Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2002. In der SZ stellt der Historiker Fritz Stern eine Entfremdung zwischen Europäern und Amerikanern fest. Die NZZ berichtet über das große Reinemachen in den italienischen Kulturinstituten. Die FR denkt über die Krise der Mediengiganten Vivendi und Kirch nach. In der taz plaudern Schriftsteller über die Rückkehr der DDR in die Literatur. Die FAZ berichtet über adoptierte Embryonen in den USA.

SZ, 20.03.2002

Die SZ druckt ein Gespräch mit dem Friedenspreisträger und Historiker Fritz Stern (mehr hier) über europäisch-amerikanische Verständigungsprobleme. Die Tatsache, dass das Manifest zum "gerechten Krieg" Amerikas gegen den Terror in der amerikanischen Öffentlichkeit so wenig Beachtung fand, während es in Europa für Erregung sorgte, sei zwar ein deutlicher Hinweis auf Entfremdung, meint Stern, die Europäer sollten sich aber daran gewöhnen, "dass es immer noch viele amerikanische Stimmen gibt und dies auch in der Regierung selbst. Außerdem sollten die Europäer sich die kritischen Stimmen in den Hauptzeitungen anhören, die sich innenpolitisch wie außenpolitisch sehr scharf äußern. Also es gibt nicht nur ein Amerika ... und man kann nur hoffen, dass die Gemäßigten, die es ja auch noch gibt, größeres Gewicht bekommen."

Welcher deutsche Kanzlerkandidat im Osten das größere Gewicht auf die Waage bringt, scheint für Jens Bisky indessen einerlei zu sein. Die Programme gleichen sich eh aufs Haar, und der Osten, das sind so Bühnen, auf denen nur ab und an einer auftritt. "Wer anderswo Chancen auf ein Engagement hat, kehrt diesen Bühnen den Rücken. Man wird sie kaum halten, geschweige denn zurückholen können, wenn man die Bühnenbilder wieder verkommen lässt und nicht mehr in die Maschinerie investiert. Aber welches Stück soll aufgeführt werden?"

Weitere Artikel: Christoph Nix, Intendant des Staatstheaters Kassel, hat die Nase voll von Schachereien und Vertragsbrüchen an deutschen Theatern und verfasst ein Plädoyer wider den Verdrängungswettbewerb im Kunstbetrieb, Bernd Feuchtner berichtet vom ersten Berliner MaerzMusik-Festival, auf dem das populärste Musikinstrument das Apple-Powerbook war, Alexander Kissler besuchte eine Göttinger Tagung über die Lebenswelten aus Nazideutschland exilierter Künstler und Intellektueller, es gibt einen Nachruf auf den Westernregisseur William Witney, Helmut Mauro hat Philippe Herreweghe beim "Lucerne Festival" gelauscht, Raphael Honigstein annonciert den Start der Europatournee der "Chemical Brothers", Fritz Göttler gratuliert dem komischen Film- und Fernsehgenie Carl Reiner zum 80., Andrian Kreye führt durch die umstrittene Ausstellung "Mirroring Evil: Nazi Imagery / Recent Art" in New York, und in der Reihe zur Modernität der protestantischen Kirche erklärt Gert "Kulturzeit" Scobel, dass Luther selbst es war, der den Beruf des Unternehmensberaters für Gemeinden erfunden habe.

Besprochen werden das Ausstellungs-Ereignis "Jan van Eyck, die altniederländischen Maler und der Süden" im Groeningemuseum in Brügge, Agnes Desarthes' Roman "Die guten Vorsätze", ein "dialogisches Selbstportrait" zu Carl Friedrich von Weizsäckers Wanderung ins Atomzeitalter sowie ein neues Buch von und eins über Reinhold Messner. Außerdem bringt die SZ heute ihre Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse.

NZZ, 20.03.2002

Franz Haas sieht die italienischen Kulturinstitute im politischen Sperrfeuer der Berlusconi-Regierung. In London wehrten sich Salman Rushdie und Doris Lessing in einem Zeitungsmanifest gegen die Absetzung des Schriftstellers Mario Fortunato als Direktor des Istituto Italiano di Cultura. "Das grosse Reinemachen betrifft aber nicht nur das Institut in London, sondern auch jene in Paris, Brüssel und Berlin. Mario Baccini, der Staatssekretär im italienischen Außenamt, erklärte in einem Interview mit der neapolitanischen Zeitung Il Mattino, dass künftig keine Leute die Kultur vertreten sollen, die den Namen Italiens verunehren. So etwa habe der Vertreter in Paris Autoren unterstützt, die gegen Berlusconi protestiert hatten. Der in Brüssel wollte das Buch eines oppositionellen Richters präsentieren, der in Berlin einen Dokumentarfilm über die Straßenkämpfe von Genua zeigen. Überhaupt sollten in Zukunft mehr die Mode und das Design das heutige Italien in der Welt vertreten, sagte dieser hohe Politiker des Außenministeriums." Jetzt hoffen wir, dass auch Giorgio Armani protestiert.

In einer Frankfurter Ausstellung über deutsche Schriftsteller, die in der Nazizeit in die Schweiz flüchteten (mehr hier), erhielt Roman Bucheli ein "sehr düsteres Bild einer Nation, die sich so viel auf ihre Tradition als Asylland für politische Verfolgte zugute hielt. Allein die Wortwahl im behördlichen Schriftverkehr vermittelt eine Ahnung der Verachtung und der moralischen Verrohung, mit denen die Emigranten im Umgang mit der Fremdenpolizei zu rechnen hatten. Als der Schriftsteller und Redaktor Walther Victor zusammen mit seiner Frau aus der Schweiz ausgewiesen werden sollte, begründete dies die Bundesanwaltschaft mit dem Hinweis darauf, dass es sich 'bei diesen jüdischen Emigranten' 'um Elemente' handle, die 'natürlicherweise mit den antifaschistischen Linkskreisen in Verbindung stehen' als 'unerwünschte Ausländer' müssten sie aus der Schweiz 'entfernt' werden."

Weitere Artikel: Georges Waser porträtiert den britischen Kunsthändler Robin Garton, der maßgeblich für die Renaissance der Druckgrafik in Großbritannien verantwortlich ist. Besprochen werden die Eröffnungsausstellungen im Pariser Palais de Tokyo, das Paris nun wieder einen Ruf als Stadt zeitgenössischer Kunst verschaffen soll, eine Moskauer Schau zum 100. Geburtstag des Konstruktivisten Iwan Leonidow, Luca Ronconis Spektakel "Infinities" in Mailand und einige CDs, darunter Neuheiten aus dem Pariser Ircam, CDs mit Werken von Carl Nielsen und Werke von Krzysztof Penderecki in Neuaufnahmen.

Buchrezensionen widmen sich unter anderem Manfred Rumpls Roman "Zirkusgasse" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr) und den nur französisch erschienenen Tagebüchern des Theologen Yves Congar.

FR, 20.03.2002

Sind der eingeläutete Kurswechel bei Vivendi Universal (hin zur Kultur als reine Handelsware), der kollektive Aufschrei Frankreichs, das Zittern um die "exception culturelle", und schließlich die Offenbarung eines Riesendefizits beim Mediengiganten ein rein französisches Phänomen? Rüdiger Wischenbart möcht's bezweifeln, nicht nur mit Blick auf die Kirch-Krise: "Nach der euphorischen Globalisierung der Kultur- und Medienindustrien nebst nachfolgender Kollision mit der ökonomischen Wirklichkeit, ist nun zu sehen, dass die inhaltliche wie geografische Expansion, mächtig verstärkt durch die neuen digitalen Technologien, tatsächlich zu einer Neuordnung aller kulturellen Orientierungen führt ... der französische Streit lässt sich vielleicht am besten begreifen als Auftakt zu einer neuen und äußerst spannenden Auseinandersetzung um Kultur, Identitäten und Kulturindustrien mit ungewissem Ausgang."

Außerdem: Michael Lüders berichtet von einer Konferenz über die "Nachwirkungen des 11. September für die islamische Welt", auf der arabische Intellektuelle feststellten, dass der Mythos bin Laden bereits verblasst ist; wir lesen, wieso ein amerikanisches Schattenkabinett gar nicht das schlechteste wäre - in einem von Marcia Pallys Flatiron Letters, Martina Meister führt durch die Welt von Charles und Ray Eames im Vitra Design Museum Berlin, Tim Gorbauch berichtet von der siebten Ausgabe des pol-Festivals für neue Musik in Frankfurt, der Kolumnist des "Times mager" staunt über das kolossale Nichts im Berliner Regierungsviertel, einer kleinen Notiz entnehmen wir, dass in Berlin nun doch kein Theater zumachen muss - vorerst jedenfalls. Ina Hartwig schließlich eröffnet die Leipziger Buchmesse und sieht angesichts des neuen "Deutschen Bücherpreises" die "schöne alte Unschuld des Leselands Deutschland in einem kollektiven, provinziellen Medienrausch" zugrunde gehen. Zuvor aber unbedingt die Literaturbeilage zu Gemüte führen!

Rezensionen widmen sich der Ausstellung "Flash Art" - zeitgenössische Fotografie aus Afrikas Metropolen - im NRW-Forum Düsseldorf, Eric Rohmers Historienfilm "Die Lady und der Herzog",Videoinstallationen des türkischen Künstlers Kutlug Atamans in der Wiener Bawag Foundation und ein Buch über Johnny Cash (auch in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Außerdem liegt heute die Literaturbeilage der FR bei.

TAZ, 20.03.2002

In einem Gespräch mit dem promovierten Kulturwissenschaftler und Videoschnippsler Jürgen Kuttner, dem Autor Falko Hennig ("Trabanten") und dem Russendisko-Betreiber Bert Papenfuß über die Rückkehr der DDR in die Charts des Literaturbetriebes (Wolf, Anderson etc.) kitzelt die taz bühnenreife Dialoge heraus, dass es eine Freude ist. Kleine Kostprobe: Bert Papenfuß: "Man sollte nie die Erwartungen der Verlage erfüllen. Ich habe mal mit Bernd Lunkewitz vom Aufbau Verlag zusammengesessen. Und was wollte er haben? DDR-Aufarbeitung mit viel Sex. Was soll der Quatsch? Selbst die aufstrebenden jungen Karrieristen der Reformbühne Heim und Welt, selbst du, Falko, versperrst dich ja gerade dem." Falko Hennig: "Das stimmt nicht. Ich habe in meinem neuen Buch alles geschrieben, was in einen Erfolgsroman reingehört. Ich fände es erfreulich, wenn sich das Buch gut verkaufen würde." Bert Papenfuß: "Das ist doch Mist." Jürgen Kuttner: "Kunst muss aus der Not entstehen." Ganz genau.

Weitere Artikel: Sebastian Handke hält Paul Andersons Film "Resident Evil" für eine nicht wirklich misslungene Adaption der Game-Logik, Angelika Ohland rezensiert John Bergers "Auf dem Weg zur Hochzeit" unter der Regie von Brigitte Landes am Hamburger Schauspielhaus, Christian Broecking hat für uns Neue Musik gehört - auf dem Frankfurter "festival neue musik pol 7" und aus der Konserve.

Und die Tagesthemen liefern ein Gespräch, in dem der israelische Stardirigent Daniel Barenboim (mehr hier) die Ablösung von Sharon und Arafat fordert (und das nicht bloß, damit er endlich in Ramallah auftreten kann). Und er erklärt, warum er in Ramallah spielen wollte: "Ich verspreche mir davon, dass die Menschen dort sehen: Nicht jeder Israeli ist ein Soldat. Sondern hier ist ein Musiker, der etwas gemeinsam hat mit den Menschen, die in Ramallah leben und Musik studieren - jemand, der die gleiche Leidenschaft teilt. Dass ihnen bewusst wird: Es gibt so vieles, das man gemeinsam hat. Das ist die Basis für Verständnis."

Schließlich Tom.

FAZ, 20.03.2002

In den Reproduktionskliniken der USA lagern etwa 200.000 tiefgefrorene Embryonen. Jedes Jahr kommen etwa 19.000 dazu. Inzwischen gibt es zwei Agenturen (Snowflakes und Nightlight), die diese Embryonen an adoptivwillige Paare vermitteln. Anne Zielke hat zwei solche Paare besucht und festgestellt, dass die Kinder offenbar geliebt und gut versorgt werden. Das scheint ihr nicht genug zu sein. Am Ende ihres Artikels orakelt sie: "Die Legionen von Ungeborenen, sie sind längst nicht mehr nur die düsteren Metaphern aus den Gedichten von Georg Trakl. Sie klagen weder von ihrem mythischen Ort aus 'im Herbstwind', noch sind sie 'ungeborne Enkel', die nur deshalb niemals möglich sein werden, weil jene, die ihre Eltern hätten zeugen können, auf dem Schlachtfeld von Trakls 'Grodek' verbluteten. Es gibt längst neue Schlachtfelder. Trakls Ungeborene sind, nicht minder unheimlich, durch die moderne Reproduktionsmedizin wirklich geworden. Und mit ihnen sind neue Fragen auch nach Schuld und Rechtfertigung aufgetaucht."

Denis Scheck, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk, nimmt in der FAZ die Kritikerkollegen auseinander, die den neuen Handke und den neuen Grass gelobt haben. (Hubert Spiegel hat in der FAZ beide verrissen). Beide Bücher, so Scheck, "sind gut gemeint und schlecht gemacht." Dass sie dennoch so erfolgreich sind - Grass konnte schon über eine halbe Million verkaufen, der Handke steht auf Platz 1 der SWR-Bestenliste - lastet Scheck den "Narren und Scharlatanen" unter den Literaturredakteuren (das sind alle Nicht-FAZler) an. Die Zukunft aber gehöre ohnehin den "Literaturludern" wie Lea Rosh und Gaby Hauptmann ("Willkommen im Club") und Brigitte Seebacher-Brandt (Bunte). Dem Literaturluder geht es selbstverständlich nicht um Bücher, sondern "lediglich um die Teilhabe an der Sphäre der Prominenz...".
Ein Taschentuch, bitte.

Weitere Artikel: Aro. stellt das Riemerschmid-Haus vor, die neue Museumsfiliale in Hagen. Andreas Rosenfelder berichtet über ein Schweizer Symposium, das die Totalität der Ästhetik erkundet hat. Jürg Altwegg meldet, dass der Jesuit Albert Longchamp, Direktor der Zeitschrift "Choisir", jetzt wieder schreiben darf, nachdem Kardinal Kasaroli ihn nach einem kritischen Artikel über das Opus Dei mit einem Schreibverbot belegt hatte. In einem zweiten Artikel schildert Altwegg die Querelen um die Schweizer "Weltwoche". Karin Leydecker beschreibt den "Expomedia Light Cube" in Saarbrücken, ein Gebäude der Architekten Kramm und Strigl. Der Soziologe Gerhard Bosch erläutert den Strukturwandel im Ruhrgebiet und kommt zu dem Schluss: Zwar habe sich der Arbeitsmarkt bis heute nicht von den Verlusten erholt, die das Wegsterben der Montanindustrie mit sich brachte. Die Prognose aber sehe nicht mehr nur düster aus: "Die Talfahrt geht noch einige Jahre weiter, aber in Teilregionen wird ein Neuanfang Früchte tragen."

Auf der Medienseite berichtet Alexander Bartl über einen neu eröffneten Themenpark im Disneyland Paris, der sich Film und Fernsehen widmet und die Kehrseite jener Traumwelt offen legen soll, die sich im ersten, nunmehr zehn Jahre alten Themenpark entfaltet. Hier hat sich auch der "Disney Channel" niedergelassen. Auf der Stilseite widmet sich Gisa Funck den neuesten Trendvokabeln. Und auf der letzten Seite beschreibt Martina Wittneben Fotografien, die Georges Angelis an einem Sonntag Nachmittag 1944 im KZ Buchenwald aufgenommen hat (die Bilder .

Besprochen werden Deutsche Kinderspiele von Georg Seidel und Martin Walser im Theater Nordhausen, die Schau "Klänge des inneren Auges" in der Kunsthalle Bremen, eine Ausstellung mit Schönbergs Malerei in der Frankfurter Schirn, eine Ausstellung mit Werken von Rolf Schneider im Kunstverein Grafschaft Bentheim und Kenneth Kvarnströms Choreografie "Fragile" beim Festival "Tanz Bremen".