Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2001. Die Nachrufe auf W. G. Sebald und Stefan Heym dominieren die Feuilletons. Die FAZ verkündet überdies das Ende der Hanno Buddenbrooks. Und in der NZZ wird die Globaliserung als ein weiteres Opfer des 11. September vorgestellt.

SZ, 17.12.2001

Das Feuilleton trauert. Am Wochenende starben die beiden großen Schriftsteller Winfried Georg Sebald und Stefan Heym.

"Ein großes Unglück ist geschehen", schreibt Thomas Steinfeld in seinem Nachruf auf W. G. Sebald (mehr hier), "wir werden lange brauchen, um zu ermessen, wie groß dieser Verlust ist". Und Michael Krüger, Chef des Hanser Verlags, bei dem Sebalds Bücher erschienen sind, würdigt: "W. G. Sebald war der große Archäologe unter den zeitgenössischen Schriftstellern. Nur hat er nicht in der Erde gegraben, um noch einen letzten handfesten Beleg für die unfassbare Gewalt und den unvorstellbaren Reichtum unserer Zivilisationsgeschichte zu finden, sondern in den allen zugänglichen Archiven. So sind seine Bücher, und sogar die Romane, auch als Foto- und Bilderalben zu betrachten, als genealogische Forschungsberichte. Er konnte sich nicht damit abfinden, dass das Sichtbare nur noch aus den wenigen Dingen besteht, die alle sehen und verhandeln."

Noch immer schwingt ein wenig Zorn in Thomas Steinfelds Nachruf auf Stefan Heym (mehr hier) mit: "Als Stefan Heym im November 1994 als Abgeordneter der PDS im Deutschen Bundestag vor die Mikrofone trat, um als dessen Alterspräsident die Eröffnungsrede der neuen Legislaturperiode zu halten, versagte ihm, mit Ausnahme von Rita Süssmuth, die CDU/CSU-Fraktion den Applaus. Es war ein beschämender Moment. Denn dieser gebeugte, kahlköpfige Mann ist eine der aufrechtesten Gestalten gewesen, die es in der Geschichte der deutschen Demokratie je gegeben hat, ein politischer Kopf, der mit ihr gelebt hat, von den zwanziger Jahren bis heute, und ein Schriftsteller und Publizist, der noch für Carl von Ossietzkys Weltbühne geschrieben hat und selbst einer der Akteure jenes republikanischen Widerstands war, für die ansonsten keine Feierstunde zuwenig veranstaltet wird. Stefan Heym war eine Gestalt des öffentlichen Lebens, von vielen, nicht nur aus dem Osten, nicht nur aus dem Kreis konvertierter Kommunisten, geachtet, ja geschätzt. Fast hatte man ihn für unsterblich gehalten."

Weitere Artikel: Der israelische Publizist Moshe Zimmerman sieht von israelischer und palästinensischer Seite aus den Unterschied zwischen Israel und den besetzten Gebieten verschwinden: "Der Kampf scheint jetzt um Alles oder Nichts zu gehen". Karl Bruckmaier würdigt den ebenfalls verstorbenen Rufus Thomas, den "letzten Universalgelehrten der schwarzen Popmusik (mehr hier), Klaus Dermutz porträtiert den Schauspieler Robert Hunger-Bühlers. Im Fach Heimatkunde befasst sich Andreas Bernhard mit dem deutschen Speisewagen.

Besprochen werden ein Konzert der britischen Komponistin Rebecca Saunders in München, eine Ausstellung des Malers Pisanello in der Londoner National Gallery, Peter Zadeks Inszenierung von Marlowes der "Jude von Malta" an der Wiener Burg, Enda Walshs Stück "Bedbound" an den Münchner Kammerspielen, Jonas McCords "spiritueller" Actionfilm "The Body", eine CD mit Stimmen vom Beginn des 20. Jahrhunderts und Bücher, darunter Nadja Einzmanns Erzählung "Da kann ich nicht nein sagen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite macht sich Willi Winkler über die letzte Sendung her, mit der sich das Literarische Quartett verabschiedete: "Weihnachtsfeier der Kulturwichtel".

FAZ, 17.12.2001

Frank Schirrmacher sieht Heinrich Breloers Film über "Die Manns" vor allem als Hymne auf die Tochter Elisabeth und damit die einzige, die ihren Vater unbeschadet überlebte: "Es fehlt: Temperatur, Gesellschaft, Welt. Es ist: die letzte große Niederlage von Klaus und Heinrich Mann, und eine Demütigung für Monika und Golo... Im jungen neuen Jahrhundert reden diejenigen, die aus Stärke überlebt haben. Wie: Elisabeth Mann, und sie reden ohne Qual und ohne Zögern. Die Zeit der Hannos ist vorbei." Zwei weitere Artikel handeln von den Manns: Eckhard Heftrich bespricht Kerstin Holzers Biografie über Elisabeth Mann-Borgese (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr), Und Michael Hanfeld bespricht auf der Medienseite den ersten Teil von Breloers Film.

Sabine Brandt erinnert an Stefan Heym, der am Wochenende starb: "Er war ein Einäugiger". Aber "aus dem langen Leben dieses Mannes ist keine Handlung bekannt, die ihm zur Unehre gereicht hätte. Das ist Grund genug, ihm Dank zu sagen für manche anregende Stunde mit den Büchern, die er für uns schrieb."

Patrick Bahners schreibt den Nachruf auf W. G. Sebald, dessen Schreiben er als "elaboriertes Trauerzeremoniell" auffasst, "das von vornherein entrückt hat, was es allmählich heranholt, und das schließlich verdunkeln wird, was es scheinbar verklärt"

Und noch ein Nachruf: "Unmöglich, jenes Finale in seiner Pracht und Herrlichkeit wiederzugeben", behauptet Hubert Spiegel über die letzte Sendung des Literarischen Quartetts.

Gerhard Stadelmaier feiert Peter Zadeks Wiener Inszenierung von Marlowes "Juden von Malta" mit Gert Voss in der Hauptrolle: "Zadek, der große Gelassene und Gerissene, malt und inszeniert das altmeisterlich anarchisch und revuehaft lässig, als verberge er in einem großen Adventskalender hinter lauter kleinen bunten Türchen pittoresk groteske Bilder."

Weiteres: Ole Döring schildert auf der letzten Seite Chinas unbedenklichen Umgang mit menschlichen Stammzellen in der medizinischen Forschung. Ingeborg Harms blickt in deutsche Zeitschriften. Caroline Neubauer resümiert eine Tagung über das "Schweigen der Psychoanalyse" in öffentlichen Auseinandersetzungen. Karol Sauerland berichtet über das Radio Maryja, das Polen vor der EU bewahren will. Katja Gelinsky fragt sich auf der Medienseite, "ob die amerikanischen Medien nicht zuweilen zu ängstlich darum bemüht sind, den Verdacht unpatriotischen Verhalten zu vermeiden". Souad Mekhennet schildert Reaktionen arabischer Medien auf das neue bin-Laden-Video - man ist sich fast sicher, dass die Amerikaner es gefälscht haben. Jörg Thomann schildert einen Streit um eine Scharon-Interview in Bild. Dieter Bartetzko stellt das Projekt "Cathedral I.T." vor, das Baupläne von Kathedralen ins Netz stellen will, um den Denkmalschutz zu unterstützen. Und Dietmar Dath porträtiert den Raketentechniker Tsien Hsü-Shen, der von MacCarthy-Kommission aus den USA vertreiben wurde und dann das chinesische Raketenprogramm aufbaute.

Besprochen werden eine "Frau ohne Schatten" unter Christian Thielemann an der Met, eine Ausstellung über das Pharaonengrab "KV 55" in München und Eugen Ruges Stück "Akte Böhme" am Schauspiel Leipzig.

Hingewiesen sei schließlich noch auf eine Polemik des Tübinger Literaturprofessors Jürgen Wertheimer, der sich nach 11. September und PISA-Studie über die "frischgebackenen Ernsthaften" wundert. Bei faz.net.

TAZ, 17.12.2001

Zum Tod des Schriftstellers Stefan Heym druckt die taz auf ihrer ersten Seite einen Auszug aus seinem Buch "Nachruf", in dem der Autor seine Begegnung mit dem Nachruf-Schreiber der "New York Times" schildert. In einer eigenen Würdigung erinnert Nick Reimer: "Kantig, trotzig, bissig widersprach er, wo es nötig schien; weise, hitzig, wortgewandt legte er sich an mit Macht und Mächtigen. Was schwer ist und Schwierigkeiten macht. Aber genau so war das Leben von Stefan Heym."

Über den Tod des Schriftsteller W. G. Sebald, der am Freitag bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, wundert sich Dirk Knipphals: "Mit den Phänomenen Tod und Vergänglichkeit sind seine Texte, bei deren Beschreibungen kaum einmal die dunklen Wörter 'elegisch' und 'melancholisch' fehlen, durchaus vertraut. Dieser Tod aber wirkt bei diesem Autor zunächst seltsam gewaltsam ... Was vor allem zunächst nicht ins Bild passen will, das ist das Auto. Wenn etwas zum zentralen Motiv von Winfried Georg Max Sebald erklärt werden kann, dann sind es eher Spaziergang und Wanderschaft."

In weiteren Artikel poträtiert Susanne Messmer den Verleger Bernd F. Lunkewitz (Aufbau Verlag) und Detlef Kuhlbrodt überlegt, wem die D-Mark wirklich gehört und was nun aus ihren Überresten wird.

Schließlich Tom.

FR, 17.12.2001

Zum Tod von W.G. Sebald, schreibt Thomas Medicus: "Die deutsche Gegenwartsliteratur einen schweren Verlust verkraften und in Zukunft ohne einen ihrer Besten auskommen", und er wundert sich: "Warum erfuhr die literarische Öffentlichkeit hierzulande verspätet vom Tod dieses nicht nur immer mehr versprechenden, sondern zeitlebens immer auch geheimnisvollen Mannes, dessen Konterfei erst in jüngster Zeit zirkulierte? Die Todesnachricht hatte sich im anglo-amerikanischen Sprachraum schneller als in den Redaktionen unserer großen Zeitungen herumgesprochen ... Zwar schlug die suggestive Sprachkraft dieses Eigenbrödlers in den letzten Jahren auch eine deutsche Leserschar in Bann und zuletzt häuften sich Literaturpreise. Dennoch blieb dieser so regelmäßig wie zuverlässig brillant veröffentlichende Sprachvirtuose so etwas wie ein Geheimtipp. Sebald, ein deutscher Gegenwartsautor? In jüngster Zeit ist Sebald immer mehr zu einem englischen, mehr noch amerikanischen Schriftsteller geworden. Wirklich erfolgreich, geschätzt und verehrt wurde er in den Vereinigten Staaten."

Peter Iden bespricht Zadeks Marlowe-Inszenierung "Der Jude von Malta" in Wien und Christian Boecking ehrt die südafrikanische Sängerin Miriam Makeba (mehr hier), die heute Abend in Berlin die Otto-Hahn-Friedensmedaille der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen verliehen bekommt.

Besprochen werden heute politische Bücher, darunter die "Deutschen Erinnerungsorte" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)

NZZ, 17.12.2001

Auch die NZZ bringt zum Wochenstart zwei Nachrufe auf die verstorbenen Autoren W. G. Sebald und Stefan Heym. Andrea Köhler würdigt den im englischen Norfolk verunglückten Sebald als einen außergewöhnlichen Schriftsteller, einen "Meister der sanft mäandernden Satzverläufe". Sebald, der besonders in den USA eine "ganz ungewöhnliche Wertschätzung" erfahren habe, sei von der Idee fasziniert gewesen, "dass wir auch in der Vergangenheit Verabredungen haben und dort Personen und Orte aufsuchen müssen, die jenseits der Chronologie in einem Zusammenhang stehen mit uns."

Matthias Wegner erinnert an den gestern verstorbenen Stefan Heym: Dieser war für Wegner ein "unbeirrbarer Utopist", dessen Leben und Schreiben vom "Zwang zur Politik" dominiert wurde. Heym habe nach seiner "erzwungenen Emigration" zurück in der DDR zwar "oppositionelle Töne riskiert", aber "zu den Fahnen" gestanden, schreibt Wegner.

Urs Schoettli stellt ein weiteres "Opfer des 11. September" vor: Die Globalisierung. Schoettli beschreibt es als "schwerwiegendstes Defizit" der bisherigen Globalisierung, dass "insbesondere in den nichtwestlichen Ländern einflussreiche gesellschaftliche Kräfte kaum involviert wurden". Dies ist nach der "brutalen Götterdämmerung" des 11. September nicht weiter möglich, glaubt Schoettli. In Zukunft müsse eine "liberale Weltordnung ... handfeste Vorteile nicht nur für die Eliten, sondern primär für die großen Massen in den Entwicklungsländern bringen".

Weiteres: Angelika Overath hat beim letzten "Literarische Quartett" mehr Unterhaltung als Literaturkritik gehört. Barbara Villiger Heilig hatte einen "Heidenspaß" bei Peter Zadeks "Der Jude von Malta" in Wien.

Besprochen wird die Ausstellung "The Mystery of Painting", die im Münchner Sammlung Goetz zu sehen ist, eine Aufführung von "Les Contes d'Hoffmann" in Genf sowie ein litauischer Holocaust-Roman.