Vorgeblättert

Leseprobe zu Wolfgang Kraushaar: Verena Becker und der Verfassungsschutz. Teil 2

3. Der Verdacht der Unterdrückung von Beweismitteln

Die Nichtberücksichtigung von Zeugenaussagen, in denen es um eine zierliche, möglicherweise weibliche Person ging, die beim Attentat vom Soziussitz aus die tödlichen Schüsse abgegeben hat, sind inzwischen so zahlreich, dass es überflüssig ist, sie an dieser Stelle noch einmal der Reihe nach zu rekonstruieren. Michael Buback, der einen enormen Aufwand betrieben hat, um derartige verloren gegangene oder vielleicht absichtlich unterdrückte Aussagen zusammenzustellen, spricht inzwischen von nicht weniger als 21 Zeugen, die diesbezügliche Aussagen gemacht haben sollen, die jedoch nicht weiter verwendet bzw. ignoriert worden sind. Zwei davon haben ihre Beobachtungen von einem Auto aus gemacht und von den 19 weiteren sind elf am Tattag und die anderen zuvor erfolgt.

Zur Unbrauchbarkeit der vom BKA festgestellten Haarspur: In einem der beiden Motorradhelme, die das Täterpaar auf der Suzuki getragen hatte und die zusammen mit der Maschine in der Brückenpfeilerkammer unter der Autobahnbrücke Wolfartsweier gefunden worden waren, fand sich eine Haarspitze, die mit jenen Haaren identisch war, die aus Beckers Haarbürste stammten, die nach der Festnahme in Singen gesichert worden war. Diese Spur wäre von zentraler Bedeutung gewesen, weil sie Beckers Identität mit jener Person auf dem Soziussitz der Suzuki hätte nachweisen können. Im Schaubild des BKA wird das deshalb auch festgehalten. Durch eine DNA-Analyse, wie sie ja inzwischen auch im Falle der von Becker zugeklebten Bekennerschreiben nachgeholt worden ist, hätte man klären können, ob es sich dabei um einen unumstößlichen Beweis handelt. Doch später soll sich herausgestellt haben, dass diese Haarspitze unbrauchbar geworden sei. Warum aber?

Bemerkenswert ist auch, dass die Bundesanwaltschaft zu dem Schluss gelangt ist, der in Singen sichergestellte Suzuki-Schraubendreher könne nicht mit dem des Tatmotorrads identisch sein. Die von Gerhard Boeden geleitete Abteilung Terrorismus des Bundeskriminalamtes hatte im August 1977 überraschenderweise eine Nachermittlung in Gang gesetzt. Der Geschäftsführer des Düsseldorfer Motorradgeschäftes, in dem am 2. April 1977 mit Sonnenberg der Mietvertrag für das Tatmotorrad abgeschlossen worden war, hatte in einer merkwürdig anmutenden Erklärung die Nichtidentität des Schraubendrehers festgestellt. Durch diese mit besonderem Aufwand betriebene Zeugenaussage konnte eine wichtige Verknüpfung außer Kraft gesetzt werden. Michael Buback hat diesen Vorgang akribisch untersucht und im Anschluss daran deutlich gemacht, dass ihn dieser Schachzug nicht überzeugt, sondern eher noch misstrauischer gemacht habe. Wer hat eigentlich, so ist zu fragen, den Auftrag zu dieser Nachermittlung erteilt?

Es gibt jedoch andererseits keinen Automatismus, um vom zeitweiligen Besitz einer Tatwaffe auch auf ihre Verwendung zur Begehung einer Tat durch dieselbe Person zu schließen. Die Vielzahl der Augenzeugenberichte hat aber das Profil der für die Abgabe der tödlichen Schüsse infrage kommenden Person zu einer kleinen, wahrscheinlich weiblichen Verdächtigen verdichtet. Innerhalb der RAF sind Anfang 1977 eine ganze Reihe von Frauen bei Gewaltaktionen in Erscheinung getreten, die den Zeugenbeschreibungen in ihrer Körpergröße entsprechen könnten. Dazu zählt etwa auch die 1,59 Meter große, im Dezember 1975 an der Geiselnahme der OPEC-Konferenz in Wien beteiligte Gabriele Kröcher-Tiedemann. Die 1995 einem Krebsleiden erlegene Terroristin war 1975 mit Becker zusammen freigepresst worden, ebenfalls in den Südjemen geflogen, um sich in einem Trainingslager von Haddads PFLP ausbilden zu lassen, und galt als geübte Schützin. Der ominöse Koffer, der von Becker vor dem Antritt ihrer Zugreise zum Hohentwiel nach Zürich abgeschickt worden war, könnte für sie gedacht gewesen sein. Denn genau zu dieser Zeit hielt sich Kröcher-Tiedemann in der Schweizer Metropole auf. Sie hätte einen Monat zuvor also durchaus auch in Karlsruhe zum Einsatz gekommen sein können. In der konkreten Frage nach der mutmaßlichen Todesschützin dürfte es jedenfalls immer noch einen nicht ganz unerheblichen Spielraum geben.

Warum hat mit Kay Nehm Rebmanns Nachfolger als Generalbundesanwalt 1994 das Bundeskriminalamt angewiesen, »die Spurenakten zum Mordfall Buback zu vernichten«? Angeblich aus Platzgründen. Angesichts der seit Langem zur Verfügung stehenden Möglichkeit, umfangreiche Aktenbestände auf Mikrofilm zu sichern, wirkt das jedoch wie vorgeschoben. Damit lassen sich all jene Spuren, die im Ermittlungsverfahren eine Rolle gespielt haben, nicht mehr rekonstruieren. Das ist in einem Fall, in dem es um dreifachen Mord geht und der nicht verjährt, unverantwortlich und verdächtig zugleich.

Warum ist Verena Beckers Tagebuch, das nach der Schießerei bei Singen in ihrem Gepäck aufgefunden wurde, unter Verschluss gehalten und in ihrem Prozess vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht nicht verwendet worden? Michael Buback erfuhr von dessen Existenz erst auf Umwegen und eher zufällig im September 2008. Mit einem ersten Versuch, sich bei der Bundesanwaltschaft Gewissheit darüber zu verschaffen, war er noch ins Leere gestoßen. Bundesanwalt Walter Hemberger hatte ihm geantwortet, er hätte zwar schon einmal davon gehört, bei Nachfragen unter seinen Kollegen jedoch dafür keine Bestätigung bekommen können. Erst in einem zweiten Anlauf stellte sich im Februar 2009 heraus, dass bei einer »Nachschau« unter den Sachakten des Ermittlungsverfahrens gegen Verena Becker die Kopie eines Notizbuchs gefunden worden wäre, das mit hoher Wahrscheinlichkeit Becker zuzuordnen sei. Warum aber ist dieses bedeutende Dokument nicht von Bundesanwalt Joachim Lampe, der in dem Stammheimer Gerichtsverfahren die Anklage gegen Becker vertreten hat, eingebracht worden?

Und warum fehlen in dem Notizbuch bzw. in der Kopie des Notizbuches die Seiten vom 15. Februar bis zum 8. April? Sie sind herausgerissen worden. Unklar ist allerdings, wann und von wem. Noch vor der Festnahme am 3. Mai in Singen oder erst im Anschluss daran? Wenn dies danach geschehen sein sollte, dann wäre das ein eindeutiger Hinweis auf einen Vertuschungsversuch. Gerade diese Aufzeichnungen, von denen die meisten verschlüsselt waren, hätten für die Aufklärung des Buback-Attentates von höchster Bedeutung sein können. Sollte sie selbst, was nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, die Seiten aus Sicherheitsgründen herausgerissen haben? Gegen diese Vermutung spricht allerdings, dass sie das Kalendarium überhaupt weiter bei sich hatte. Sehr viel wahrscheinlicher ist die Annahme, dass jemand die fehlenden Seiten nach ihrer Festnahme entfernt hat, um Spuren und damit mögliche Indizien für ihre unmittelbare Tatbeteiligung zu vernichten. Die Tatsache, dass sich erst nach drei Jahrzehnten und nur mit großer Mühe ein Existenzbeweis für Beckers Aufzeichnungen erbringen ließ, verstärkt die Verdachtsmomente erheblich.

Warum bleibt eigentlich auch Beckers Begnadigungsakte verschwunden? Aus den Unterlagen müsste ersichtlich sein, mit welchen Argumenten sich Generalbundesanwalt Rebmann am 22. Juli 1989 für eine Begnadigung Beckers eingesetzt hat. Und vielleicht sogar, welche Faktoren seitens der zuvor an der Beratung beteiligten Behörden - der Bundesanwaltschaft, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst - Berücksichtigung gefunden haben.

4. Die Herausnahme von Verena Becker aus den verschiedenen von der Bundesanwaltschaft verfassten Anklageschriften

Michael Buback hat bereits in der ersten Fassung seines Buches moniert, dass Verena Becker in einem Abschnitt der Anklageschrift gegen Knut Folkerts zwar noch aufgeführt wird, im Gegensatz dazu jedoch in der Anklageschrift gegen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar vollständig fehlt. Es handelt sich um die »Ermittlungen zur Tatwaffe«. Während bei Folkerts noch von der »Festnahme von Günter Sonnenberg und Verena Becker« die Rede ist, wird in der Anklage der beiden anderen nur noch von der »Festnahme von Günter Sonnenberg« gesprochen. Kann man die Eliminierung einer Tatverdächtigen in einer Anklageschrift noch mit Zufall erklären?

Die Meldung, dass Becker hochgradig verdächtig war, an dem Kölner Banküberfall vom 12. April 1977 und auch an dem in Düsseldorf vom 15. April beteiligt gewesen zu sein, wird weder bei den Ermittlungen noch bei den Gerichtsverfahren berücksichtigt. Das ist umso erstaunlicher, als die Bundesanwaltschaft davon informiert gewesen ist. Michael Buback hat überdies darauf hingewiesen, dass die Aktenzeichen - »1 BJs 26/77« (Attentat) und »BJs 27/77« (Banküberfall) sogar unmittelbar aufeinander gefolgt sind. Das zu übersehen, kann kein Zufall gewesen sein.

5. Der Verdacht der Manipulation einer Verfassungsschutzakte

Am heftigsten umkämpft war die Verfassungsschutzakte, in der sich das Protokoll der von Becker dem BfV gegenüber gemachten Aussagen befinden sollen. Inzwischen sind Zweifel aufgetaucht, was den Inhalt des nach wie vor als geheim eingestuften Dokuments anbetrifft. Denn im entscheidenden Punkt ist ein klärungsbedürftiger Widerspruch aufgetreten. Die Akte besteht - wie bereits erwähnt - aus zwei verschiedenen Teilen, einem 227 Seiten umfassenden Operativvermerk, in dem die bei der Vernehmung der Quelle gemachten Aussagen enthalten sind, und einem dazugehörigen 82-seitigen Auswertevermerk, der auf der Grundlage des ersten Dokuments vom BfV in Köln angefertigt worden ist. Die von Becker angeblich zum Karlsruher Attentat abgegebene zentrale Information, dass Sonnenberg das Motorrad gelenkt, Wisniewski geschossen und Klar im Wagen auf die flüchtenden Täter gewartet habe, taucht im Operativvermerk, also dem eigentlichen Vernehmungsprotokoll, überhaupt nicht auf. Das jedenfalls ist Michael Buback und seiner Frau, denen ja eine Einsicht in das Geheimdokument gewährt worden ist, bei ihrer Lektüre aufgefallen.

Die Frage ist nun, wie kommt eine solche Aussage in eine Auswertung, den sogenannten Aussagevermerk, überhaupt hinein? Gab es noch eine andere, zusätzliche Grundlage für die Auswertung, oder aber ist diese Aussage »erfunden« worden, um die Tatverdächtige zu schützen? Die erste Möglichkeit würde der vom damaligen Bundesinnenminister Schäuble dem Sohn des Attentatsopfers im Juli 2007 gegebenen Zusicherung widersprechen, dass die Generalbundesanwältin über die Ergebnisse der von Becker gegebenen Auskünfte »umfassend« in Kenntnis gesetzt worden sei. Danach könne, so schlussfolgert Michael Buback, die dem Generalbundesanwalt übergebene Verfassungsschutzakte eigentlich nicht unvollständig sein. Demnach dürfte Becker bei ihrer Befragung gar keine Aussage über die Karlsruher Täter gemacht haben.

Die zweite Möglichkeit wäre ein Manipulationsversuch mit weitreichenden Folgen. Worin diese bestanden haben könnten, hat Michael Buback in einem Interview bereits zum Ausdruck gebracht: »Diese Ergänzung war günstig für Verena Becker, denn, wenn drei Männer die Tat verübten, wie es im Behördenzeugnis steht, käme sie ja nicht als unmittelbare Mittäterin in Betracht. Zudem kann man aufgrund der Tatsache, dass sie eine Aussage über die Täter gemacht hat, argumentieren, sie stehe jetzt auf der richtigen Seite und unterstütze die Ermittler, sodass man ihr eher Vorteile wie Hafterleichterung, Bezahlung und frühe Gnadenwürdigkeit gewähren könnte.« Dies ist natürlich nur eine Vermutung. Aber ohne plausibel erscheinende Vermutungen lässt sich in einem Fall, in dem von staatlicher Seite ein ums andere Mal »gemauert« worden ist, kein Erkenntnisgewinn erzielen. Unabhängig davon, welche der beiden Varianten zutrifft, zeigt sich jedoch wieder einmal, dass sich auch bei der einzig vorliegenden Aussage der Tatverdächtigen, zu der es ohnehin einen nur sehr eingeschränkten Zugang gibt, die Hoffnung auf eine Klärung der in den Tatvorgang Involvierten bereits im ersten Ansatz zu verflüchtigen scheint.

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