Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2002. In der SZ sieht Moshe Zimmermann die israelische Gesellschaft als Geisel der Siedler. Die FAZ feiert Geburtstag mit Kardinal Ratzinger und den Bayerischen Gebirgsschützen. Die NZZ fragt, ob die lateinische Schrift durch das Internet engültig zur Universalschrift wird. Die taz schickt einen Reisebericht aus Kolumbien. Die FR freut sich über eine erstarkte italienische Opposition.

FAZ, 22.04.2002

Christian Geyer durfte offensichtlich der großen Audienz des Papstes zum 75. Geburtstag des Kardinals Ratzinger beiwohnen, der aus diesem Anlass 400 Bayerische Gebirgsschützen zum Salutschießen einlud. "Nachdem .. Ratzinger im Innenhof des Vatikan-Palastes San Callisto in die Gebirgsschützenkompanie Tegernsee als Ehrenmitglied aufgenommen worden war, pflichtgemäß und beschwingten Schrittes die quasi-militärische Front abgeschritten hatte und nun die Schüsse in dreifacher Feuerfolge tatsächlich losgingen, da schalteten sich nicht nur etliche Alarmanlagen in der Umgebung ein, sondern die bayrische Sozialministerin Christa Stewens, die einen bayrischen Löwen nebst Grüßen des Kanzlerkandidaten überbrachte, erschrak sich auch fast zu Tode."

Weiteres: Andreas Kilb berichtet von der feierlichen Bekanntgabe der Nominiereungen für den Deutschen Filmpreis. Dietmar Polaczek stellt neue Direktoren und Programme der Biennale von Venedig vor. Camilla Blechen schildert die Verluste im Berliner Brücke-Museum, wo in der Nacht zu Sonnabend neun expressionistische Gemälde gestohlen wurden. Christoph Albrecht resümiert ein Symposion über das Urheberrecht im digitalen Zeitalter. Joseph Croitoru liest osteuropäische Zeitschriften, die sich mit der Renaissance der Sakralarchitektur nach dem Fall der Mauer befassen. Der Berliner Historiker Gerd Heinrich plädiert für eine Umbenennung ines künftigen Landes Berlin-Brandenburg in "Preußen". Timo John stellt Ben van Berkels und Caroline Boes' Entwurf für das Mercedes-Museum in Stuttgart vor, der nun für 60 Millionen Euro realisiert werden soll. Paul Ingendaay besucht eine Ausstellung der für ihre schönen Bücher bekannten (und zu Bertelsmann gehörigen) Galaxia Gutenberg/Circulo de Lectores im Reina-Sofia-Museum von Madrid. Joachim Müller-Jung konstatiert, dass die amerikanische Polizei im Fall der Milzbrandattacken vom letzten Herbst nach wie vor im dunkeln tappt. Jochen Hieber schreibt ein kleines Profil über den saarländischen Dichter (und ehemaligen Hilfsarbeiters auf dem Bau) Johannes Kühn, der nun Ehrenbürger seiner Heimatstadt Tholey ist.

Auf der Medienseite stellt Heike Hupertz die erfolgreiche MTV-Serie "The Osbournes" über das Familienleben in der besagten Rockband vor, die demnächst auch in Deutschland läuft. Und Michael Ludwig durchmisst die Untiefen der polnischen Medienpolitik - Medienkonzerne sollen künftig nicht mehr Fernsehen und Print gleichzeitig betreiben, ein Gesetz, das sich offensichtlich vor allem gegen Adam Michniks Gazeta Wyborcza. Auch der Rundfunkrat gewinnt unter der Regierung der Exkommunisten eine immer größere Macht.

Besprochen werden die Erstaufführung der 1906 komponierten Oper "Osud" von Leos Janacek in Prag ("Die Inszenierung von Robert Wilson wurde die arbeitsintensivste und teuerste in der Geschichte des Hauses", schreibt Wolfgang Sandner), eine grpße Berthe-Morisot-Ausstellung in Lille, Sandra Nettelbecks Film "Bella Martha", ein Konzert der Band Lambchop, das Jugendtheaterstrück "Grenze" von Suzanne Osten in Zürich.

NZZ, 22.04.2002

Florian Coulmas (mehr hierfragt in einem längeren Essay, ob sich die lateinische Schrift durch Computer und Internet endgültig zur Universalschrift entwickeln wird und kommt zu einer differenzierten Antwort: "Englisch in Lateinschrift ist bereits zu der Sprache geworden, in der am meisten Information verfügbar ist und am meisten kommuniziert wird. Sie wird weiter expandieren. Gleichzeitig jedoch erwirbt das Internet immer mehr lokale Formen rund um den Erdball. Die Vielsprachigkeit und Vielschriftlichkeit des Internets wird eher zu- als abnehmen. Für die Zukunft der Schrift ist das höchst bedeutsam, denn der Gebrauch des Internets als Werkzeug für Handel, Verwaltung und Ausbildung wird weiter zunehmen. Ungeachtet seiner multimedialen Möglichkeiten ist es vor allem ein schriftliches Medium. Befürchtungen, dass elektronische Literalität die Menschheit auf Englisch in Lateinschrift reduzieren wird, erscheinen so gesehen verfrüht, wenn nicht unbegründet."

Weiteres: Claudia Schwartz berichtet über den neuesten Stand in der Berliner Schloss-Debatte. Aldo Keel hat Gedenkberantaltungen zum hundertsten Geburtstag von Halldor Laxness in Island besucht. Dirk Sangmeister schreibt zum 250. Geburtstag des Buchdruckers und Verlegers Georg Joachim Göschen, der frühe Werke von Schiller und Goethe herausbrachte. Besprochen werden die Bill Viola-Ausstellung in Berlin, eine Ausstellung über Emil Nolde und die Südsee in der Münchner Hypo-Kunsthalle, das Spektakel "Suisse Polydanse" des Bern-Balletts.

TAZ, 22.04.2002

Der Schriftsteller Raul Zelik (mehr hier) liefert einen sehr beeindruckenden Bericht aus der kolumbianischen Stadt Barrancabermeja. "Auf normalen Lateinamerika-Karten ist Barrancabermeja nur ein Punkt. Eine spät gegründete Erdölstadt: 350.000 Einwohner, Standort der größten kolumbianischen Raffinerie, Gewerkschaftsbastion. Ich kam 1989 zum ersten Mal hierher. Es war die Zeit, als die Armee mit der Säuberung der Region begann. Die Leute, die die Massaker in den Dörfern überlebten, flohen nach Barrancabermeja, denn die Stadt schien wie eine Trutzburg zu sein. Eine Ortschaft in den Händen der sozialen Organisationen. Es gab auch damals Morde - fast jede Woche war ein Name in den Zeitungen abgedruckt. Doch man konnte darüber hinweglesen. Ich selbst las bis zum 30. April 1989 darüber hinweg. An jenem Tag töteten die Todesschwadronen eine Frau, die ich aus dem Flüchtlingslager kannte. Einen Menschen, mit dem ich gesprochen hatte, dem ich ein Gesicht zuordnen konnte. Und es war wie diesmal: Ich erschrak und blieb ungerührt."

Christoph Wager verhandelt im Scheibengericht unter anderem Platten von Hartmut Geerken & The Art Ensemble of Chicago, Lydia Mendoza, Sylvia Hallett, Musica Secreta und The Kings Consort. Hinzuweisen ist außerdem noch auf ein Interview auf den Tagesthemen-Seiten, in dem sich ein sehr nachdenklicher Charles V. Pena vom Washingtoner Cato-Institut zu Amerikas Krieg gegen den Terror äußert.

Und schließlich Tom.

FR, 22.04.2002

Gariella Vitiello freut sich über den verbesserten Zustand der italienischen Opposition, die in der vorigen Woche 13 Millionen Menschen für ihren Generalstreik mobilisieren konnte - ein überzeugendes Gegengewicht zu Berlusconis Entpolitisierungsversuchen, wie Vitiello meint: "In Anbetracht dieses Bürger-Engagements zeigt sogar die schlappe und bisher zerstrittene Opposition wieder erste Lebenszeichen. Die Lethargie der linken Parteien dürfte einer der Gründe sein, warum so viele Menschen in ihrer Freizeit auf die Straße gehen: wenn die Polit-Profis keine Opposition mehr zeigen, dann eben das Volk selbst, um vor allem gegen die Justizreform, die Schulreform, die Reform des Arbeitsmarktes und die Inbesitznahme des italienischen Fernsehens, der RAI, seitens der Regierung zu demonstrieren."

Weitere Artikel: Peter W. Jansen berichtet vom Festival goEast in Wiesbaden, das sich unter anderem den Klassikern des surrealen Films widmete. Besprochen werden Alexander Galins Komödie "Casting in Kursk" und politische Bücher: Ute Kätzels Porträt der "68erinnen", Reinhard Müllers Dokumentation "Menschenfalle Moskau" oder James Bamfords Geschichte des mächtigsten Geheimdiensts der Welt, der NSA (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 22.04.2002

Natürlich Nahost: Der Historiker Moshe Zimmermann erklärt die Israelis zu Geiseln in einem dreißigjährigen Geiseldrama: "Eingeleitet wurde dieses Drama durch israelische Siedler, die in den im Sechs-Tage-Krieg von 1967 von Israel eroberten Gebieten neue Siedlungen gründeten. Diese Siedler haben damit nicht nur im metaphorischen Sinne die gesamte israelische Gesellschaft zur kollektiven Geisel gemacht. Siedlungen und Siedlungspolitik Israels sind für Palästinenser die Provokation schlechthin. Besonders betroffen fühlen sich Palästinenser, die eine Lösung des friedlichen Nebeneinanders mit Israel befürworten. Gefördert wurde die Provokation von allen israelischen Regierungen (mit Ausnahme der Regierung Rabins), so dass heute buchstäblich das Schicksal aller Israelis von diesem Siedlungsunternehmen abhängig gemacht worden ist. Doch statt sich von den Siedlern zu befreien, zeige die Mehrheit der Israelis das bekannte Geiselsyndrom, klagt Zimmermann: "Verständnis, ja Hochachtung für ihre Geiselnehmer".

Weitere Artikel: Franziska Augstein hat schon einmal den Band "Die Sicherheit" gelesen, in dem zwanzig ehemalige Generäle und Oberste der DDR ihre Sicht auf das MfS für die Nachwelt festhalten: "Was die alten Offiziere an ihrer Organisation zu kritisieren finden, lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: 'Es wurde erst zuviel Papier gesammelt, dann wurde nicht genug vernichtet.'" Christoph Bartmann wirft einen Blick auf die dänische Kulturpolitik, in der sich neuerdings "ökonomischer Radikalliberalismus" mit der Absage an die kulturellen Werte des bürgerlichen Liberalismus" verbinde. Stefan Koldehoff klärt anlässlich der gestohlenen Brücke-Bilder über die modernen Varianten des Kunstraubs auf.

Henning Klüver stellt erleichtert fest, dass sich der neue Präsident der Biennale in Venedig nicht von dem "Geschrei" des Kulturstaatsekretärs Vittorio Sgarbi beeindrucken lässt. Volker Breidecker meditiert über den Hochhaus-Crash von Mailand als Deja-vu und aufkommende Schauerromantik. Anke Sterneborg hat sich mit der indischen Regisseurin Mira Nair über Globalisierung, Bollywood und ihren neuen Film "Monsoon Wedding" unterhalten, der auch besprochen wird.

Weitere Besprechungen widmen sich: der Ausstellung des Hygiene-Museums Dresden "bodytravel - Reise in den Körper"(hier mehr), Grigorij Sokolovs Haydn-Konzert, Robert Wilsons Aufführung der Janacek-Oper "Osud" in Prag sowie Strindbergs "Totentanz" in der Inszenierung von Barbara Bürk in Hannover.

Und Büchern: unter anderen Franz Walters Geschichte der SPD, Helga Hirschs Buch über Deutsche, Juden und Polen "Ich habe keine Schuhe nicht" über Deutsche, Juden und Polen sowie die Jubiläumsbände der VolkswagenStiftung "Impulse geben - Wissen stiften" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).