Vorgeblättert

Leseprobe zu Wolfgang Kraushaar: Verena Becker und der Verfassungsschutz. Teil 1

Die Verdachtsmomente

Die Widersprüche, Unterlassungen und Fragwürdigkeiten, die im Laufe der letzten drei Jahre im Fall Buback/Becker aufgetaucht sind, muten zahllos an. Insbesondere das Schuldenkonto, das auf Verena Becker lastet, ist enorm angewachsen. Um im Dickicht der Be- und Zuschreibungen nicht den Überblick zu verlieren, empfiehlt es sich, die einzelnen Verdachtsmomente, die für ihre unmittelbare Tatbeteiligung und eine Deckung ihrer Person von staatlicher Seite sprechen, aufzulisten und kritisch zu überprüfen.

1. Der Verzicht auf eine Anklageerhebung gegen Becker im Mordfall Buback

Der wichtigste Punkt für den Verdacht einer Deckung ist nach wie vor die Tatsache, dass trotz schwerwiegender Verdachtsmomente weder gegen sie noch gegen Sonnenberg Anklage wegen der Ermordung des Generalbundesanwalts erhoben worden ist und wohl auch nicht werden wird. Vier Wochen nach einem spektakulären Anschlag wie dem Karlsruher Attentat mit der Tatwaffe auftauchen zu können, ohne sich danach auf der Anklagebank wiederzufinden, das muss schon Gründe haben. Becker hätte lediglich einmal gefragt werden müssen - was schon bei einer wegen eines geringfügigeren Delikts als eines Mordanschlages Verdächtigten die Regel ist -, ob sie für den Morgen des 7. April 1977 ein Alibi hat. Das scheint nicht geschehen zu sein. Und falls doch, dann ist die Antwort darauf vorenthalten worden. Die Vermutung, dass es eine schützende Hand für sie gegeben haben muss, steht nach wie vor im Raum.

Für die Aussetzung ihrer Strafverfolgung könnte es sogar eine rechtliche Grundlage gegeben haben. Denn es existieren geheim gehaltene »Zusammenarbeitsrichtlinien« für die Kooperation zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft auf der einen und den Geheimdiensten auf der anderen Seite. In § 14 dieser als »Verschlußsache« firmierenden und »Nur für den Dienstgebrauch« gedachten Anweisungen heißt es: »Die Strafverfolgungsbehörden beachten unter Berücksichtigung der Belange des Verfahrens das Sicherheitsinteresse der Verfassungsschutzbehörden, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass ein Beschuldigter, Zeuge oder sonst am Verfahren Beteiligter geheimer Mitarbeiter der genannten Behörden ist oder war.«

Ein anderes immer wieder zu hörendes Argument lautet, dass es aus Gründen der Zeitökonomie im Fall des Buback-Attentates nicht zu einem Prozess gegen Becker gekommen sei. Im Jahre 1977 hätten sich die Ereignisse regelrecht überschlagen, und am Ende sei man froh gewesen, sie überhaupt in diesem Jahr noch verurteilt zu haben. Ganz unzweifelhaft hat die Herausforderung der RAF, die mit dem Racheakt gegen den Generalbundesanwalt begann, der Ermordung des Bankiers Ponto weiterging und mit der Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Schleyer im sogenannten Deutschen Herbst kulminierte, zu einer Krise der Inneren Sicherheit geführt. Und in der Tat hatte es damals vor dem Hintergrund des Stammheimer Hauptverfahrens gegen die RAF, das durch die Blockadehaltung der Angeklagten, dem Ungeschick des Gerichtsvorsitzenden und eine Antragsflut der Verteidigung ein ums andere Mal ausgebremst worden war, eine Debatte über mögliche Schritte zu einer Beschleunigung in der juristischen Bewältigung des RAF-Terrorismus gegeben. Überlegungen zur Zeitökonomie waren also keineswegs an den Haaren herbeigezogen und besaßen durchaus einen Stellenwert. Dennoch muss dieser Gedanke im Zusammenhang mit dem Mordanschlag auf Siegfried Buback und seine beiden Begleiter abwegig und eher wie ein Ablenkungsmanöver erscheinen. Allein der abstrakte Gedanke, die Aufklärung des Attentates auf den höchsten Staatsanwalt der Republik und die Verfolgung der Täter aus utilitaristischen Beweggründen opfern zu wollen, mutet verdächtig an - zumal wenn er von Vertretern des Staates und der Justiz geäußert wird, die ansonsten nichts unversucht lassen, um ihre Loyalität dem Rechtsstaat gegenüber unter Beweis zu stellen. Wie eigentlich hätte die Bekämpfung des Terrorismus weiter gerechtfertigt werden sollen, wenn gerade die Strafverfolgung im Falle des ermordeten Generalbundesanwalts auf eine nicht nachvollziehbare Weise außer Kraft gesetzt worden wäre?

2. Beckers Herausnahme aus der Fahndung

Sichtbar könnte eine schützende Hand bereits im April 1977 kurz nach dem Karlsruher Anschlag geworden sein. Für die überraschende Wendung, die damals bei der Fahndung nach den mutmaßlichen Tätern eingetreten ist, hätte ein Hitchcock-Film Pate stehen können. Titel: »Eine Dame verschwindet«. Zunächst wird am Abend des Buback-Attentates in der Tagesschau das Bild eines Zeugen eingeblendet. Es handelt sich dabei um einen Autofahrer, der von einem auf der Nebenspur an der Ampel haltenden Pkw aus das Verbrechen verfolgt hat. Der Nachrichtensprecher erklärt dazu: »Dieser unmittelbare Zeuge des Überfalls auf Buback, ein Jugoslawe, berichtete, dass der Beifahrer auf dem Motorrad möglicherweise eine Frau gewesen sei.« Einen Tag später jedoch ändert sich das schlagartig. Am Karfreitag, dem 8. April, werden in der Tagesschau plötzlich drei Männer als Tatverdächtige präsentiert und sogar deren Namen genannt: »Bei der Fahndung nach den Mördern des Generalbundesanwalts Buback und seines Fahrers Göbel gibt es möglicherweise eine erste heiße Spur. Das BKA in Wiesbaden sucht aufgrund von Zeugenaussagen den der Tat dringend verdächtigen terroristischen Gewalttäter Günter Sonnenberg. Sonnenberg ist 22 Jahre alt. Außer ihm wird nach dem 24-jährigen Christian Klar und dem 25-jährigen Knut Folkerts gefahndet.« Zu sehen sind Porträtaufnahmen der drei Männer. Im Anschluss daran wird der Leiter der Abteilung Terrorismus im Bundeskriminalamt Gerhard Boeden interviewt.

Auf die Frage des ARD-Reporters, warum plötzlich nicht mehr nach einer weiblichen Mittäterin gesucht werde, antwortet der BKA-Beamte lapidar: »Nun, wenn Sie sich die Fahndungsfotos ansehen, dann kann man nicht ausschließen, dass einer der drei Beteiligten so aussieht, wie auch eine Frau aussehen kann.« Da Sonnenberg und Folkerts als Bartträger abgebildet werden, im Gegensatz dazu Klar keinen Bart trägt und eher feminin wirkt, dürfte Boeden wohl Letzteren gemeint haben. Durch Boedens Auftritt entsteht in der Öffentlichkeit ein prekärer Eindruck: »Das Verbrechen erschien somit am Tag danach bereits aufgeklärt, es galt nur noch, die nun bekannten Täter zu ergreifen.« Das war eine völlig trügerische Erfolgsmeldung. Es wurde der Eindruck vermittelt, als habe man genaue Kenntnisse von der Tat und brauche nur noch auf Hinweise aus der Bevölkerung zu warten, um die Täter in Gewahrsam zu nehmen.

Währenddessen fahndet die BKA-Zentrale in Wiesbaden aber nach einem etwas anders zusammengesetzten Trio - nach Sonnenberg, Klar und Becker. Der Leiter der Sonderkommission Buback beim BKA, Rainer Hofmeyer, hat das jedenfalls in einem im Juni 2008 vom SWR ausgestrahlten Rundfunkfeature klipp und klar festgestellt. Auf die Frage, nach welchen Personen gefahndet worden sei, antwortete er: »Günter Sonnenberg, Verena Becker, Christian Klar - diese Namen waren alle in unserem Zielspektrum.« Ganz offensichtlich hat sich die Abteilung Terrorismus des BKA in Bonn-Bad Godesberg also anders orientiert als die Zentrale des BKA in Wiesbaden. Dieser eklatante Widerspruch tritt auch in einem anderen Dokument zutage. Am selben Tag, an dem Boeden sein fragwürdiges Tagesschau-Interview gegeben hat, am 8. April 1977, taucht in der täglichen Lagemeldung des Bundeskriminalamtes die Zeugenaussage des Jugoslawen auf, der den Ablauf der Tat aus unmittelbarer Nähe verfolgen konnte. Darin heißt es: »[?] der Beifahrer, möglicherweise eine Frau, schoß mit einer automatischen Schnellfeuerwaffe.« In keinem anderen Punkt als der Geschlechterfrage verrät sich stärker die Diskrepanz zwischen der BKA-Zentrale und der BKA-Abteilung TE. Warum Boedens »falsche Weichenstellung mit langfristiger Wirkung« (Michael Buback) erfolgt ist, bleibt schleierhaft. Was also könnte ihn bewogen haben, Verena Becker aus der Schusslinie herauszunehmen? Gab es spezifische Verbindungen der 1975 zur Bekämpfung des RAF-Terrorismus gegründeten Abteilung TE zum Verfassungsschutz oder einem anderen Geheimdienst? Der BKA-Mann, der 1987 selbst Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz wurde und im Mai 2010 verstorben ist, hat sich nach seiner Versetzung in den Ruhestand nie zu dieser oder anderen Fragen öffentlich geäußert.

Angeklagt und verurteilt wurde dann jedoch nicht das von Boeden genannte Trio Sonnenberg, Klar und Folkerts, sondern ein anderes. Ebenso wenig wie Becker ist auch Sonnenberg vor ein ordentliches Gericht gestellt worden. Dritte im Bunde der Angeklagten wurde - wie durch eine Wunderhand gelenkt - Brigitte Mohnhaupt. Sie galt ja als die Figur, an die die RAF-Spitze zu Beginn des Jahres 1977 die Führungsrolle delegiert hatte. Gegen sie aber lagen keinerlei Indizien vor, die auf eine konkrete Beteiligung an den Karlsruher Verbrechen hätten hinweisen können. Sie konnte daher im Fall Buback auch nur als »Rädelsführerin« verurteilt werden. Die Verdachtsmomente gegen Sonnenberg und Becker waren ungleich höher als gegen diejenigen, die schließlich verurteilt wurden.

Der Grund für die Herausnahme Sonnenbergs könnte darin gelegen haben, dass sein Erscheinen auf der Anklagebank unweigerlich die Frage nach sich gezogen hätte, warum dort nicht auch Verena Becker hatte Platz nehmen müssen. Schließlich waren sie zusammen in der Nähe von Singen mit der Tatwaffe des Buback-Mordes in einer sie kompromittierenden Situation verhaftet worden. Zu Sonnenberg heißt es am Rand der Urteilsbegründung im Fall Mohnhaupt/Klar, dass die Bundesanwaltschaft im Hinblick auf dessen Beteiligung am Anschlag auf Generalbundesanwalt Buback und seinen Begleitern am 15. Januar 1982 mit einer Verfügung »von der Verfolgung abgesehen« hätte. Eine explizite Begründung wird dafür nicht angegeben. Es heißt lediglich, die Bundesanwaltschaft habe sich dabei auf § 154 Abs. 1 der Strafprozessordnung bezogen. Es heißt dort: »Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, 1. wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt.«

Die Ansicht, dass es sich stattdessen bei Becker und Sonnenberg um die mutmaßlichen Buback-Attentäter gehandelt haben könnte, hatte sich nach Singen noch länger in der Presse gehalten. Kurz nachdem Bubacks Nachfolger Kurt Rebmann von Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel im Sommer 1977 in sein neues Amt eingeführt worden war, ließ es sich ein Journalist der Frankfurter Rundschau nicht entgehen, ihn darauf anzusprechen, warum in der Anklageschrift gegen Günter Sonnenberg nicht davon die Rede sei, dass er am Mord an Generalbundesanwalt Buback beteiligt gewesen wäre. Rebmann antwortete abwiegelnd, jedoch nicht ohne die RAF-Frau als Erste zu nennen: »Nun, die Anklage gegen Becker und Sonnenberg bezieht sich nur auf die beiden versuchten Morde in Singen. Das ist ein abgrenzbarer Tatkomplex. Ich halte es für richtig, einen klar abgrenzbaren Sachverhalt schnell anzuklagen, damit die Strafe der Tat möglichst schnell auf dem Fuß folgt. Das braucht man auch zur rechtlichen Befriedigung der Bürger. Die Frage, ob Sonnenberg und Becker im Falle Buback Mittäter waren oder die Alleintäter waren, wird weiterhin geprüft.« Der Journalist Werner Hill lässt jedoch keineswegs locker und hakt noch einmal nach: »Aber das ist natürlich etwas unbefriedigend, weil man doch die beiden praktisch schon als Täter angesehen hat und die Öffentlichkeit jetzt von einer Anklageschrift hört, in der dieser eigentliche Vorwurf nicht enthalten ist.« Rebmann, erneut abwiegelnd: »Nun, ich könnte mir denken, daß die Ermittlungen im Falle Buback eben noch gewisse Schwierigkeiten machen. Wahrscheinlich ist die Beweislage noch nicht so weit geklärt, daß Anklage erhoben werden kann gegen Becker und Sonnenberg.« Dieses Argument ist in der Folge immer wieder aufgegriffen worden. Angeblich habe es der Anklage gegen Sonnenberg und Becker an stichhaltigen Beweisen gefehlt. Das jedoch ist angesichts der unmittelbar nach dem Attentat vorliegenden Indizien über Tatverdächtige und Zusammenhänge fadenscheinig, wie inzwischen insbesondere durch das BKA-Schaubild bekannt gemacht und auch hier noch einmal ausgeführt worden ist.

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