Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2001. Die FAZ orientiert uns über das Ende der Welt (oder ist es nur das Ende der Berliner Morgenpost?). In der SZ informiert Ulrich Beck die Amerikaner, dass sie gerade einen Jahrhundertfehler machen. Die NZZ beklagt das Verlagssterben in der Schweiz. Die FR überprüft unterdessen die Kategorie des Angenehmen.

FAZ, 07.12.2001

Es gibt bereits Theaterstücke zum 11. September. Der amerikanische Autor Israel Horowitz hat einen 17seitigen Monolog für "1 H." (einen Herrn) verfasst, der, so fürchtet Gerhard Stadelmaier, demnächst an deutschen Theatern grassieren wird. Stadelmaier führt vor, dass Horowitz sein Stück noch kürzer hätte halten können: "In diesem Tränenschluck-Monolog kommt alles vor, was einem Menschen, der am 11. September gerade in New York war, so durch den Kopf rauschen konnte...: Um Gottes willen, die Kinder sind noch in der Schule, hoffentlich ist ihnen nichts passiert; was macht jetzt der oder jener; wie war das, als Papa starb; woher kommt die Gürtelrose an meinem Arm; mein Gott, der Polizist an der Ecke weint ja..." Gute Unterhaltung!

Ein einsamer Rufer, der Dichter und ehemalige Dissident Günter Kunert, wendet sich gegen die rosoarote Koalition in Berlin. Die PDSler sind für ihn nach wie vor SEDler: "Wären sie damals kritischen Sinnes gewesen, würden sie nicht heute in der Partei gleichen Typs Mitglieder sein. Auf deutsch: Eine große Anzahl von Menschen, die sich an eine gescheiterte Gesellschaft und individuelle Vergangenheit klammern und deren Empfindungen der Bundesrepublik gegenüber keineswegs freundliche sind, treten nun aus dem historischen Schatten, rehabilitiert durch eine Partei, die einst ihr größter Feind war und deren Mitglieder zu DDR-Zeiten eingesperrt wurden."

Michael Hanfeld informiert uns auf der Medienseite über den Entschluss des Springer-Verlags, die Welt und die Berliner Morgenpost in unterschiedlichen Mänteln zu ein und dem selben Blatt zu machen. Hanfelds Kommentar: "Offenbar wr nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die publizistische Entwicklung der 'Welt' so abschüssig, dass ihre Reise geradewegs in die Provinz führt."

Nach der Entschlüsselung des Humangenoms sollen nun auch die Genome (sagt man so?) aller anderen Arten entschlüsselt werden. Christian Schwägerl stellt zwei Projekte vor, die sich diese Titanenaufgabe gestellt haben, die All Species Foundation und die Global Biodiversity Information Facility: " Ihre Vordenker wollen Satellitentechnik, Internet, Molekularbiologie, neue Mikroskopiertechniken sowie ihre traditionellen Fertigkeiten verbinden und so das im achtzehnten Jahrhundert von Carl von Linne begonnene Werk vollenden."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko porträtiert auf der letzten Seite den Folksänger Donovan, der für den Disney-Film Atlantis exhumiert wurde, um zusammen mit der Girlsgroup No Angels (süß!)noch mal seinen Hit über die versunkene Stadt aufzunehmen. Klaus Ungerer erinnert daran, dass J.R.R. Tolkien einest die Filmrechte für den "Herrn der Ringe" für 10.000 Dollar verkaufte, was seine Erben bis heute verbittert. Jordan Mejias schildert die Konkurrenz der bei den großen alten Reporter Bob Woodward und Seymour M. Hersh in der Berichterstattung über den Afghanistan-Krieg. (Wir verweisen hier auf die aufsehenerregende Recherche Hershs über das Versagen der Geheimdienste, die auch bei Mejias erwähnt wird.) Andreas Rossmann resümiert einen Kölner Kongress über Baukultur, der vom Verkehrsministerium ausgerichtet wurde und politische Folgen haben soll. Felicitas von Lovenberg hat einer Diskussion zwischen den Nobelpreisträgern Nadine Gordimer, Kenzaburo Oe und Gao Xingjiang über ihre Vorstellung von Zeitgenossenschaft zugehört ? sie fand in Schweden aus Anlass des 100. Geburtstag des Nobelpreises statt. Abgedruckt wird eine Rede des Germanisten Albrecht Schöne zum 250. Geburtstag der Göttinger Akademie der Wissenschaft ? es geht um Goethe und Schillers Totenschädel.

Ferner stellt Timo John ein Stuttgarter Wohnhaus des Architekten Werner Sobek vor (das Ding wirkt allerdings derart transparent, das seine Bewohner auf intimere Verrichtungen wohl werden verzichten müssen). Andreas Platthaus gratuliert der Donald-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs zum 95. Geburtstag. Paul Ingendaay erzählt, wie das spanische Kino internationale Verleiher nach Lanzarote einlud, um sie zum Kauf ihrer Ware zu verführen. Mark Siemons bringt uns in seiner in altdeutscher Schrift betitelten Kolumne "Aus der Hauptstadt" auf den Stand über bezirkspolitische Niederungen der Berliner Politik. Joseph Croitoru weist auf ein fünftägiges Heinrich-Heine-Symposion hin, das in der nächsten Woche von der Jerusalem Foundation ausgereichtet wird. Angelika Heinick berichtet über ein neues französisches Museumsgesetz.

Besprochen werden Agnes Vardas Film "Die Sammler und die Sammlerin", die Uraufführung einer "Tartuffe"-Oper von Hans-Joachim Marx in Ulm und eine große Ausstellung mit Modefotografien von George Hoyningen-Huene und Horst P. Horst in Boston.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um die Jazzsängerin Dianne Reeves, um den Songwriter Ryan Adams und um Franz Liszt und seinen Bechsteinflügel, der auf einer CD von Cora Irsen vorgeführt wird.

NZZ, 07.12.2001

Gieri Cavelty beschreibt die Marktkonzentration in der Schweizer Verlagsszene. Haffmans sei da nur das "jüngste und prominenteste" Opfer. "Jeder zweite Schweizer Verlag ist in den vergangenen 15 Jahren verschwunden. Andere sind in den Besitz deutscher Konzerne übergegangen: Benziger sowie Artemis & Winkler wurden von Patmos übernommen, Scherz von Holtzbrinck, Nagel & Kimche von Hanser, und bei Pendo sicherte sich Eichborn die Aktienmehrheit. Seine Unabhängigkeit bewahren konnte dagegen Diogenes ...". Gerade mal so über die Runden kommen sonst nur die selbständigen Schweizer Verlage ? Cavelty zählt hier Arche, Hörverlag Kein & Aber, Edition Epoca, Lenos und Libelle, Rotpunkt, Bilger, Limmat, Urs-Engeler-Edition, Unionverlag und den Verlag Im Waldgut auf ? die "mit einem kleinen Sortiment ihre Nischen besetzen". Für das Massengeschäft sei jedoch die Kapitaldecke zu dünn, und "vor allem fehlt die Infrastruktur für einen effizienten Zugang zum großen, sprich deutschen Markt."

Georges Waser berichtet von den großen Plänen des Direktors der Royal Shakespeare Company, Adrian Noble (mehr hier), der für 100 Millionen Pfund ein "Theaterdorf" mitsamt Schauspielakademie in Stratford-upon-Avon gründen will. Das Londoner Domizil, das Barbican Theatre, soll dafür geschlossen werden. Verzichten will Noble auch auf ein festes Ensemble. "Die Absicht ist klar: große Namen anziehen. Sogar amerikanische Schauspieler will Noble, und nicht nur plant er zu deren Rekrutierung 'multinationale' Inszenierungen in Amerika: Er hat auch schon den New Yorker Literaturagenten und PR-Mann Andrew Wylie (sehr vornehme homepage) - besser bekannt unter seinem Übernamen 'der Schakal' - mit der globalen Vermarktung der bisher doch so unverkennbar britischen RSC beauftragt." Vielleicht ist es nur ein Schakal, der der Schweizer Verlagsszene fehlt?

Weitere Artikel: Olivier Aebischer berichtet über ein Fachkolloquium zum Röstigraben. Besprochen werden die Ausstellung "Blut" in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle und im Frankfurter mak. (Museum für Angewandte Kunst), ein Violinkonzert von Sibelius mit Sarah Chang und Edo de Waart in der Tonhalle Zürich und zwei Ausstellungen über monumentale Bauten in Madrid: "Antonio Palacios, constructor de Madrid" im Circulo de Bellas Artes und "Guastavino Co." im Museo de America.

SZ, 07.12.2001

Der Soziologe Ulrich Beck meldet sich zurück von einer Vortragsreise nach Moskau, wo er den Russen nicht nur die Globalisierung in Absetzung zu Amerikanisierung und Neoliberalismus erklärt ("in den Diskussionen in Moskau war das Aha-Erlebnis deutlich spürbar"), sondern auch die These entfaltet hat, "dass die Gleichsetzung von globalisiertem Terror mit Krieg einem Jahrhundertfehler gleichkommt". Stattdessen solle eine internationale Rechtsgrundlage geschaffen werden, "ein Antiterror-Regime, das Fragen der Steuerfahndung ebenso regelt wie Fragen der Auslieferung der Täter, der Ermächtigung von Streitkräften, der Zuständigkeit von Gerichten". Ist mit Beck der Westen nun endgültig in Moskau angekommen? Wohl kaum. Allerdings: "Russland, speziell Moskau, bietet ein Bild des Aufbruchs", meint Beck.

60 Jahre nach Pearl Habor weiß Willi Winkler zu berichten, wie der japanische Angriff Roosevelt half, ein pazifistisches Amerika für den Krieg zu begeistern: "Pearl Harbor ist eine meisterhafte Inszenierung gewesen ... Als Hebel gegen die Isolationisten wie gegen die eigenen Wahlversprechen blieb nur ein Angriff auf das eigene Land. Franklin Roosevelt wusste, was er damit anrichtete. Arthur McCollum, Chef der Navy-Aufklärung und Ostasienexperte, hatte dem Präsidenten schon im Oktober 1940 eine Liste mit acht Maßnahmen vorgelegt, die Japan zur Aggression nötigen könnten. Eine davon bestand in der Empfehlung, 'den Großteil der US-Flotte in die Nähe Hawaiis zu verlegen'. Roosevelt tat es." Und opferte fast 3000 Menschen.

Weitere Artikel: Thomas Kirchner überlegt, warum dem Schauspielhaus Zürich die Zuschauer weglaufen, Fritz Göttler wittert schlechte Zeiten für Luxus und Narzissmus ? im US-Kino wenigstens, Helmut Schödel trifft Christine Kaufmann, die für Peter Zadeks Fassung von Marlowes "Der Jude von Malta" in Wien die Kurtisane gibt, Wolfgang Schreiber besucht ein Basler Symposium über das zeitgenössische Musiktheater, Hermann Simon schreibt über ein bedeutendes Poesiealbum aus dem Besitz des Berliner Centrum Judaicum, Sonja Zekri erklärt, warum Städte Kultursenatoren brauchen, Volker Breidecker berichtet von einer Tagung über die engagierte Literatur zwischen den Kriegen in Neuburg an der Donau, Holger Liebs leitet die neue SZ?Serie zur Zukunft der Stadt ein. Und es gibt ein Gespräch mit Herbert Grönemeyer über die Zerissenheit seiner Heimat und den nervösen Onkel aus Übersee.

Und besprochen wird Uwe Radas Buch "Berliner Barbaren", Streifzüge durch die deutsche Hauptstadt (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 07.12.2001

In der FR überprüft Ursula März die beliebte Kategorie des Angenehmen und stößt dabei auf recht Unangenehmes: "Die schweißtreibende Idee drängt sich nämlich auf, das Angenehme, dessen Funktion doch die Verbesserung des Lebens sein soll, könnte durch seine charakterliche Ähnlichkeit mit einem Endzustand, eine heimliche Beziehung mit dem Tod unterhalten. Es macht das Leben leichter, bequemer, erträglicher, unbelasteter. Es schützt vor Schwierigkeiten und unterdrückt störende Faktoren wie Schmerz, Härte, Kälte, Hitze, Überreizung, Mühen aller Art. Nur bedingt aber macht es das Leben auch reicher und glücklicher." Sorgen, die man erstmal haben muss.

Außerdem zu lesen: Petra Kohse erzählt, wie Antje Vollmer kürzlich lauter Theaterschaffende einlud und die sich bannig freuten, "ihr künstlerisches oder in anderer Weise kulturschaffendes Sosein mitten in den Reichstag hineintragen zu können", Rudolf Walther dokumentiert den Pessimismus muslimischer Intellektueller in Paris nach Terror und Krieg, Jörg Biesler berichtet vom Kölner Kongress "Initiative Architektur und Baukultur", Roman Luckscheiter war auf einem Berliner Symposion über die Bedeutung und Inflation der Werte. Und Karl Grobe eröffnet uns die Geschichte des chinesischen Marschalls Zhang Xueliang, der mit dem Willen zur Befriedung einst seinen Oberbefehlshaber in Unterhosen verhaftete und dennoch keine Versöhnung mit Taiwan erreichte.

Vorgestellt endlich werden: Foto, Video und Installation im Paket von Tamara Grcic im Leipziger Museum der bildenden Künste und Woody Allens Komödie "Im Bann des Jade-Skorpions".

TAZ, 07.12.2001

Katrin Bettina Müller macht uns bekannt mit einem vergessenen Museum: der vormals im Gropius-Bau beherbergten Berlinischen Galerie, deren Sammlungen zur Kunst, Fotografie und Architektur, u.a. des Dada, des Expressionismus und der russischen Avantgarde, seit vier Jahren auf neue Ausstellungsräume warten und deren einstige Erfolgsgeschichte, wie sie schreibt, zu einer "bösen Parabel über die Fallgruben der Public-private-Partnership" geworden ist. Nicht erst seitdem der Bauträger des letzten Projekts pleite gemacht hat, behilft sich die Sammlung mit Gastausstellungen. "Auf der Strecke zu bleiben aber droht das Verhältnis zur aktuellen Kunstszene. In den Achtzigerjahren hatte sich die Berlinische Galerie näher als jedes andere Museum an die Gegenwart der Kunstszene der Stadt herangearbeitet." Mittlerweile, so Müller, spiele es als öffentliches Forum von aktuellen Auseinandersetzungen keine Rolle mehr.

Ferner: Es gibt ein Gespräch mit Ade und Abi Odukoya, den Initiatoren des afrodeutschen All-Stars-Projekt Brothers Keepers, über Identität, Rollenklischees und Erwachsenwerden in der deutschen Rapszene. Christian Rath stellt das Sandy Lopicic Orkestar (Album "Border Confusion") aus Graz vor, das sich mit Crossover-Folk ganz balkanisch-unorthodox gibt. Björn Döring bespricht zweimal Weltumarmungspop: "1 Giant Leap" von 1 Giant Leap und "Building Bridges" von den Refugee Voices. Und Thomas Winkler ist der Meinung, dass Disneys "Atlantis" kein Kino-Klassiker wird.

Schließlich Tom der Klassiker.