Vorgeblättert

Stephan Wackwitz: Neue Menschen. Teil 3

29.08.2005.
S. 237ff

Novelle

Zehntausende junge Deutsche haben in den Siebziger Jahren schriftlich den Eintritt in totalitäre Parteien und Organisationen erklärt - oft nach langen, abschreckenden Initiationszeiten und -riten; nachdem sie viel Zeit gehabt hätten, sich noch einmal eines Besseren zu besinnen. Nicht nur ich bin damals ins soziale Nichts hinausgesprungen. Viele andere, befangen in ihren eigenen Seelendrehbüchern, waren genauso dumm wie ich. Wir haben inzwischen vergessen (vergessen wollen), daß der Neuleninismus zwischen 1972 und 1980 eine viel massenhaftere Bewegung war als die der "Achtundsechziger" zu ihren besten Zeiten. In der DKP und beim MSB Spartakus wurde zwar nur eine Art "Totalitarismus light" praktiziert (die RAF und einige maoistische Gruppierungen waren aus ganz anderem Holz). Aber man muß es heute sagen und hinschreiben, daß der deutsche Kommunismus der Siebziger Jahre die zweite totalitäre Massenbewegung des letzten Jahrhunderts in Deutschland gewesen ist. Und die erste, bei der Mitglied gewesen zu sein als Kavaliersdelikt gilt.
     Eine kluge Vierundzwanzigjährige sagte mir neulich, sie finde es an Männern ihres Alters so anstrengend, daß zumindest die interessanteren unter ihnen ihr Leben führten wie die Hauptdarsteller in einem von ihnen selbst geschriebenen Theaterstück oder Film. Darauf, daß sie ihre Rolle zuendespielten, komme es ihnen am Ende mehr an als auf die Stimmigkeit (sozusagen die literarische Qualität) des selbsterfundenen Szenarios oder darauf, ob es zu ihnen selbst und zu ihrer Umgebung passt. Und mir wurde plötzlich klar, warum mich die alle vierzehn Tage in meinem Büro sitzenden, von einer künstlerischen oder organisatorischen Projektidee glühend besessenen jungen Männer so erschöpfen.
     Ihr bohrender, die sozial gebotenen Distanzen auch in einem ganz konkret körperlichen Sinn unterschreitender "ödipaler Penetrationsblick", den sie ihn in mich hineinschrauben, während ich auf meinem Besprechungssofa zusammensinke und mich schlagartig wirklich in den alternden Bürokraten verwandle, den sie in mir sehen. Die Haltlosigkeit und Scharlatanerie der meisten jener flammend und mit einer gewissen düsteren Verzweiflung vorgetragenen Ideen, Projekte, Welterlösungspläne. Das quälend unabweisbare Gefühl, hier in einem Film, den man nicht kennt, die Rolle des bösen Vaters aufgebrummt bekommen zu haben. Das Mitleid mit dem durch sich selbst irregeleiteten jungen Mann, das man nicht zeigen darf, weil es sofort ausgenutzt wird. Und jene heroische Ungeduschtheit.
     Die globalpolitischen, kulturpolitischen, großkünstlerischen Erlösungswerke und Weltumgestaltungspläne des jungen Mannes sind die weltzugewandte Außenseite eines unsichtbaren und unbewußten inneren Drehbuchs, in dem es um Vater, Mutter und die eigene Rolle zwischen ihnen geht. Es geht um einen Platz in der Welt, auf dem man den verrückten und widersprüchlichen Anforderungen gerecht werden könnte, die Erziehung fast jedem (und jeder) aufbürdet. Aber besonders Männer lernen erst spät im Leben, daß man diesen Forderungen niemals wirklich gerecht wird; daß man sein Leben nur in einem neutralen Feld zwischen diesen Forderungen fruchtbar und unterhaltsam zubringen kann; daß man Gespenster gegeneinander ausspielen muß.
     Jedesmal, wenn ich in den letzten Jahren die Empörung und die Jugendlichkeit jener Jahre an Jüngeren wiederzuerkennen glaubte, das ödipale Glühen und Muffeln, das mich selbst damals erfüllte und umschwebte, dann fragte ich mich, ob das alles nicht noch einmal wiederkommen könnte. Als sei die Gnosis ewig und der Teufel sehr alt ("so werdet alt, ihn zu verstehen", hat Max Weber gesagt). Und über dem in dieser psychoanalytisch-soziologischen Novelle dokumentierten Unternehmen, die "Kunst soziologischer Feinmalerei" (Michael Rutschky) auf meinen eigenen Eintritt in den "Marxistischen Studentenbund Spartakus" anzuwenden, zeigte sich zudem, daß mein scheinbar hochpolitisch-hypermoralischer Schritt in die Weltablehnung (in eine Art sozialen Tod hinein) in Wirklichkeit ein symbolischer Selbstmord aus Liebeskummer war. Es war keine Entscheidung, sondern eine Übersprungshandlung (was für radikale politische Entscheidungen sehr junger Leute möglicherweise typisch ist).

30.10.74 F.: ziemlich dick, noch halber Babyspeck, sehr nett angezogen, ein kindliches rundes Gesicht, die Schneidezähne hinter sehr leicht beweglichen dicken zarten Lippen stark einwärts gebogen wie bei Pfarrer L. Sie hat ein ausgesprochenes Näschen, das im Profil genausoweit vorsteht wie die Lippen, das gibt ihr etwas sehr Hübsches, sehr Junges. Das Besondere an ihr sind die Farben. Sie hat einen bräunlich-rosigen Teint, der eigentlich nach sehr gutem Make-up aussieht, aber echt ist. Verwirklichtes Idealbild also. Diese Farbe zusammen mit ihrer dicklichen Hübschheit verschmelzen manchmal, wenn sie grad lächelt z.B. bei undeutlicher Beleuchtung, zu einem wirklich engelshaften Hübschsein. Dazu hat sie sehr schöne blonde Haare, dunkler als B.s, mit mehr kupferfarbigen Elementen. Und so sitzt sie neben mir, gibt mir gefaltete Bonbonpapiere, Gedichte auf Französisch über die Distanz zwischen Leuten, demonstriert ihr Interesse an mir. Sie sagt: "Am nächsten Mo fällt die Genetik-Vorlesung aus. Der hat gesehen, daß ich das letzte Mal nicht da war und hat gesagt, daß sie diesmal auch ausfällt." (Ich kapiere erst, als ich dieses holde Lächeln sehe). "Da heb ich mir DM 1,40 auf und lade Dich zum Kaffee ein."

Diese Tagebuchnotiz datiert keine Woche nach der heroisch-klassenkämpferischen Rezitation von Hölderlins Elegie "Menons Klagen um Diotima" unter Birnengeisteinfluß im leeren Blaubeurer Wohnzimmer meiner Eltern. Und sie steht vermutlich in unmittelbarem psychodynamischen Zusammenhang mit - vollkommen vergessenen - Vorkommnissen, Gesprächen, Blicken und Abschiedsküßchen, die sich, wiederum ein paar Tage zuvor, während einer geschwänzten Genetik-Vorlesung irgendwo in einer der Cafeterias der beiden Kollegiengebäude der Stuttgarter Uni begeben haben müssen. Denn während ich dies schreibe und abschreibe, taucht von irgendwoher aus meiner Erinnerung das Bild eines frühen Oktoberabends dort auf. Das schwach beleuchtete, loft- oder ballsaalartig offene Untergeschoß eines dieser beiden betongrauen (in meiner Erinnerung irgendwie walfarbenen) Hochhäuser. Das Knacken der braunen Plastikbecher, in denen man dort seinen Kaffee bekam. Der Geruch nach selbstgedrehten Zigaretten. Das Gefühl, die beiden Letzten in einem abendlich verlassenen öffentlichen Ort zu sein, wo man bald zusperren wird. Das Bewußtsein, daß gerade Dinge gesagt worden und passiert sind, hinter die man nicht mehr zurück kann. Der Geruch nach rostigem Metallstaub auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof, wo der Vorortzug nach Untertürkheim dann bald abfuhr. Ein Moment festlich-banger Erhobenheit inmitten des Alltags.
     Kaum zwei Monate, nachdem ich gegen erhebliche (und sehr nachvollziehbare) Widerstände unserer Eltern durchgesetzt hatte, daß meine Freundin und ich zusammenzogen, hatte ich es demnach an diesem Oktoberabend nun glücklich geschafft, mich mit allen Anzeichen schwerer Verliebtheit in eine andere Frau auszustatten. Ich hatte Gefühle in mir heraufbeschworen, die mir einerseits Distanz vor meiner plötzlich so dramatisch nah gerückten Freundin verschafften und damit meine Angst vor dem ödipalen Verschlungenwerden besänftigten. Und zugleich war der Goldstaub ödipaler Verlockung (Diese Farbe zusammen mit ihrer dicklichen Hübschheit verschmelzen manchmal, wenn sie grad lächelt z.B. bei undeutlicher Beleuchtung, zu einer wirklich engelshaften Schönheit. Dazu hat sie sehr schöne blonde Haare, dunkler als B.s, mit mehr kupferfarbigen Elementen) weiter in die Welt hineingeweht worden und war dort draußen wieder an jemand ganz anderem haften geblieben, an jemandem, der wieder fern und mir verboten war (also ungefährlich war), erobert werden mußte (also nicht erobert werden durfte), so unabsehbar interessant war wie das erste Liebesobjekt (das einen nicht verschlingen kann, weil es ja mit jemand anderem beschäftigt ist).
     Die grausam komische Gewalt der neurotischen Liebe, die ich kurz zuvor noch in den ersten Filmen Woody Allens belacht hatte, entfaltete sich in den nun folgenden Wochen in meinem Leben mit der Macht des ersten Mals (mit der Autorität der definitiven Tragikomödie meines Liebeslebens). Beim Blättern in den zwanghaft genauen Protokollen dieser Erfahrung, die ich 1974 mit Füller, Kugelschreiber und Bleistift in eine heute schon fast aufgelöste, mit knallroter Plastikfolie überzogene Kladde hineinschrieb, überm Abschreiben, Rekonstruieren und Mich-Erinnern haben mich mehr als einmal eine so schamerfüllte Melancholie und zugleich eine so intensive Lachlust angewandelt, daß ich niemandem, dem ich von meinen derzeitigen Schreibvorhaben erzählte, recht erklären konnte, wie mir über dieser Arbeit zumute war.
     Das Drama meines Spätherbsts 1974 (zu dessen folgenreichsten Nachwirkungen der große Sprung nach vorn in jene marxistisch-leninistische Nachwuchsorganisation gehörte) nahm seinen Verlauf zwischen zwei Wochenenden. Zweimal besuchte ich meine neue Liebe in der nicht weit entfernten Stadt des Mittleren Neckartals, wo sie bei ihren Eltern lebte und sah sie die dazuwischenliegende Woche über an der Universität. Wie alle regelpoetisch folgerichtigen Tragikomödien hat auch diese einen traumhaften Höhepunkt und eine klar definierte, mir damals völlig unverständliche und schicksalhaft über mich hereinbrechende Peripetie. Sie ist die frühest faßbare, hier in meine geschriebene Geschichte eintretende Version viel älterer ödipaler Symptombildungsartefakte (verwitterte Steinkreise und Kolossalskulpturen, die in bestimmten, nur im Traum manchmal besuchten Tiefebenen meines Unterbewußtseins stehen; "Sie waren schon immer da", sagen die Eingeborenen meiner Seele).

Am 1.11. 74 war ich, nach langsamem Aufstehen und Gesprächen beim Frühstück, Selbstgedrehtem mit A. und B. durch sonnigen Herbst in der Provinz, über Z., wo ich damals mit M. spazierenging, in K. F. holt mich, sehr schick in etwas blöden Kleidern, vom Gleis ab.
Das Buch, das ich auf dieser herbstlichen Bahnreise dabeihatte, steht heute noch einen halben Meter von meinem Kopf entfernt auf meinem Regal. Es handelt sich um die pistazieneisgrün broschierte "insel taschenbuch"-Ausgabe einer von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen kommentierten und zusammengestellten Sammlung von Prozeßakten, Briefen, Berichten zu Georg Büchners und Ludwig Weidigs politischer Flugschrift "Der hessische Landbote". Mehr als der "Landbote" selbst, der neben Thomas Münzers "Fürstenpredigt", Fichtes "Reden an die deutsche Nation" und dem "Kommunistischen Manifest" von Marx und Engels zu den großen gnostischen Basistexten der deutschen Literatur gehört, hatte es mir im Oktober 1974 allerdings eine kurze Erinnerung des radikaldemokratischen Naturforschers und Paulskirchenabgeordneten Karl Vogt an seinen Studienkollegen Georg Büchner angetan. Diese Schilderung Büchners muß mir in jenen Wochen als ein Porträt meines idealen Selbstbilds erschien sein und ich benutzte demnach die erste sich bietende Gelegenheit, sie meinem neuen Schwarm vorzulesen, als wir schließlich in ihrem teddybärengeschmückten Jungmädchenzimmer in einer Villenvorstadt jener nahegelegen Industriestadt saßen.
     "Offengestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch", hat Vogt bezeugt. "Er trug einen hohen Zylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken saß, machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn?s donnert, hielt sich gänzlich abseits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich nur der ?rote August? genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen Umtrieben zu tun hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre Äußerungen hatte fallen lassen, so geschah es nicht selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte: ?Der Erhalter des europäischen Gleichgewichtes, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er lebe hoch!? - Er tat, als höre er das Gejohle nicht, obgleich seine Lampe brannte und zeigte, daß er zu Hause sei."
     Nicht nur das klassische Motiv des verkannt und sehr gering auf Erden wallenden zukünftigen Dichtertitanen und Revolutionärs konnte ich damals in meinen eigenen Künstler-, Macht- und Bildungsroman einbauen; auch meine (halb eingebildete, halb reale) Isolation an der Universität, in der großen Stadt erkannte ich in dieser Darstellung des verhöhnten großen Mannes wieder. Nicht zuletzt die Beschreibung des exzentrischen Äußeren Jung-Büchners (er sieht in diesem Abschnitt aus den Lebenerinnerungen Karl Vogts bei näherem Hinsehen ja ein bißchen aus wie der verrückte Hutmacher in Lewis Carrolls "Alice im Wunderland") scheint mir damals eine große Tröstung gewesen zu sein und die literarhistorisch ultimative Bestätigung dafür, daß ich mit meiner eigenen Italowestern-Aufmachung ganz auf dem richtigen Weg zum revolutionären und literarischen Ruhm war.
***EINRUCK**Neben der Lesung aus Karl Vogts Lebenserinnerungen verzeichnet mein Tagebuchbericht über den ersten Nachmittag und Frühabend in jenem Jungmädchendachbodenzimmer allerlei Rezitationen großer Gedichte der Weltliteratur. Scheinbar spontan Gedichte auswendig herzusagen war eine Flirttechnik, die dem glühend-muffelnden jungen Mann, der ich einmal war, nicht nur das Herz bestimmter Mädchen verschaffen sollte (was überraschend oft klappte), sondern ihm darüberhinaus auch dazu diente, in sich die Geister der großen Tradition lebendig werden zu lassen und sich in ihre Reihen - wenn auch vorerst nur phonozentrisch-imitatorisch - einzuschreiben. Aber die schöne junge F. selber scheint, wohl sogar mit Selbstverfaßtem, durchaus dagegengehalten zu haben.

F. zeigt mir ihre Gedichte, ich lese ihr eine Beschreibung Büchners ("Ehrlich gesagt, dieser G.B. war uns nicht sympathisch"), auch ich schreibe auf ihrer alten "Erika" meinen guten alten Ulmer Fetzer, von ihren dunklen Augen tief verfolgt. Ich lasse sie lesen und sie nimmt mich in den Arm (Halt: "Und lieben lernt ich unter Blumen" hatte ich ganz vergessen). Wir unterhalten uns über Lebenswege, daß wir nicht ineinander verliebt sind, über Paris, F. zieht alle Register, sieht (mit Ohrringen) "verworfen" aus (überhaupt nicht), sitzt "unzüchtig" (ganz und gar nicht) da rum, wir sehen in die von Herbstblättern bedeckten Gärten hinaus, sage ihr "zum Trost" Shakespeare auf, mehr davon lehnt sie ab. Sie will auch ihre Ruhe, ich wollte bei diesem Besuch mich selbst dieser schönen Frau einfach zeigen (G.(eorg) B.(üchner) geht zu M.(arylin) M.(onroe)) und das ist gelungen, mehr gibts nicht zu sagen.

Passiert war also, außer daß wir eine Menge eigene und fremde Gedichte aus dem Kopf zitierten, so gut wie nichts. Und doch ist der ferne Oktobernachmittag in einer schwäbischen Industriestadt, der früh einbrechende Abend, das Leuchten der Herbstblätter in den Vorgärten mir beim Abschreiben gerade so gegenwärtig und nah gewesen, als habe sich in dieser Vorstadtgegend damals mein Schicksal entschieden und so überstäubt ist das alles von narzißtischem Flitter wie die dämmernden Schneelandschaften auf manchen Weihnachtskarten und Adventskalendern: Goldstaub, der einem Kind als der Inbegriff des Kostbaren erscheinen kann, als Verheißung einer Offenbarung, zu der es dann vielleicht das ganze folgende Leben lang nicht mehr kommt.

Mit freundlicher Genehmigung des S.Fischer Verlages

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