Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2002. In der FR sucht der Philosoph Sadiq Al-Azm nach Gründen für den islamischen Terrorismus. Die taz porträtiert Präsidenten der Bir-Zeit-Universität, den deutschen Baumeister von Bagdad und den irakischen Zahnarzt, der Günter Grass ins Arabische übersetzt hat. Die NZZ erklärt, warum der Norden mehr liest als der Süden. Die FAZ gibt eine Einführung in chinesische Lyrik. Die SZ feiert heute Allerheiligen.

FR, 01.11.2002

Der syrische Philosoph Sadiq al-Azm (mehr hier) denkt in einem Gespräch mit der FR über die Gründe für die terroristische Gewalt der Islamisten nach und zieht dabei einen interessanten Vergleich: "Die terroristische Gewalt zeugt von einer tiefen strukturellen Krise der islamistischen Bewegung. Sie war schon vor dem 11. September in einer Sackgasse, und einige extremistische Gruppen glauben, sie können mit spektakulärer Gewalt daraus ausbrechen; ähnlich wie der europäische Terrorismus in den Siebzigern. Statt auf die Revolution zu warten, wollte man mit spektakulären Gewaltakten das Proletariat erwecken. Diese Taten entsprangen einem Gefühl des Verfalls, die kommunistische Idee war im Westen gescheitert. Die islamistische Bewegung ist zweifach gescheitert, beim Versuch, friedlich und langfristig einen Systemwechsel herbeizuführen, sowie, Regierungen zu stürzen."

Der Schriftsteller Franzobel denkt über die Österreicher und den Tod nach. "Niemand nimmt hier jemand ernst. Niemals. Nicht einmal die Toten, was sich nicht nur am Kafka Gedenkraum Kierling oder an den Mozartkugeln zeigt. Alles wird hier lächerlich gemacht, sogar der Tod, der alte Puderant."

Anlässlich der Präsentation der ersten Bände der "Heinrich-Böll-Gesamtausgabe" erinnerte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder gestern in einer Rede an den Schriftsteller - zum Beispiel an seinen Protest gegen die Raketenbasis in Mutlangen. "Mag seine damalige Auffassung historisch widerlegt worden sein - mir geht es um die Haltung: Jene leise und doch unwiderstehliche Präsenz, die erst aus ebenso großer Zurückhaltung entsteht und zum Ausdruck bringt, was Heinrich Böll immer hatte: die hohe Autorität eines Authentischen."

Weitere Artikel: Marcia Pally fragt sich in ihrem Flatiron Letter, warum das FBI so oft daneben haut: "Al Kaida trifft seine Ziele, Hamas und die Hisbollah treffen ihre Ziele ... Der durchschnittliche zwölfjährige Scharfschütze aus der Vorstadt trifft sein Ziel. Wen stellt das FBI ein - Kanadier?" Kerstin Grether porträtiert die Goldenen Zitronen, die sich anlässlich ihres 18. Geburtstages (als Band, versteht sich) eine historisch-kritische Werkausgabe in Form einer Best-Of- Doppel-CD genehmigt haben. Manuela Lenzen war auf einer Bielefelder Tagung zur Entgrenzung der Gewalt. Gerhard Midding schreibt den Nachruf auf den Regisseur Andre de Toth. Gemeldet werden der Tod des italienischen Schauspielers Raf Vallone, der Tod des spanischen Regisseurs Juan Antonio Bardem und der Mord an dem HipHop-DJ Jam Master Jay (mehr hier).

Rezensionen widmen sich neuer Electronica vom Kölner Label Staubgold, der "TeleCity"-Ausstellung im Bauhaus Dessau und der CD "The homecoming concert" von Lame Gold.

TAZ, 01.11.2002

Interessante Porträts heute in der taz: Auf der Tagesthemenseite stellt Karim El-Gawhary den Baumeister von Bagdad vor, den Deutschen Alexander Christof. Der Architekt arbeitet mit seiner Frau an einem Projekt zur Verbesserung der irakischen Trinkwasserversorgung für die Bevölkerung: "Wir sind eine humanitäre Organisation und kein verlängerter Arm für eine politische Maßnahme. Wir zielen auf die Menschen in diesem Land ab. Das Umfeld ist mir egal".

Auf der Meinungsseite porträtiert Yassin Musharbash den Präsidenten der Bir-Zeit-Universität Hanna Nasser, der die palästinensischen Wahlen im Januar organisieren soll. Er gilt als Macher. Dass etwa die Wählerverzeichnisse durch die andauernden israelischen Bombardements teilweise zerstört wurden, sind für Nasser nichts weiter als "logistische Schwierigkeiten".

Im Feuilleton schreibt Karim El-Gawhary über den Zahnarzt Ali Abdel Amir Salah aus Bagdad, der Günter Grass ins Arabische übersetzt. Er hat Grass vor sechs Jahren auch einen Brief geschrieben: "Grass, glaubte er, sei wohl in Deutschland und damit den Beamten der Deutschen Post genug bekannt, also hat er den Umschlag nur mit Günter Grass Germany versehen. Eine Antwort hat er bis heute nicht erhalten."

Ralph Bollmann widmet sich dem Ätna. Der hat mit seiner Unberechenbarkeit die Mentalität der Sizilianer geprägt: "Nicht umsonst gilt ausgerechnet Catania, die mehrfach zerstörte Großstadt direkt zu Füßen des Ätna, als die pulsierendste Stadt der Insel. Weil schon morgen wieder alles vorbei sein kann, genießen die Bewohner in den Intervallen zwischen zwei Katastrophen das Leben in vollen Zügen."

Weitere Artikel: Christian Beck schildert den steinigen Weg der US-Songwriterin Michelle Shocked (mehr hier) zur Unabhängigkeit. Katharina Granzin hat den russischen Autor Wladimir Sorokin bei seiner Lesung in Berlin viel ruhiger erlebt als erwartet. Besprochen werden Kunitoshi Mandas philosophischer Film "Unloved" und Rockalben, etwa von Radio 4 oder den Libertines.

Schließlich Tom.

NZZ, 01.11.2002

Mit den europäischen Lesegewohnheiten beschäftigt sich Ekkehard Kraft anhand von mehreren Studien: "In der Lesekultur klafft zwischen dem Norden und dem Süden der Europäischen Union ein breiter Graben." Im Norden wird mehr gelesen als im Süden! Kraft sieht die Ursachen für die unterschiedliche Bereitschaft, ein Buch oder Zeitung zu lesen, in der Alphabetisierung, die in den Mittelmeerländern später als im Norden erfolgt sei. Die Konsequenz daraus ist für Kraft erschreckend: "So dürfte im Süden Europas die Informationsgesellschaft ein leeres Schlagwort des Modernisierungsdiskurses bleiben, das für die meisten keine konkreten Auswirkungen zeigt. Europa wächst somit in einem wesentlichen und für die Zukunft bedeutsamen Punkt nicht immer mehr zusammen, sondern driftet auseinander".

Weitere Artikel: Einen Nachruf auf Jam Master Jay, einem Pionier des Rap, schreibt Hanspeter Künzler. Jay wurde in New York in einem Plattenstudio ermordet.
Mit den Züricher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer, die gerade den Fritz-Schumacher-Preis erhalten haben, sprach Rahel Hartmann. Über den Start einer us-amerikanischen Kampagne, den Umgang mit Muslimen im eigenen Land positiv darzustellen, berichtet Andrea Köhler.

Besprochen werden heute nur die Ausstellung zum Hundersten von Ernst Wilhelm Ney in München und ein Vortrag von Irenäus Eibl-Eibesfeldt in Zürich .

FAZ, 01.11.2002

Wiebke Denecke gibt eine recht Einführung in die moderne chinesische Lyrik, deren Avantgarde (Denecke Bei Dao, Yang Lian, Jian He und Gu Cheng) in China als "obskure Hermetiker" verpönt ist, aber sowieso längst im Westen lebt. "Das Publikum für Lyrik ist im heutigen China klein, aber erlesen und begeistert. Dass der Großteil der Avantgardelyriker im Ausland lebt, erschwert die Rezeption. Im Hintergrund schriller Buchmoden arbeiten sie für sich selbst und für einander an einer 'kalten Literatur', wie Gao Xingjian sie nennt, die gerade von ihrer nachdrücklichen Selbstbezogenheit fernab des Marktes profitiert. Überspitzt gesagt: Chinesische Exilschriftsteller sind nicht, wie etwa bei der Vergabe des Nobelpreises an Gao Xingjian immer wieder kritisiert wurde, von den schöpferischen Quellen ihrer Sprachtradition abgeschnitten, sondern finden durch ihre Mehrsprachigkeit und Exilerfahrung zu neuen Ausdrucksformen, die eine kreative Rückbesinnung auf die chinesische Tradition erst ermöglichen."

In Düsseldorf hat ein Lehrer Klage eingereicht, weil er zu viel arbeiten müssen. Jürgen Kaube widmet sich also dem Leid der klagenden Klasse und versucht zu verstehen, wie der Mann auf einen solchen Gedanken komme - oder besser gesagt, zu dem Gefühl, "denn ein Gedanken könnte ja widerlegt werden". Das Gericht wies übrigens die Klage ab und beschied den klagenden Beamten recht kühl: Um auch nur fünf Wochen zusätzlicher Ferien auszugleichen, müssten Lehrer mehr als 43 Stunden in der Woche arbeiten.

Weitere Artikel: Gina Thomas meldet, dass das Getty Museum in Malibu Raffaels "Nelkenmadonna" der Londoner National Gallery abkaufen will, und zwar für 50 Millionen Dollar. Hannes Hintermeier erklärt, warum Münchens Kulturreferentin Lydia Hartl nun doch nicht Professorin in Linz wird. Paul Ingenday schreibt einen Nachruf auf den spanischen Filmregisseur Juan Antonio Bardem ("Calle Mayor", "Nie geschieht etwas"), Edo Reents schreibt zum Tod des Musikproduzenten Tom Dowd.

Gestern wurde die "European School of Management an Technology" gegründet. Zwar fehlten der neuen Wirtschaftsuniversität noch einige Kleinigkeiten wie Geld, Personal, Studenten, Anerkennung (oder Internet-Auftritt), aber das Profil steht schon: "Klar sei, dass Forschung nicht bedeuten könne, das Leute den ganzen lang in Bibliotheken verbringen und denken." Andreas Rossmann berichtet von einem Bonner Kongress über "Luft", ein - wie erwartet - nicht leicht zu greifendes Thema. Angelika Heinick weiß, wie Paris seine Museen vor Hochwasser schützt.

Christian Schwägerl porträtiert den britischen Zoologen Sir Robert May, der gern alle "Mitbewohner des Planeten" kennen würde. Siegfried Stadler beklagt den Sparzwang in Weimar.

Besprochen werden Ermanno Olmis Film "Die Medici-Krieger" (und zwar sehr lobend), ein Konzert der spanischen Punkrockband "Dover" (die der Rezensent aber doch lieber auf CD im Autoradio - wahrscheinlich seines Dienstwagens - gehört hätte) und Bücher: zum Beispiel Nelly Arcans "Hure" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

"Wer braucht Niveau, wenn er Geld hat?". Der Bauer-Verlag ("Neue Revue", "Bravo") jedenfalls nicht, meint Stefan Niggemeier auf der Medien-Seite, mit seinem Massengeschmack sei er aber bestens für den großen Einstieg ins Privatfernsehen vorbereitet: "Anders als der Hamburger Rivale Gruner + Jahr, der schöne, edle Hefte herstellte und dessen Journalisten stolz waren, dazu beitragen zu dürfen, war an den Bauer-Zeitschriften nichts schön und edel - außer der Auflage. Die Gruner + Jahr-Zeitschriften hatten Preise, Image, große Namen; die Bauer-Titel waren seelenlose Produkte, von namenlosen Menschen in industrialisierten, rationalisierten Prozessen gefüllt und von Chefredakteuren kontrolliert, die bis zu fünf Titel gleichzeitig führen mussten oder durften. Und doch hatten die Bauers ein entscheidendes Argument gegen den Hochmut der Gruner + Jahr-Leute: Sie machten die Zeitschriften, die Millionen Menschen lesen wollten."

Und Sandra Kegel schließlich gratuliert Edgar Reitz, der heute siebzig Jahre als wird und noch immer die Heimat sucht.

SZ, 01.11.2002

Die SZ feiert heute Allerheiligen und schläft aus.