Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2002. Die FAZ stellt den Genomforscher und Systembiologen Leroy Hood vor, der den Kyoto-Preis verliehen bekam. Die taz widmet sich der Pressefreiheit in Russland. In der FR unterscheidet Harald Müller zwischen folgenden Journalisten-Archetypen: Wachhund, Schoßhund und Kampfhund. Die SZ beklagt die deutsche Litanei vom Untergang.

FAZ, 13.11.2002

Der amerikanische Genomforscher und Systembiologe Leroy Hood von Institute of Systems Biology in Seattle "verkörpert den erst in den vergangenen Jahren entstandenen Typus des Biologie-Entrepreneurs, der zugleich in der Grundlagenforschung exzelliert, mit Millionenbeträgen jongliert und kühne Visionen der gentechnischen Zukunft verbreitet." Nun wurde ihm in Japan der Kyoto-Preis - eine Art japanischer Nobelpreis (mehr hier) - verliehen. Joachim Müller-Jung und Christian Schwägerl erzählen von der Preisverleihung, die ein hübsches Spektakel gewesen sein muss. "Kunstvoll schafft man es, und mit der japanischen Perfektion, in dem erhabenen Zeremoniell Tradition und Fortschrittsglauben zusammenzuführen. In der einen Minute erlebt man schillernde, Masken tragende Noh-Tänzer, die einen orakelhaften Himmelstanz aufführen, und in der anderen abstrakte Einführungen in die komplexe Welt der Genomforschung. Die Auflösung des Widerspruchs zwischen Mystik und Wissenschaft wird hier zum Gegenprogramm der Aufklärung. So liefert der Kyoto-Preis letztlich auch die Kulisse, hinter der sich die beiden Kulturen wiederfinden, mächtig, aber einander fast entfremdet."

Der Dirigent Christoph Eschenbach, Leiter des Orchestre de Paris, erklärt im Interview, warum er kürzlich eine Orchesterprobe abgebrochen und zwei Konzerte annulliert hat: das Orchester hat keinen vernünftigen Ort zum Proben, es gibt nämlich in ganz Paris keinen Konzertsaal. Auf die Frage, ob die Einstimmigkeit zwischen Musikern, Orchesterleitung und Verwaltung halten wird, antwortet er: "Die wird halten. Unser Manifest, unseren Brief an den Staatspräsidenten Chirac, unsere Gänge ins Ministerium und ins Pariser Rathaus, alles haben wir gemeinsam gemacht. Ich kann nur sagen: Chapeau! Die sonst als Individualisten schräg angesehenen Franzosen halten zusammen wie ein Mann. So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen."

Weitere Artikel: Kerstin Holm beschreibt die neuen russisch-orthodoxen Werte, die u.a. darin gipfeln, dass sich ein Priester weigerte, einen Mann zu beerdigen, der beim Sturm auf das Moskauer Musical-Theater starb: Der Besuch eines Musicals sei eine nicht gottgefällige Tat. Johann Georg Reißmüller erzählt, wie er als Dreizehnjähriger im Frühherbst 1945 in Theresienstadt aufräumen musste. Karin Leydecker stellt ein neues Giebelhaus in Gelnhausen der Architekten Gariela Seifert und Götz Stoeckmann von der Gruppe Formalhaut vor. Eberhard Rathgeb war bei einem Vortrag von Werner Hofmann über Alfred Lichtwark, den Direktor der Hamburger Kunsthalle. Die Reihe "Wir vom Bundesarchiv" stellt heute Karl Liebknechts Erklärung vor, warum er am 2.12.1914 gegen die Kriegskredite stimmte. Lorenz Jäger schreibt zum Tod des Literaturwissenschaftlers Jost Schillemeit. Gerhard R. Koch gratuliert dem Dirigenten Lothar Zagrosek zum sechzigsten Geburtstag.

Auf der Medienseite abgedruckt ist Wolf Biermanns Laudatio auf den ZDF-Korrespondenten Dirk Sager, dem gestern der Hanns-Joachim-Friedrich-Preis verliehen wurde: "Dirk Sager ist einer von denen, die uns helfen, in diesem Wust divergierender Interessen bei aller komplizierten Kompliziertheit dennoch immer wieder auch zwei Wörter zu wagen, um die wir uns am Ende nicht drücken können: Nein! und Ja!" Auf der letzten Seite porträtiert Renate Schostack den Künstlerjesuiten Georg Maria Roers (mehr hier).

Besprochen werden eine Ausstellung der Sammlung Feldberg im McMullen Museum in Boston, der Film "Harry Potter und die Kammer des Schreckens", Bergs "Lulu" in Hannover, ein Konzert von "The Cure" in Hamburg, ein "Peter Pan" in Heidelberg, politische Bücher und ein Band über "Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 13.11.2002

In der taz gibt es heute viel in Sachen Pressefreiheit: Boris Schumatzky widmet sich dem Beleidigungsprozess gegen den Moskauer taz-Korrespondenten Klaus-Helge Donath. Anlass war ein taz-Artikel vom Mai 2001 über den Personenkult um den russischen Präsidenten. Darin hatte Donath auch eine Putin-Ode des Studenten Michail Anischtschenko zitiert. Der klagte, weil er seine Ehre gekränkt sah. "Die Entwicklung des Falls legt die Vermutung nahe, dass hinter der Anklage viel mehr als bloß die gekränkten Ambitionen eines Provinzlers steckt. Als der Student aus Tscheljabinsk vor über einem Jahr seine erste Klage eingereicht hatte, forderte er eine Berichtigung und das Schmerzensgeld. Einige Monate später veränderten sich seine Forderungen radikal. Seine zweite Klageschrift las sich wie ein Gerichtsurteil aus der Sowjetzeit." Die Klage wurde gestern abgewiesen.

Aus dem kasachischen Taschkent berichtet Peter Böhm über die Verhaftung des regierungskritischen Journalisten und Oppositionspolitikers Sergei Duwanow. Ihm wird vorgeworfen, ein minderjähriges Mädchen vergewaltigt zu haben, was Duwanow vehement bestreitet.

Frank Schäfer singt eine Hymne auf die Achtziger Jahre. Jens Emil Senewald berichtet über die eigenwillige französische Kunstszene, die sich trotz mangelnder staatlicher Förderung behauptet. Besprochen werden die Berliner Aufführung der Darkness-Trilogie von "The Cure" und neue Bücher:- Jonathan Franzens Essayband "Anleitung zum Einsamsein", eine von Uwe Justus Wenzel herausgegebene Essayserie "über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden", Horst Kurnitzkys Studie zur "unzivilisierten Zivilisation" und eine Boris-Becker-Biografie.

FR, 13.11.2002

In einem gekürzten Beitrag denkt Harald Müller von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (mehr hier) darüber nach, warum "friedliebende Demokratien sich für militärische Interventionen entscheiden" und welche Rolle die Medien dabei spielen. Nach Müller gibt es drei Archetypen von Medien und ihrem Wirken "vor, im und nach dem Krieg": "Der 'Wachhund', der Aussagen und Begründungen der Regierungen einer schonungslosen Prüfung unterzieht. Dies geschieht vereinzelt, stellt aber nicht die Regel dar. Der 'Schoßhund', der als Transmissionsriemen der von der Regierung gewollten Informationspolitik wirkt. Der 'Kampfhund', der selbst den Konflikt anheizt, weil Nachrichten und Bilder aus dem Kriegsdrama von erhöhtem Marktwert sind."

Weitere Artikel: Franziska Meier berichtet aus Italien, dass das Einreiseverbot der Königsfamilie Savoyen aufgehoben wurde - ohne dass es jedoch zu einer geschichtspolitischen Diskussion gekommen wäre. In Times mager denkt "mmr" über Ulrike Meinhofs Gehirn nach. Stefan Tolksdorf war auf dem 16. Freiburger Literaturgespräch und kann nicht glauben, dass es um die deutsche Gegenwartsliteratur schlecht bestellt sein soll. Und Morten Kansteiner ist auf der Kölner Konferenz "Medien/Stimmen" zu der Erkenntnis gelangt, dass die Stimme kein bloßes Übertragungsmedium ist. Außerdem wird gemeldet, dass das Leipziger Theaterfestival "euro-scene" (mehr hier) vor dem finanziellen Aus steht.

Auf der Medienseite findet Katrin Wilkens, dass das neue Frauenmagazin "Vera" Hölderlin und seine Hoffnung auf Rettung Lügen straft. In Peking verzweifelt Christine Kämmer vor der roten Eintönigkeit des chinesischen Fernsehens.

Besprochen werden der neue Harry-Potter-Film, die erste Stephan von Huene-Retrospektive im Haus der Kunst in München, die Gießener Aufführung von Henri Hohenemsers Stück "Aladin und die Wunderlampe", Wolfgang Spielvogels Inszenierung von Schillers "Iphigenie" in der Frankfurter Brotfabrik sowie Neil Simons Komödie "Sonnyboys" mit Dieter Hildebrandt und Werner Schneyder in den Münchner Kammerspielen.

NZZ, 13.11.2002

Marcus Stäbler stellt die neuen Strategien vor, mit denen Universal Music versucht, auch jüngere Hörer wieder zu Käufern klassischer CDs zu machen (im Augenblick sind nur knapp 6 Prozent jünger als 30): "So veranstaltet Universal regelmässig in verschiedenen Szenelokalen der Großstädte sogenannte 'Yellow Lounges', bei denen Discjockeys klassische Musik zum Cocktail servieren, und bringt flankierend CD-Serien auf den Markt. Die vier Folgen der (im Siebziger-Jahre-Look gestylten) 'Classical Beauties' etwa unterstützen das Easy-Listening-Konzept durch weitgehend bewährte Ohrwurmkombinationen von Albinoni bis Vivaldi, während die Komponistenporträts der inzwischen berühmt-berüchtigten Reihe '... trifft ...' durch prominente Paten vorgestellt und beworben werden: Iris Berben trifft Verdi, Benjamin von Stuckrad-Barre trifft Brahms, Klaus Wowereit trifft Puccini." Grauslich. Vielleicht sollten sie die CDs einfach zehn Euro billiger machen.

Weitere Artikel: Marc Hairapetian erinnert an den vor achtzehn Jahren gestorbenen wunderbaren Schauspieler Oskar Werner ("Unvergessen ist er als Hitler-feindlicher Ritterkreuzträger Wüst in G.W. Pabsts 'Der letzte Akt' (1955). Seine Sterbeszene im Führerbunker soll sich Marlon Brando 25 Mal hintereinander angesehen haben.") Paul Jandl beschreibt die Wiener Villenkolonie, ein Wohnbauprojekt am Stadtrand von Wien, dessen Modelle und Entwurfszeichnungen kurz vor Baubeginn im Wiener Architekturzentrum präsentiert werden. Roman Bucheli stellt die neue Ausgabe der Zeitschrift "Schreibheft" vor, in der heftig über das Spatzen-Theorem gestritten wird (lesen Sie das bitte selbst). Mevina Puorger war bei den zwölften rätoromanischen Literaturtagen in Domat-Ems. Und zst. berichtet anlässlich des neuen Heftes der Architekturzeitschrift "Werk Bauen & Wohnen" (die Claude Parent gewidmet ist) von Streitigkeiten innerhalb der Redaktion - woraufhin der Verlag die ganze Redaktion auswechselte.

Besprochen werden ein Zemlinsky-Doppelabend im Grand Theatre Genf, die von Juan Insua kuratierte Ausstellungsserie "Schriftsteller und ihre Städte", die mit "Cosmopolis. Borges y Buenos Aires" in Barcelona fortgesetzt wird, zwei CDs mit Mahler-Sinfonien, drei CDs mit Halevys Oper "La Juive" - in der Titelpartie ein offenbar ganz fabelhafter Neil Shicoff, und Bücher, darunter eine bisher nur auf Englisch erschienene Studie von Robert E. Norton über Stefan George und seinen Kreis und eine ganze Reihe von Büchern aus Litauen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 13.11.2002

"Es geht kein Ruck durch dieses Land, nicht mal ein Zittern." Sonja Zekri zeichnet das düstere Bild eines sich immer mehr zur Schlafstadt wandelnden Deutschlands, aus dem die dynamischen, "globalen Arbeitsnomaden" auswandern, genau wie die Stars. "Auf die Zurückbleibenden hat diese Entwicklung deshalb einen dreifach verheerenden Effekt. Je öfter man hört, dass nur die Besten auswandern, desto mehr fühlt man sich wie die Ossis nach dem Mauerfall." Zweitens bleibe Deutschland den Deutschen das Gefühl schuldig, "gebraucht zu werden" und drittens sei es unsicher, welche wirtschaftlichen Folgen dieser regelrechte "Exodus" haben werde. Eines sei jedenfalls sicher: Schon die Kinder kennen inzwischen "die Litanei vom Untergang: Dass Vergreisung, Arbeitslosigkeit in Permanenz, Rentenhölle und Krankenkassendebakel unseren ganzen schönen Wohlstand in naher Zukunft auf den Lebensstandard von Guinea Bissau drücken und dass wir wieder Rilke lesen sollten, der da schrieb: 'Wer spricht von siegen, überstehen ist alles.'"

Kürzungen im Bereich der Kunstsubventionen sind "wirtschaftlich falsch", lautet Reinhard J. Brembecks Kommentar zu den Sparplänen, die derzeit die Kulturpolitik beherrschen. In seinen Augen beruhen derartige Kürzungsvorschläge größtenteils auf Unkenntnis seitens der Verantwortlichen: "Allzu lange wurden nur die Argumente des Bildungsbürgertums heruntergeleiert, wurde von Kulturauftrag gefaselt, vom hehren Wert der Hochkultur, vom notwendigen Luxus. Dabei sieht die Wirklichkeit der Zahlen sehr viel überzeugender aus."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel war auf dem ersten "International Space Architecture Congress" in Houston und weiß jetzt mehr über Architektur-Visionen für das Weltall. Von Alex Rühle erfahren wir, womit sich die NASA beschäftigt: sie möchte die Existenz von außerirdischem Leben auf dem Mond widerlegen und eine Musikkomposition im Weltall aufführen. Wolgang Schieder berichtet, dass die Berlusconi-Regierung jetzt regierungsgenehme Geschichte schreiben lässt. Julia Encke erklärt, dass die Berichterstattung über die Attentate des 11. Septembers nun auch das Interesse der Kommunikations- und Bildwissenschaftler geweckt hat. In der Kolumne sinniert "Rub" über genetisch bedingten Terrorismus.

Willi Winkler schreibt einen Nachruf auf den Germanisten Jost Schillemeit. "Tost" berichtet, dass der finnische Philosoph Georg von Wright in den Verdacht geraten ist, im Zweiten Weltkrieg gegen die Alliierten agiert zu haben. "Schöd" schildert die helle Aufregung um den in Wien aufgestellten Grabstein von Jörg Haider. Thomas Thiemeyer berichtet von einem Berliner Forschungsprojekt über NS-Juristen. Christoph Bartmann war dabei, als der bald 60-jährige Peter Handke mit einer Feier in der Klagenfurter Universität geehrt wurde und sich dafür mit einer heiklen Rede bedankte.

Auf der Medienseite stellt Eva Lindenau den New Yorker Fernseh-Pionier Michael Rosenblum vor. Klaus Dermutz hat auf der Berliner "Woche des Hörspiels" erfahren, in welche Richtung sich das boomende Hörspiel künftig entwickeln will.

Besprochen werden das neue Album "Out of Season" von Portishead-Stimme Beth Gibbons, eine große Picasso-Werkschau in den Chemnitzer Kunstsammlungen, Barbara Beyers Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" im Hannoverschen Opernhaus, Bernard Giraudeaus Film "Launen eines Flusses", ein Fotoband über New Yorker Müll und eine Untersuchung über die Macht der Landschaftskarten (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).