Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2001. In der FR outet sich Jean Baudrillard als Terrorist. Die SZ macht den globalen Wettbewerb für die schlechte Bildung der deutschen Schüler verantwortlich. Die NZZ blickt recht gnädig auf die Verfilmung des Herrn der Ringe, die FAZ dagegen recht ungnädig, während man sich in der taz auf einen hermeneutischen Trip gefasst machen muss.

TAZ, 19.12.2001

Mit krauser Nase teilt Marina Collaci die Berufung des Wirtschaftsbosses Franco Bernabe zum Direktor der Biennale von Venedig mit. Nicht nur angesichts der guten wirtschaftlichen Erfolge des geschassten Paolo Baratta handelt es sich dabei schließlich um eine Katastrophe. Collaci fürchtet vor allem die kulturelle Regression: "Vielleicht soll das ganze Gerede um die 'Macher', die nach vorn müssten, endlich die allzu vielen 'Miesmacher' im Kulturbetrieb in die Schranken weisen. Im September jedenfalls glänzten die Kulturpolitiker des Berlusconi-Lagers auf dem Filmfestival von Venedig mit Breitseiten gegen deren künstlerischen Leiter Alberto Barbera und gegen die Veranstaltung, die eine 'Schande' für das Land geworden sei. Kultur-Staatssekretär Vittorio Sgarbi dekretierte ... die Biennale glänze mit 'beunruhigender Dekadenz'."

Weitere Artikel: Elisabeth Bronfen über die Verfilmung des ersten Bandes von Tolkiens "Der Herr der Ringe", von Herbie Hancocks musikalischem Reflex auf den 11. September erzählt Christian Broecking, Eva Behrendt berichtet, wie Schorsch Kamerun und die Goldenen Zitronen mit ihrem Musicalprojekt "Der digitale Wikinger" das Zürcher Theaterpublikum zum Kichern brachten, Brigitte Werneburg stellt die aktuelle Nummer der Schweizer Halbjahreszeitschrift "Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik" vor, Jonathan Fischer liefert einen Nachruf auf den Entertainer Rufus Thomas.

Und die Tagesthemen trauern um Gilbert Becaud: Mit einem Porträt von Jan Feddersen und einem Interview mit dem Becaud-Manager Hans R. Beierlein.

Schließlich noch Tom.

SZ, 19.12.2001

Die in Jerusalem lebende Autorin Cordelia Edvardson ("Gebranntes Kind sucht das Feuer"), erklärt in einem Beitrag für die SZ, wie Israel seine Kritiker mit dem Vorwurf des Antisemitismus mundtot macht, und hält dagegen, dass nicht alle Kritik an Israel, wie scharf sie auch immer sein möge, ihre Wurzeln im Judenhass haben müsse. Nicht einmal ausgesprochener Israel-Hass sei dasselbe wie Judenhass. "Ich glaube, dass ein enttäuschter Zionist recht hatte, als er sagte: 'Man kann den Juden aus dem Ghetto holen, aber es ist viel schwieriger, das Ghetto aus dem Juden zu holen.' Viel zu viele Israelis empfinden sich als wehrlose Opfer, der Mordgier der Judenhasser hilflos ausgeliefert. Natürlich wissen sie, dass Israel über die stärkste, am besten ausgerüstete Streitmacht der Region verfügt. Aber die Theorie ist eine Sache, die historische Erfahrung eine andere."

Apropos "Pisa". Thomas Steinfeld hat seine eigene Auffassung von Sinn und Zweck dieser als Bildungsbarometer ausgegebenen Studie: "Es ist der Wettbewerb der Industrienationen, der die Sorge der Politiker und der Öffentlichkeit beflügelt, das übliche Gerangel um Konkurrenzvorteile und Standortnachteile. Kein Politiker würde nun mit Kummerfalten im Gesicht vor die Kameras treten, wären die kleinen Japaner oder die kleinen Kanadier genauso ahnungslos wie ihre deutschen Altersgenossen. Dumm zu sein ist hier das geringste Problem ? dümmer zu sein hingegen das größte." Zu fragen aber wäre laut Steinfeld, "warum die Begeisterung und die Neugier, mit der sich noch fast jedes Kind seine Welt zu erschließen trachtet, so gründlich zerstört wurde: durch eben jenen Glauben an den Wettbewerb, den die Deutschen so gern gewonnen hätten".

Weitere Artikel: Der Kulturwissenschaftler Tom Holert vertritt die Meinung, dass mit dem Fall des World Trade Center auch die Lesbarkeit der Städte an ihr Ende gelangt, Thomas Thieringer verabschiedet "Monsieur 100000 Volt" ? Gilbert Becaud. Und der Dirigent Mariss Jansons erzählt uns etwas über die Kunst und über die Menschlichkeit des Komponisten Dmitrij Schostakowitsch.

Besprochen werden ein Konzert mit Maurizio Pollini im Münchener Herkulessaal, Peter Jacksons Film "Der Herr der Ringe: Die Gefährten", eine Haydn-Einspielung des Emerson-Quartetts, Humor und Schlagertexte, gesammelt von Michael Skasa, ebenfalls auf einem Tonträger, "Hello, Dolly" im Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz, die Ausstellung "Neue Sachlichkeit in Hannover" im Sprengel-Museum, eine Schau über "Geschichte und Geschichten" in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Ferner ein Buch, das in die großen Fragen der Philosophie einführen will, Albert Schweitzers Studien zur "Kultur und Ethik in den Weltreligionen" und der "Brockhaus für Eltern" (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).
Und wen's interessiert, der sei ganz am Ende unserer Presseschau noch auf zwei Zeitschriften hingewiesen. In der neuen Literaturen schreibt Sigrid Löffler über Marcel Reich-Ranicki und zwar recht spitz (aber leider nicht online): "Im Falle Reich-Ranickis war das Fernsehen als Eitelkeitsmaschine seines Daseins Glück und Unglück. Es hat den Kritiker Reich-Ranicki zugleich unerhört popularisiert und beschädigt. Er ist heute prominenter als die meisten Autoren und Bücher, über die er sich äußert. Aber unter der Rolle des Kreischerkönigs in der Glotze hat die Dignitätsrolle des Kritikers gelitten." Und die New York Review of Books präsentiert ein schönes Dossier über W. G. Sebald mit Texten von Gabriele Annan und Tim Parks.

NZZ, 19.12.2001

Michel Bodmer blickt recht gnädig auf die Verfilmung des ersten Teils des "Herrn der Ringe": "Wenn man Tolkiens Romantrilogie überhaupt verfilmen sollte, dann so. In jeder Hinsicht zeugt der Film von Sorgfalt und Liebesmüh und einer grenzenlosen Ehrfurcht vor dem Romanautor." Selbst die Elfen "muten nicht ganz so tuntig an wie befürchtet". Bodmer stört sich eigentlich weniger an der Verfilmung als an dem Buch: "Der Film ist eine adäquate Adaption eines Werks, das nicht (mehr) zeitgemäß ist." Auch ein Standpunkt!

Weiteres: Elisabeth Richter stellt das Berliner CD-Label Edition Abseits vor, das sich um die Musik des 20. Jahrhunderts und der Emigration verdient macht. Sieglinde Geisel hat sich in Dresden Israel Horowitz' Stück "3 Wochen nach dem Paradies" angesehen, das erste Stück zum 11. September, das trotz des Medienhypes beim Publikum floppt. Marc Zitzmann schreibt zum Tod Gilbert Becauds. "jak." stellt den neuen künstlerischen Leiter des Prado, Miguel Zugaza, vor. Kurt Malisch schreibt zum Tod der Sängerin Martha Mödl. Klaus Englert resümiert eine Kölner Tagung über Baukultur in Deutschland. Und schließlich bespricht Marianne Zelger-Vogt einen Brüsseler "Rosenkavalier".

FR, 19.12.2001

Nach seinen streitbaren Äußerungen zum 11. September (welche die aktuelle Lettre übrigens abdruckt) meldet sich Jean Baudrillard in der FR zu Wort. Hier nun wird deutlicher, was Baudrillard meinte, als er von diesem "Traum von einem Selbstzerstörungsakt" sprach, der sich erfüllt habe: "Ich bin Terrorist in dem Sinn, dass ich den Terrorismus zu lesen versuche dort, wo er ist. Und er ist überall, in Form von Viren oder in ereignishafter Form. Ich sage mir ja seit langem, dass es in dieser nummerisch-informatisch-technischen Konstruktion, dieser Welt in ihrer Positivität, etwas gibt, das ihr absolut widersteht. Man merkt plötzlich: Das Böse hat nicht aufgehört zu existieren. Im Gegenteil, es ist gewachsen, und früher oder später explodiert es. Also nicht das Böse, moralisch betrachtet, sondern etwas in der Realität selbst, was der Operationalisierung der Welt, der Globalisierung usw. radikal widerspricht." Verstanden?

Weil in einem Jahr schon wieder Bundestagswahl ist, unterzieht der Schriftsteller Jochen Schimmang in seiner Kolumne das Kanzlertier einer zoologischen Beobachtung und stellt fest: "Philipp Holzmann retten, Bündnisse für Arbeit iniitieren, 'hol mir mal ne Flasche Bier' oder 'basta' sagen - das ist alles erfrischend sympathisch, macht aber noch nicht den Staatsmann. Der wächst erst da, wo er in der Stunde der Gefahr bedingungslose Solidarität geloben kann und international dafür die besten Zeugnisse bekommt."

Außerdem: Eva Schweitzer inspiziert Norman Fosters Pläne für einen Hearst Tower in Manhattan, Reinhard Schulz berichtet von einer Tagung der "projektgruppe neue musik bremen", Hans-Klaus Jungheinrich schreibt einen Nachruf auf die Opernsängerin Martha Mödl und Dirk Fuhrig verabschiedet Gilbert Becaud, der im Alter von 74 Jahren in Paris gestorben ist.

Besprechungen gibt es zu Peter Jacksons Tolkienverfilmung, zu "Bedbound" von Enda Walsh an den Münchner Kammerspielen sowie zu Meryl Tankards Choreografie "Merryland" für das Nederlands Dans Theater.

FAZ, 19.12.2001

Heinrich Wefing ist ergriffen: endlich eine "grandiose Idee für den Berliner Schlossplatz". Sie kommt von Axel Schultes dem Architekten des (unserer Meinung nach weniger grandiosen) Kanzleramts. "An der Stelle des mächtigen Vierkants der ehemaligen Residenz mit ihren beiden Höfen schlägt Schultes eine Dreiflügelanlage vor, die sich zu Schinkels Altem Museum hin öffnen soll, in der Mitte ein arkadengesäumter Platz, steinernes Pendant des Lustgartens, dessen Verlängerung und Antithese." Dabei sollen Zitate aus Schlüters Schlossarchitektur eingebaut werden. Wefing dazu: "Dies ist, scheuen wir nicht das große Wort, ein Wunder. Ein architektonisches Mirakel, das den Ausweg weisen könnte aus der verfahrenen Debatte um die Gestaltung des Berliner Schlossplatzes"

Axel Schultes äußert sich zu seinem Vorschlag gleich in einem Interview mit Gerwin Zohlen: "Zauber und Zeitlosigkeit dieser Räume brauchen das schwere Material - Stein und Putz oder Terracotta, gemauert im 'römischen Verband', ergänzt um Spolien, oder Sichtbeton oder meinetwegen auch Holz, das helfen könnte, die Illusion des Alten zu stören." Na, das wollen wir erst mal sehen. So präsentiert sich das Ganze im Entwurf.

Streng urteilt Michael Allmaier über Peter Jacksons Verfilmung des ersten Teils des "Herrn der Ringe": "Es ist die Geschichte der Kapitulation eines Mediums vor einem anderen. Jackson hätte aus diesem Monolithen von einem Buch seinen 'Herrn der Ringe' meißeln müssen, und wenn die Tolkien-Gemeinde unter Flüchen aus den Kinos gestürmt wäre. Statt dessen schneidet er ihn in drei Teile und baut ihn in Hollywood wieder auf wie ein Fundstück aus einer vergessenen Welt."

Der kosovo-albanische Schriftsteller Beqë Cufaj resümiert den Tag, da in Den Haag die Anklageschrift gegen den serbischen Ex-Diktator Milosevic verlesen wurde: "Sein Gesicht wirkt an diesem Morgen noch aufgedunsener als sonst. Offensichtlich fühlt er sich nicht wohl. Er schaut starr vor sich hin und schenkt noch nicht einmal seinen treuen Anhängern und den ihm wohlgesinnten Zeitungsschreibern einen Blick."

Weitere Artikel: Monika Osberghaus erzählt die Geschichte des Kinderbuchs "Hinter dem Bahnhof liegt das Meer" von Jutta Richter, das sich, wie sich jetzt herausstellt ganz offensichtlich sehr eng an Christoph Meckels Roman "Bockshorn" von 1973 orientiert ("Ein Plagiat ist es nicht, denn Jutta Richter hat nicht abgeschrieben. Ihr Roman wirkt eher wie eine Traumversion des anderen Buches - verfremdet, verkürzt und leider längst nicht so gut.") Annett Busch porträtiert den algerischen Autor und ehemaligen General Mohamed Moulessehoul, der unter dem Namen Yasmina Khadra die Jahre des Terrors aufarbeitet. (Hier eine Leseprobe aus einem seiner Romane.)

Ferner konstatiert Wolfgang Sandner überraschende Akustikmängel im gerade fertiggestellten Kimmel Center in Philadelphia. Gina Thomas berichtet von den Nöten der englischen Eliteuniversitäten, die sich des Ansturms immer qualifizierterer Kandidaten kaum mehr erwehren können. Jakob Hessing resümiert den Vortrag über Heine, den Stefan Heym kurz vor seinem Tod in Israel hielt. Dieter Bartetzko schreibt zum Tod von Gilbert Becaud. Joseph Croitoru stellt das irakische Buch der Saison vor: "Die uneinnehmbare Festung". Saddam Hussein höchstpersönlich soll den Roman geschrieben haben. Walter Haubrich erzählt von spanischen Bestrebungen, das Deutsche als Amtssprache in der EU abzuschaffen. Siegfried Stadler berichtet über einen Wald, der vor 14.000 Jahren umstürzte und unter einer Torfschicht begraben wurde, eine Fundgrube für Archäologen, die nun wissenschaftlich gesichert werden soll, bis die Lausitzer Braunkohlebagger, die sie freigruben, auch dieses Terrain verdaut haben. Hans-Christof Kraus hat einem Kolloquium des Historischen Kollegs zum Thema "Politische Religiosität, politische Theologie, politische Religion" zugehört. Eleonore Büning schreibt zum 20. Geburtstag des Avantgardeladens "Gelbe Musik" in Berlin. Reinhard Seiss stellt das Wiener "Bau-Künstler-Kollektiv" BKK-2 vor, das auf dem Geländer einer ehemaligen Sargfabrik ein originelles Wohnprojekt verwirklichte. Hans-Dieter Seidel berichtet, dass Roman Polanski im nächsten Film von Andzrej Wajda als Schauspieler vor der Kamera stehen wird.

Auf der Medienseite porträtiert Heike Hupertz den Medienmogul John Malone, der einen Großteil des deutschen Kabelnetzes gekauft hat. Und Michael Hanfeld denkt über die Serie "Sex and the City" nach. Auf der Stilseite geht's um eine Ausstellung über Engel im Historischen Museum Saar und um eine Ausstellung des Bayerischen Kunstgewerbevereins im Münchner Stadtmuseum.

Besprochen werden eine Ausstellung über Orazio und Artemisia Gentileschi im römischen Palazzo Venezia und ein paar Sachbücher, darunter eine Einführung in die Philosophie, und sonst gar nichts.