung vollkommen 'aufrichtig' war - wie die manchmal dramatischen Briefe, die sie miteinander austauschten, belegen. Dieses "rätselhafte [. . .] Nebeneinander" beziehungsweise diese "Verschränkung"(6) seiner metaphysischtheologischen und der materialistischen Denkart zeigte sich,
wie Scholem bemerkt, auch darin, daß es Benjamin unmöglich war, die Verbindungen mit den wesentlichen Grundlagen seines Werkes zu kappen, handele es sich um seine vom Judentum geprägte Sprachphilosophie oder um seine Bindung an die Romantik und den Messianismus. Daraus ergaben sich Scholem zufolge die zahlreichen Inkohärenzen, die die Benjaminschen Schriften nach 1924 kennzeichneten, selbst wenn sie seinen Texten "jenen Glanz aus der Tiefe" verleihen, "der sie von den meisten Produkten materialistischer Denkart und Literaturbetrachtung [. . .] so eindrucksvoll abhebt".(7)

Gegenüber solchen argumentativ begründeten, scharf formulierten Zweifeln an der Vereinbarkeit seiner theologischen und materialistischen Sichtweise blieben die Antworten Benjamins ambivalent. Stets sollte er den "heuristischen" Charakter dieser Auseinandersetzung mit dem Materialismus betonen, seine Begegnung mit dem Kommunismus als "Erfahrung" beschreiben, den möglichen Beitritt zur kommunistischen Partei "von einem letzten Anstoß des Zufalls abhängig" machen(8) und immer wieder seine Solidarität mit Brecht bekräftigen. Trotz der von Scholem ab 1926 häufig formulierten Ermahnungen, sich zu erklären, war deutlich, daß Benjamin die Auseinandersetzungen zu meiden suchte. Einerseits betonte er seine Distanz zum "vulgären Materialismus" und konzedierte andererseits die Aussichtslosigkeit seiner Position in der Gewißheit, daß die beiden widersprüchlichen Perspektiven, die seine Schriften kennzeichneten, sich irgendwo träfen und nicht in Widerspruch geraten könnten, ja, daß eine "Entscheidung" bevorstehe.

Die persönliche Begegnung, die sie 1927 in Paris hatten, löste das Unbehagen nicht auf. Scholem nahm den "intensiven Prozeß der Gärung" wahr, in dem sich Benjamin befand, und empfand vor allem das Zerbrechen von dessen bisheriger Weltanschauung, das Zerreißen ihrer Kohärenz, einen wahren Zustand "dialektische[r] Zersetzung".(9) In mehreren Briefen - vor allem in dem vom 20. Februar 1930 - ermahnte er ihn, seine Position zu klären, eine Seite der Alternative - Theologie oder Materialismus, Judentum oder Kommunismus - zu wählen. In seiner Antwort vom 25. April 1930 wollte Benjamin noch einmal Zeit gewinnen und erklärte, er müsse die abschließende Antwort auf die brieflich gestellte Frage "hintanhalten". Sie sei in der alternativen Form, in der Scholem sie formuliert hatte, "unlösbar". Er wies auf "das sehr verstrickte Knäuel" seiner Existenz, seine persönlichen Schwierigkeiten, das "große Provisorium" seines Lebens hin und schloß: "Es verengt sich alles zu einer Entscheidung, die nicht mehr lange auf sich wird warten lassen."10

Trotz ihres dramatischen Charakters schufen diese Zusammenstöße in ihrem Briefwechsel äußerst positive Spannungen. Scholem blieb gleichwohl davon überzeugt, daß Benjamins Bekenntnis zum Materialismus eine ständige Bedrohung für die Rigorosität seines Geistes sei. Diese Diskontinuität zwischen den Texten - etwa zwischen "Der Autor als Produzent" und dem Kafka-Essay - oder die Widersprüche innerhalb ein und derselben Schrift - etwa in dem Essay über Karl Kraus -, die anfangs, von terminologischen Anleihen beim dialektischen Materialismus abgesehen, kaum zu bemerken waren, sollten dann, wenn man der Deutung Scholems folgt, in den dreißiger Jahren überdeutlich werden. Er sah darin das Ergebnis von ihrerseits widersprüchlichen Einflüssen Adornos und Horkheimers einerseits, Lacis? und Brechts andererseits.(11) Diese Begegnungen - die bei Scholem zunächst Mißfallen und Unbehagen weckten - hätten am Ursprung der Radikalisierung der materialistischen Dimension in seinem Werk gestanden. Eine solche Behauptung entbehrt nicht der Wahrheit, verstärkt jedoch tendenziell das Bild eines 'passiven' Benjamin - Scholem weist gern auf sein Zögern, seine inneren Hemmungen hin -, der fortwährend diametral gegensätzlichen Einflüssen ausgesetzt ist, von denen er sich nicht zu lösen vermag. In Wirklichkeit nötigte ihn gerade die Schwierigkeit, die auseinanderliegenden Positionen Brechts und Adornos miteinander zu vereinbaren, zu einer ständigen kritischen Prüfung ihrer jeweiligen Erkenntnisgehalte. Die theoretischen Diskussionen, die er mit ihnen führte - die mit Adorno zum "Baudelaire", die mit Brecht über Kafka -, zeigen, daß Benjamin seine Unabhängigkeit im Denken stets bewahrt und die Eigenheit seiner Kategorien niemals geopfert hat.

Die Kontroversen zwischen Scholem und Benjamin, die die Abfassung der Essays über Karl Kraus oder über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks hervorrief, mußten Scholem in seiner Gewißheit bestätigen, daß es sich um eine wirkliche Abirrung von Benjamins Problemstellung handelte, um eine Verleugnung seiner ureigensten Gedanken, die seinem Werk nur schaden konnte. Diejenige Seite seines "Janushauptes"(12), die er dem "Sowjetstaate" zuwandte, verbarg er Scholem, entzog er dem Judentum, dem Boden, in dem alle seine Anschauungen wurzelten.13 Obwohl er sich zu den revolutionären Idealen hingezogen fühlte, bleiben die Kategorien Benjamins "in allem Entscheidenden die des Metaphysikers, der zwar eine Dialektik der Betrachtung entwickelt hat, die aber von der materialistischen himmelweit entfernt ist. Seine Einsichten sind die eines ins Profane verschlagenen Theologen. Aber sie treten nun nicht mehr unverstellt als solche auf. Benjamin übersetzt sie in die Sprache des historischen Materialismus."(14) An der Deutung, die Scholem von Benjamins politischer Entwicklung, seiner "materialistischen Wendung" gibt, wird sich nichts ändern. Sie ist offensichtlich ungenügend. Daß jedoch in seinen letzten Texten das Nebeneinander der beiden Dimensionen, der materialistischen und der theologischen, mit ihren eher angedeuteten als theoretisch ausgearbeiteten Verknüpfungen eine offene Frage bleibt, ist nicht zu bestreiten.

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(1) Palmier als erste postume Veröffentlichung Jean-Michel Palmiers unter dem Titel "Un materialisme problematique" in der Zeitschrift Lignes, Mai 2003.>
(2)
(3) Scholem betont wiederholt die Einsamkeit Benjamins und dessen Sehnsucht, sich einer "Gemeinschaft" anzuschließen, "und sei es selbst der apokalyptischen der Revolution" . Er macht für diese Entwicklung die Einflüsse Blochs, Adornos, Brechts und vor allem Asja Lacis? verantwortlich, die zwischen Benjamin und der sowjetischen Erfahrung die Funktion eines Katalysators übernahm. Während Scholem später sein vorschnelles Urteil über die Theoretiker der Frankfurter Schule und noch später über Bloch revidierte, blieb er gegenüber Brecht und Lacis stets feindselig eingestellt.
(4) Die politische Entwicklung Benjamins erschien ihm als ein beinahe krankhafter Prozeß. Es ist die Rede von "Anzeichen", Verdopplung, schädlichen Auswirkungen, die sich erst nach einer mehrjährigen "Inkubationsfrist" zeigten. Scholems systematische Tendenz, diese Entwicklung zu 'psychologisieren', gipfelt in sehr abfälligen Bemerkungen über die Beziehungen Benjamins zu Asja Lacis Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 155ff., 168>.
(5) Scholem weist darauf hin, daß das Trauerspiel-Buch - das zu einer Zeit verfaßt wurde, in der Benjamin daran dachte, sich der kommunistischen Partei anzuschließen - sich auf keine einzige marxistische Kategorie beruft und daß der Kafka-Essay trotz der politischen Diskussionen, die er mit Brecht über den Prozeß geführt hatte, wesentlich auf einer theologischen Perspektive fußt.
(6) Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S.156.
(7) Ebd., S. 156 f.
(8) Brief an Scholem vom 29. Mai 1926, GB III, S.159.
(9) Dieses Gefühl war um so einschneidender, als Benjamin zur selben Zeit, als er seine Solidarität mit Brecht erklärte, Scholem nach der Theorie der Engel in der Kabbala befragte und den Plan faßte, Hebräisch zu lernen und nach Palästina zu kommen. So erklärt sich das Bild eines "Janusgesicht[s]", das Scholem bei Benjamin feststellt: die eine Seite ihm, die andere Brecht zugewandt. Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 172ff., 246, 260.>
(10) Brief an Scholem vom 25. April 1930, GB III, S. 520 f.
(11) "Das Erscheinen stärkerer marxistischer Akzente von 1929 an hängt offenbar mit Asja Lacis? und Brechts Einfluß zusammen, bevor Adorno und Horkheimer [. . .] einen weiteren Durchbruch in dieser Richtung bei ihm hervorriefen" (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, S. 199). Nach der Begegnung mit Brechts "marxistischen Mentoren" Karl Korsch und Fritz Sternberg habe sich die Situation verschärft. Scholem sollte den Einfluß Brechts auf Benjamins Arbeiten der dreißiger Jahre stets "für unheilvoll, in manchem auch für katastrophal" halten .
(12) Brief an Scholem vom 14. Februar 1929, GB III, S. 438.
(13) Die von Hannah Arendt entwickelte Position ist in diesem Punkt von derjenigen Scholems nicht weit entfernt. Sie bezeichnet Benjamin als "de[n] seltsamste[n] Marxist[en] [. . .], den diese an Seltsamkeiten nicht arme Bewegung hervorgebracht hat", und beschränkt seinen Materialismus lediglich auf eine "heuristisch-methodische Anregung", für welche "die historischen wie die sachlich-philosophischen Hintergründe ohne Belang" geblieben seien (Arendt, "Walter Benjamin", in: Schöttker/Wizisla (Hg.), Arendt und Benjamin, S. 57).
(14) Vortrag Scholems über Walter Benjamin.

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Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages

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