Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2002. In der taz entpuppt sich der amerikanische Philosoph Jedediah Purdy als perfekter Sohn. Die FAZ bemerkt eine Neigung der amerikanischen Demokraten zum Filibustern. Die NZZ weiß, warum Indianer in den USA wieder so beliebt sind. In der SZ wettert Günter Gaus gegen die Demokratisierung der Außenpolitik, weil sie die politische Schamlosigkeit fördere.

SZ, 11.11.2002

Der Publizist Günter Gaus, einst Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, verteidigt die Diplomatie gegen die Demokratisierung der Außenpolitik. Während erstere ihm von geradezu klassischer Schönheit sein kann, mag Gaus in letzterer keinen Vorstoß der Ratio erkennen und erklärt sie sogar zu einer regelrechten Gefahr. "Die Demokratisierung der Außenpolitik, in entwickelten wie unentwickelten Staaten, bedeutet den Einbruch des Irrationalen in internationale Strukturen und Abläufe, mit denen aber höchst rational umzugehen ist, damit sie segensreich wirken können. Die Demokratisierung der Außenpolitik, wann und wo immer sie auftrat, hat die Kriegsgefahr stets wesentlich erhöht. Die Demokratisierung der Außenpolitik wird auf allen Marktplätzen der Welt als Fortschritt gepriesen. Die Demokratisierung der Außenpolitik hat in jüngerer Zeit nach meinem Empfinden besonders abstoßende Züge angenommen, als der deutsche Außenminister Fischer das Argument nicht scheute, im Kosovo müsse ein neues Auschwitz verhindert werden. Die Demokratisierung der Außenpolitik fördert offenbar die politische Schamlosigkeit."

Weitere Artikel: In der Kolumne vergleicht "Midt" die deutsch-amerkanische Verstimmungen mit einem Schulhofgezanke. Veronika Schöne war dabei, als auf eine Hamburger Tagung versucht wurde, Lucas Cranachs Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Jakob Augstein liefert zum Parteitag das exemplarische Porträt des CDU-Abgeordneten Wolfgang Börnsen. Christian Seidel porträtiert das ungewöhnliche Pop-Sternchen Pink. Alex Rühle hat der elfte Geburtstag des Münchner Musikvertriebs "Hausmusik" an eine "unübersichtliche Familienfeier" erinnert. Aus Anlass der Lesereihe "Köln liest Böll" macht Gisa Funck den Vorschlag, Köln in "Bölln" umzutaufen. Thomas Steinfeld gratuliert dem Schriftsteller Kurt Vonnegut zum achtzigsten Geburtstag. "Schöd" berichtet aus dem Wiener Theaterleben.

Auf der Medienseite versteht Hans Leyendecker den Nachruf von Chefredakteur Stefan Aust auf den verstorbenen Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein als "Kampfansage" um dessen Nachfolge. Thomas Speckmann ärgert sich über das "Wettrüsten" von ARD und ZDF in Sachen "Drittes Reich".

Besprochen werden die Pariser Modigliani-Ausstellung im Musee du Luxembourg, die Uraufführung der zweiten Szene von Stockhausens "Licht"-Zyklus in Amsterdam, Christian Tetzlaffs Beethoven- und Schönberg-Interpretationen unter der Leitung von James Levine in München, K. D. Schmidts Inszenierung von Julien Greens Stück "Süden" im Kölner Schauspiel, Joachim Schlömers Inszenierung von Monteverdis "Orfeo" in Stuttgart, der achte "Halloween"-Film um den Maskenmörder Michael Myers, Roger Michells New-York-Film "Spurwechsel" und Bücher, Wladimir Kaminers Band "Reise nach Trulala", Alexander Ikonnikows Erzählband "Taiga Blues", Moritz Götzes Kunstband "Deutscher Pop" und ein Buch über Tierschutz im Dritten Reich.

TAZ, 11.11.2002

In einem heiteren Gespräch mit Patrick Schwarz stellt der amerikanische Philosoph - und perfekte Sohn - Jedediah Purdy (mehr hier und hier) fest, dass sich Politik nicht mehr auf Hoffnung reimt, sondern "oft mehr der Erhaltung des Status quo oder sogar nur der Abwehr des Verfalls dient". Außerdem versucht Purdy "zu entdecken, welchen Sinn für Leidenschaft und Dringlichkeit es innerhalb einer pragmatisch begrenzten Politik noch gibt - auch wenn es viel einfacher ist, diese Leidenschaft in einem radikalen Programm zu finden. Dem Vorwurf der Rückwärtsgewandheit und der Kritiklosigkeit gegenüber der Elterngeneration begegnet Purdy gelassen: "Die Eigenschaften anzuerkennen, die man von seinen Eltern ererbt hat, und sie dann durch eigene Erfahrung zu verändern, ist eine genauso gute Form der Generationenfolge wie eine Rebellion."

In einem Essay erklärt François de Bernard von der Mondialisierungsgruppe (!) GERM, warum der Begriff der Antiglobalisierung ein Pseudo-Konzept ist, das "die Debatte abtötet": "Das Schlagwort 'Antiglobalisierung' lässt Standpunkte unnötigerweise erstarren. Es produziert Dissens an Stellen, wo Vorsicht erlauben würde, eine widersprüchliche Debatte zu führen - und schließlich sogar so etwas wie eine Politik zu entwickeln. 'Antiglobalisierung' vernachlässigt sowohl die Komplexität der zu diskutierenden Fragen als auch die Mühen zahlreicher Akteure, die ernsthaft daran interessiert sind, diese Komplexität so weit zu reduzieren, dass sie verständlich wird. Dort, wo sich ein außermoralisches Urteil als unendlich wertvoll erweisen würde, bietet 'Antiglobalisierung' sich den in Mode gekommenen Diskursen an - als Triebkraft einer Moral, die sich über Wissen lustig macht."

Weitere Artikel: Stephan Liskowsky hat sich eingeschleust in die geschlossene Gesellschaft der 50-jährigen Jubiläumsfeier des DDR-Fernsehens. Detlef Kuhlbrodt war auf dem Berliner Symposion "Die Nation beerdigen", auf dem über taktische Staatenspaltung und nationale Opferhaltung nachgedacht wurde. Außerdem liefert Hemut Höge einen skurrilen Erlebnisbericht über die Dreharbeiten zur Thomas-Pynchon-Verfilmung "Prüstand 7".

Besprochen wird das Paul-Weller-Konzert in der Berliner Columbiahalle.

Und schließlich TOM.

NZZ, 11.11.2002

Mit den "Native Americans" und deren Renaissance beschäftigt sich Ronald C. Gerste anläßlich einer Ausstellung mit Werken des Malers George Catlin. Dieser hatte in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts indianisches Leben dokumentiert, kurz bevor es (fast) verschwand, und damit unser Bild von diesen stolzen Kriegern geprägt. Inzwischen ist das Unrecht aber kein Tabu mehr. Warum nach dem 11. Spetember gerade die Indianer Konjunktur haben, erklärt Gerste so: "Mehr denn je werden die Indianer als ein nobler Gegner, als ein edler Wilder im rousseauschen Sinne gewürdigt, ein denkbar markanter Gegensatz zu den feigen Terroristen der Gegenwart."

Der Theologe und Journalist Jürgen Dittrich beschäftigt sich mit Martin Luther King und dessen Gedenken in den USA. So sind an fast allen Wirkungsstätten des Predigers in Atlanta, Montgomery, Birmingham und Memphis Museen entstanden, die hauptsächlich von Schwarzen besucht werden. "Doch die Museen sind nicht unumstritten. Draußen auf der Straße demonstriert Jacqueline Smith ... seit mittlerweile 14 Jahren gegen die Institution. Zudem hat sie ihre eigene Internetseite, auf der sie ihre Ziele erklärt. Auf Diskussionen über den Sinn des Museums lässt sie sich nicht ein: Für sie ist das Museum ein Disney-Park, durch den Schulklassen geschleust werden. Den Bau des Museums für 11 Millionen Dollar empfindet sie als Verrat an den Ideen Martin Luther Kings, besonders an seiner Kampagne gegen die Armut ...".

Weitere Artikel: Christoph Funke würdigt den Theateregisseur Rudolf Noelte, der verarmt und an Alzheimer leidend seine letzten Jahre verbrachte, in einem Nachruf. Außerdem meldet "zit.", dass Nicholas Snowman neuer Direktor der Opera National du Rhin in Straßburg, Colmar und Mülhausen wird.

Besprochen werden die Aufführung von Monteverdis "Orfeo" in Stuttgart, die Ausstellung über den Architekten Steven Holl (homepage) in Vicenza und zwei Bücher (ein französisches und ein spanisch oder portugiesisches), die sich mit Mircea Eliades, Emile Ciorans und Eugene Ionescos Sympathien für die rumänischen Faschisten beschäftigen.

FR, 11.11.2002

In einem Nachruf auf den verunglückten Maler Michel Majerus beklagt Daniel Birnbaum, dass die Kunstwelt mit ihm einen ihrer innovativsten Maler verliert. Franziska Meier gratuliert dem italienischen Schriftsteller Luigi Malerba (mehr hier) zum 75. Geburtstag. Christoph Schröder war auf der Frankfurter Lesung von Ismael Kadare (mehr hier) und hat sich über dessen Übersetzer geärgert. In Times mager nimmt "H.K.J." die Spezies des Reisekritikers unter die Lupe.

Auf der Medienseite sieht Heike Mundzeck in der "freiwilligen Selbstkontrolle" der TV-Sender einen Persilschein für Gewalt im Fernsehen, und Michael Grabenströer berichtet über politisch bedingte Personal-Entscheidungen beim ZDF.

Besprochen werden Joachim Schlömers "Orfeo" in Stuttgart und Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt" von Michael Quast in Mainz -, neue Inszenierungen von Marc Günther am Kölner Schauspiel, und politische Bücher - Bernhard Schlinks Standpunkt zur "Kollektivschuld" und drei Bände zum Phänomen des Selbstmordattentats.

FAZ, 11.11.2002

Die demokratische Opposition im amerikanischen Kongress und Senat scheint zum Äußersten entschlossen, schreibt Heinrich Wefing, sie sucht "Zuflucht zum Filibuster". Was das ist? Seit Bush die Mehrheit in beiden Häusern hat, kann er auch Richter benennen, wie es ihm beliebt, und der Opposition bleibt nurmehr ein "prozedurales Notstandsinstrument": "endloses Debattieren, das sogenannte Filibustern".

Weitere Artikel: Joachim Kalka gratuliert dem amerikanischen Schriftsteller Kurt Vonnegut zum Achtzigsten. Jürgen Kaube resümiert eine Hamburger Tagung über die Konsequenzen des neuen Stiftungsrechts auf Föderalismus und Ländergesetzgebung. Verena Lueken liest amerikanische Zeitschriften, die sich mit Amerikas neuer Machtposition und den wirtschaftlichen Folgen eines möglichen Irak-Krieges auseinandersetzen. Peter Kropmanns berichtet über die Wiedereröffnung des Matisse-Museums in Le Cateau-Cambresis, der Herkunftsstadt des Malers in Französisch-Flandern. Und schließlich schreibt Zhou Derong eine kleine Hommage auf 192 Chinesen, die in einem Offenen Brief die Freilassung politischer Gefangener fordern - ein einsamer Protest, der auch im Westen ignoriert wird.

Für die letzte Seite besucht Andreas Rosenfelder eine Karawane von Roma, die sich gegen die Abschiebung ins ehemalige Jugoslawien wehren und outet nebenbei einige Prominente: "Dass der Glatzkopf Yul Brynner nicht nur ein Bruder Karamasow, sondern auch Ehrenpräsident der International Romani Union war, wissen nur Eingeweihte - ebenso wie in den Fällen der Sängerin Marianne Rosenberg, des Modeschöpfers John Galliano und des Schlagerstars Michelle, die alle aus Zigeunerfamilien stammen." Und Michael Hanfeld entbietet Stefan Aust als einzig legitimem Nachfolger Rudolf Augsteins schon mal seinen Respekt.

Auf der Medienseite erfahren wir von Michael Hanfeld, dass das Privatfernsehen bei den Zuschauern ein höheres Renommee genießt als die öffentlich-rechtlichen Sender (wie aus einer vom Privatfernsehen in Auftrag gegebenen Umfrage hervorgeht). Und Sandra Kegel berichtet über neue Dokumentarfilm-Trends auf der Duisburger Filmwoche. Besprochen wird eine Fernsehdokumentation über den "Mythos Rommel".

Besprochen werden die Uraufführung von Karlheinz Stockhausens "Engel-Prozessionen" in Amsterdam, eine große Ansel-Adams-Ausstellung im Berliner Kulturforum am Potsdamer Platz, ein Konzert der britischen Popband Coldplay in Köln, Johann Kresniks Inszenierung der "Antigone" des Sophokles in Hannover, Donald Berkenhoffs Inszenierung von Leonora Carringtons wildem Traumspiel "Das Fest des Lamms" in Karlsruhe (das die Autorin übrigens in Spiegelschrift verfasste, wie Martin Halter berichtet), eine Berliner Ausstellung mit Fundstücken über die Frühgeschichte Preußens, die in Königsberg zutagegefördert wurden und eine der seltenen Inszenierungen von Julien Greens Drama "Süden", in Köln (die nach Andreas Rossmann allerdings nicht an eine legendäre Aufführung unter Andrea Breth im Jahr 1987 heranreicht).