Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2003. In der FR fühlt sich Richard Rorty in die Seele eines höheren irakischen Verwaltungsbeamten ein. Für die SZ ist die SPD am Ende ihrer Träume angelangt. Die FAZ hat sich in Erlangen "hehren Dreck" zu Gemüte geführt. Die NZZ greift eine italienische Debatte über das blutige Ende des Faschismus auf. In der taz erklärt der amerikanische Historiker Gabriel Kolko, warum die USA aus Vietnam nichts gelernt haben.

FR, 18.11.2003

"Stellen Sie sich vor, Sie seien ein irakischer Beamter der mittleren Verwaltungsebene." Mit diesem Vorschlag beginnt ein Text des amerikanischen Philosophen Richard Rorty über das "Dilemma" zwischen "Kooperation und Sabotage", in das die Iraker durch "widersprüchliche Signale" der Amerikaner geraten seien. "Wenn Sie glauben, dass Amerika bis zum Ende durchhalten wird, wie Präsident Bush sich ausdrückt, dann mögen Sie den Mut finden, (...) Warnungen vor den Gefahren einer Kollaboration in den Wind zu schlagen. Sollten Sie aber davon ausgehen, Präsident Bushs Furcht vor einer Wahlniederlage im November 2004 werde ihn dazu verleiten, das Gros der amerikanischen Truppen nach Hause zu holen, bevor ein stabiles demokratisches System aufgebaut ist, dann werden Sie zweifellos den Weisungen der Widerstandskämpfer folgen."

Weiteres: Guido Fischer berichtet über ein Projekt der Kölner Oper und des vom Kultursekretariat NRW unterstützten Fonds Neues Musik-Theater, das sechs Komponisten einlud, ein "jeweils fünfminütiges Opern-Spotlight für einen guten (Selbst-)Zweck" zu liefern. "Die Texte, sprachlich verquast und gedanklich verquollen, werden durch die ernste Intensität der Schauspieler immerhin befragbar", urteilt Hartmut Krug über die lange protesthaft beheulte, jetzt doch aufgeführte Inszenierung von Hans Rehbergs U-Boot-Drama "Die Wölfe" aus dem Jahre 1943 in Erlangen. In Times mager beschwärmt Michael Rudolf das eigentlich "schlagzeilenuntaugliche" Insekt Goldauge (Chrysopa perla): "Ausdruck findet ihr transparentes Wesen in den mehr als zerbrechlichen Flügelchen, die an Haarnetze spätmittelalterlicher Hofdamen erinnern und einen stecknadeldünnen Rumpf bedachen". Michael Eggers resümiert eine Kölner Tagung über Popularisierung ("Wenig überraschend war dabei zunächst, dass die Anfänge des Phänomens einmal mehr im 18. Jahrhundert entdeckt wurden.") Und auf der Medienseite geißelt Renee Zucker die sensationsheischende Berichterstattung von Focus und taz zum angeblichen Baader-Nachwuchs, der in Stammheim gezeugt worden sein soll, mit dem Hinweis, dass die Faktenlage schon längst bekannt gewesen sei.

Besprochen werden die Uraufführung von Joanna Laurens Theaterstück "Fünf Goldringe" am Staatstheater Hannover und eine Ausstellung mit Arbeiten von Eugene Delacroix in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe.

Auf der Standpunkte-Seite kommentiert Michael Brenner, Professor für jüdische Geschichte, die Hohmann-Affäre. "Der Aschaffenburger CSU-Abgeordnete Geis hat völlig Recht, wenn er der Presse vorwirft, sie habe Hohmanns Zitate aus dem Zusammenhang gerissen. Nur werden sie nicht besser, wenn man die gesamte Rede liest, sondern noch unerträglicher."

SZ, 18.11.2003

Am Ziel und zugleich am Ende ihrer Träume sieht der Göttinger Parteienforscher Franz Walter die SPD. Obwohl es niemandem so recht auffalle, könne es sein, "dass wir jetzt vielleicht tatsächlich am Ende der Volksparteien, wie wir sie kannten, angelangt sein könnten. Denn sie verlieren all das, was sie einst groß, stark und stabil gemacht hat. Sie verlieren ihre Leitziele, ihre historischen Subjekte, ihre sozialen Verwurzelungen. Und sie bleiben ohne Talente und Nachwuchs. Man mag sagen: Sie reproduzieren sich nicht mehr." In dieser Hinsicht, so Walter, sei die "SPD dabei der CDU ein Stück voraus".

Thomas Steinfeld berichtet von einer anonymen Attacke gegen die USA in der letzten Ausgabe der Internet-Zeitschrift Asia Times. Unter dem Pseudonym Spengler behauptet dort ein Autor, den Vereinigten Staaten gehe es im Irak so schlecht, weil sie unfähig seien, sich im arabischen Milieu zu bewegen: Während des Zweiten Weltkriegs beherrschte "der durchschnittliche ungarische Oberkellner ... mehr Sprachen, als heutige Studenten der Vergleichenden Literaturwissenschaft an amerikanischen Universitäten vom Hörensagen kennen." (Spengler scheint jetzt eine regelmäßige Kolumne zu haben, denn heute hat er ein neues Stück in der Asia Times: In "What is American Culture" kaut er allerdings nur die dümmsten Vorurteile wieder.)

Weitere Artikel: Willi Winkler erzählt die Geschichte des jetzt restaurierten "Beatles-Abgesangs" "Let it be" ("Es muss schneidend kalt gewesen sein, am 30. Januar 1969, als sich vier langhaarige Hippies in Felljacken und Turnschuhen auf das Dach der Londoner Savile Row 3 wagten"). Helmut Schödel kommentiert die Wiener Präsentation einer Gesamtausgabe der Werke von Thomas Bernhard. Der Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi regt sich über die - unirelevante - "ruinöse Bildungspolitik" von Bayern-Chef Edmund Stoiber auf, und der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler kommentiert die "Causa Hohmann". Ralf Hertel informiert über einen Rap der das französische Gemüt erregt, "zri" glossiert die gute Nachricht, dass Kultur auch "Spaß machen" dürfe, und in der "Zwischenzeit" räsoniert Wolfgang Schreiber über den medial bedingten "Realitätsverlust". "Sauer und gar nicht ehrenvoll" sei es, "für das falsche Stück zu streiten", urteilt Bernd Noack über die Premiere des "Wölfe"-Stücks in Erlangen. Auf der Medienseite porträtiert Christiane Kögel den BBC-Enthüllungsjournalisten Donal MacIntyre.

Besprochen werden die Uraufführung von Joanna Laurens Theaterstück "Fünf Goldringe" in Hannover, eine Ausstellung über Adorno und die zeitgenössische Kunst im Frankfurter Kunstverein, eine Inszenierung von Janceks "Jenufa" an der Komischen Oper in Berlin, Catherine Hardwickes Film "Dreizehn" mit Holly Hunter und der "Tanz-Event" "4" am Gärtnerplatztheater in München. Und natürlich Bücher, darunter Till R. Lohmeyers Roman "Unter Zoologen" und Andrei Makines Roman "Musik eines Lebens" und eine Studie über die Motive von Kreuzzügen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 18.11.2003

Franz Haas kommentiert eine derzeit in Italien tobende heftige Debatte "über nichts Neues". Den Anlass dazu lieferte der bekannte Journalist und Mitherausgeber der linksliberalen Wochenzeitschrift "L'Espresso" Giampaolo Pansa mit seinem Buch "Il sangue dei vinti - Das Blut der Besiegten" (Sperling und Kupfer), in dem er die kurz nach Kriegsende von ehemaligen Partisanen an den "verantwortlichen Faschisten und ihren (mutmaßlichen) Helfershelfern" verübten Grausamkeiten "wie in einer Litanei, in allen blutfarbenen Details, die weniger die historische Wahrheit fördern als den Verkauf dieses Buches", aufzählt. Kritik hagelte es von links wie rechts zuhauf an diesem die Bestsellerlisten anführenden Sachbuch, das, wie Haas unterstreicht, durchaus "den Stoff fürs Massentaugliche" beinhalte: "Schier endlos sind die 380 Seiten der Aufzählungen von blutgetränkten Einzelheiten, wer wo wie zu Tode gebracht wurde".

Weitere Artikel: Zum Tod des Schriftstellers Mohamed Choukri, einem der "berühmtesten zeitgenössischen Autoren Marokkos", hat Florian Vetsch einen Nachruf verfasst. Alexandra Kedves hat sich mit dem Zürcher Autor Franz Hohler, der gerade im Literaturhaus seine Zürcher Poetikvorlesungen hält, über sein "Wirken und Schaffen im 'Kurzen', 'Einfachen' und 'Kindlichen'" unterhalten. Mevina Puorger berichtet von den 13. rätoromanischen Literaturtagen in Domat/Ems, die ganz im Zeichen des Krimis standen.

Besprochen werden die Ausstellung "Gothic" im Victoria & Albert Museum, eine Schau zu Hector Berlioz in der Pariser Bibliotheque nationale, eine Ausstellung zum leidenschaftlichen Verleger Georg Müller in der Stadtbibliothek München und Bücher, darunter Khaled Hosseinis bewegender Roman "Drachenläufer" sowie ein Wörterbuch und eine Sprachgeschichte zum Jiddischen (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 18.11.2003

Auf der Meinungsseite erläutert der amerikanische Historiker Gabriel Kolko (mehr hier), inwiefern die USA "die wahren Lektionen aus ihrem größten außenpolitischen Desaster" - Vietnam - "noch nicht gelernt" haben. "Das Pentagon hatte in den 60er-Jahren einen unerschütterlichen Glauben an seine überwältigende Feuerkraft, seine moderne Ausrüstung, Mobilität und Luftüberlegenheit. Daran glaubt es noch heute. Zudem glaubt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dass sein Militär die Technologie hat, alle Gegner in 'Schock und Ehrfurcht' ("shock and awe") zu versetzen. Aber wie in Vietnam ist der Krieg im Irak hochgradig dezentralisiert. Die Zahl der Truppen, die notwendig wäre, um Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten, steigt nur weiter, selbst bei wachsender Feuerkraft. Als in Vietnam schließlich eine halbe Million US-Soldaten stationiert waren, wandte sich die öffentliche Meinung gegen den Präsidenten und besiegte seine Partei. Letztlich werden Kriege politisch gewonnen - oder aber gar nicht."

Im Feuilleton bezweifelt Dirk Knipphals anlässlich der Erlanger Aufführung des "seltsamen" Nazistücks "Die Wölfe" in Erlangen, ob "sich die Ideologie der NS-Zeit auf der Bühne tatsächlich selbst entlarven kann, wenn sie besonders genau nachvollzogen wird". Harald Fricke erklärt, warum die kriselnde Musikbranche zunehmend auf "One-Hit-Wonder und andere Gespenster", sprich Oldies setzt, und Christian Broecking porträtiert den amerikanischen Free-Jazz-Bassisten William Parker (mehr hier). Auf der Rätselseite tazzwei beobachtet Stefan Kuzmany Michael Moore bei seinem Berliner Auftritt während seiner Deutschlandtour ("Michael Moore wird sterben, in der Hand einen Burger"). Auf der zweiten Meinungsseite gratuliert Martin Zeyn der Micky Maus, die heute ihren 75. Geburtstag feiert, und Bernhard Pötter gründelt mal wieder in den Untiefen seines Familienlebens. Er schreibt es immerhin selbst: da hilft manchmal "nur noch eines. Eine kalte Dusche."

Besprochen werden eine Ausstellung von Bauten, Projekten und Konzepten seit 1996 des niederländischen Architekten Rem Koolhaas (mehr hier) in der Neuen Nationalgalerie Berlin und die Uraufführung des Theaterstücks "69" von Igor Bauersima, das vom Menschenfresser aus Rotenburg inspiriert wurde, im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Und hier TOM.

FAZ, 18.11.2003

Auch der große Gerhard Stadelmaier ist nach Erlangen gefahren, um dort das Stück "Die Wölfe" des Nazi-Autors Hans Rehberg zu sehen, von dem allseits die Rede ist. Außer dem Wort "Vaterland" fand er allerdings nicht viel Anstößiges, das die Aufregung gelohnt hätte: "Es ist kein gutes Stück. Ein hehrer Dreck. Von damals. Kein Nazi-Stück. Ein Dreck, der zum Greifen nahe lag. Ein Zeitstück. Von damals. Zeitstücke von heute sind dreckiger. Nur weniger hehr."

Weitere Artikel: Kerstin Holm berichtet über den Verdacht, dass der Leichenplastifikator Gunther von Hagens sein Material ohne Einwilligung der Verstorbenen aus Kirgisien bezieht ("In dem verarmten Kirgisien erschienen die Abnehmer vom Plastinierinstitut, die zehn Euro pro Leiche boten, als wahrer Segen.") Jürgen Kaube untersucht die Vorschläge der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft zur Bildungsreform - unter anderem sollen die Kinder schon ab vier Jahren in die Grundschule gehen. Andreas Rossmann hat einem Essener Vortrag des türkischen Historikers Halil Berktay zugehört, der am Deutsch-Türkischen Sprach- und Kulturinstitut unter anderem über das Thema Türkei und Europa sprach. Joseph Hanimann freut sich, dass das Europäische Sozialforum, das in Paris tagte, "Raum für einen produktiven Dissens" ließ. Andreas Rosenfelder resümiert eine Kölner Tagung zum Thema Popularität. Jordan Mejias hat "The Hornet's Nest" gelesen, den ersten Roman von Jimmy Carter (hier ein Auszug).

Auf der letzten Seite erinnert Christian Starck an den südafrikanischen Verfassungsvertrag, durch den vor zehn Jahren die neue Ordnung des Landes eintrat. Oliver Tolmein plädiert für eine bessere Palliativmedizin, die den Prozess des Sterbens lindernd begleitet. Und Marta Kijowska bereitet uns auf polnische und internationale Veranstaltungen des Witold-Gombrowicz-Jahres vor, das 2004 zum hundertsten Geburtstag des Dichters begangen wird.

Auf der Medienseite schildert Andreas Kilb einen Berliner Vortrag des Linkspopulisten Michael Moore. Gina Thomas schreibt über Turbulenzen im britischen Zeitungskonzern Hollinger International (dem der Daily Telegraph, aber auch der Spectator und die Jerusalem Post gehören)

Besprochen werden eine Ausstellung der Kunstsammlung Andrew Lloyd Webbers in der Londoner Royal Academy, die Ausstellung "Surrealism & Moodernism" in Washington, die Ravel-Oper "L'enfant et les sortileges" in Dresden, Heiner Müllers "Titus" in Münnchen und Janaceks "Jenufa" an der Komischen Oper Berlin.