Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2003. Die SZ rät dem Suhrkamp-Stiftungsrat zur Selbstauflösung in aller Stille. Die FR beschreibt den neuen Antisemitismus in Frankreich. In der Berliner Zeitung macht sich Christina Weiss selbstkritische Gedanken zur deutschen Kulturpolitik. Die NZZ freut sich, dass mit Tel Aviv erstmals ein modernes Bauensemble ins Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Die FAZ feiert "einen der schönsten Filme, die je gedreht worden sind": John Cassavetes' "Opening Night.

FR, 03.12.2003

Martina Meister schreibt über den neuen, von arabischen Jugendlichen importierten Antisemitismus in Frankreich und bringt ihn in Zusammenhang mit dem auch in Frankreich tobenden Kopftuchstreit: "Der Schleier ist nämlich längst über das Religiöse hinaus instrumentalisiert worden und wendet das Gefühl sozialen und wirtschaftlichen Ausgeschlossenseins positiv um in ein Symbol der Zugehörigkeit zu einer spirituellen und damit wichtigeren Gemeinschaft. Und weil diese Auseinandersetzung ein Kampf um Zeichen ist, kann man auch die symbolischen Dimensionen des Ratschlags von Frankreichs Oberrabiner Joseph Sitruk, der Juden empfahl, die Kippa durch eine Baseballmütze zu ersetzen (FR vom 20. 11.), erst in diesem Kontext in ihren Ausmaßen begreifen. Während nämlich die Moslems für ihr Zeichen religiöser Zugehörigkeit kämpfen und damit bewusst gegen die laizistische Gesellschaft opponieren, haben die Juden Angst, ihr religiöses Zeichen in der Öffentlichkeit weiter zu tragen." Meister meldet in ihrem Artikel auch, dass die von der EU unterdrückte Studie über den Antisemitismus junger Moslems jetzt im Netz veröffentlicht wurde.

Weitere Artikel: Helmut Höge schreibt ein kleines Porträt über den japanischen Autor Haruki Murakami, der in seinem 1998 auf deutsch erschienen Roman "Mister Aufziehvogel" den japanisch-chinesischen Krieg in der Mandschurei aufgriff. Reinhart Wustlich stellt neue Architektur in New York vor, unter anderem das von der Architekturgruppe Sharples Holden Pasquarelli (oder ShoP) spektakulär umgestaltete Porter House im ehemaligen Schachthofdistrikt (das Büro und das Porter House, wo Wohnungen noch käuflich zu erwerben sind, haben ihre superschicken Internetadressen hier und hier). In Times mager porträtiert Elke Buhr den Postar Sting als "netten", wenn auch durchaus mediokren Englishman - er bringt heute seine Memoiren auf deutsch heraus.

Besprochen werden eine Ausstellung über DDR-Design im Leipziger Grassi-Museum, eine "Fliegende Holländer"-Inszenierung der Sopranistin Gwyneth Jones in Weimar und einige Bücher, darunter Antje Wagners Erzählungen "Mottenlicht" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 03.12.2003

Heute soll der Stiftungsrat des Suhrkamp Verlages zusammenkommen. Ijoma Mangold rät ihm dringend zur Selbstauflösung, über Identitäts- und Kontinuitätsfragen sei schließlich entschieden worden, ohne dass sich die Herren Habermas, Enzensberger, Kluge, Muschg und Singer je zu Wort gemeldet hätten. "Zurück bleibt die melancholische Frage, wie sehr man kritische, widerständige Intelligenz ein Leben lang rhetorisch feiern und zugleich eine Saturiertheit erreichen kann, in der sich Indolenz und Phlegma gegenseitig zu steigern scheinen. Wenn das die gelebte Praxis kommunikativen Handelns ist, dann ist die Moderne noch ein sehr unvollendetes Projekt."

Weiteres: Jens Bisky findet die derzeitigen Studentenproteste zwar recht charmant, den dahintersteckenden Bildungsbegriff aber noch nicht ganz ausdiskutiert. Sonja Zekri stellt ein Enthüllungsbuch einer russischen Journalistin vor, das in Moskau gerade für Wirbel sorgt. Der Künstler Moritz R. schwärmt als eingefleischter Exotica-Liebhaber von den Freiheiten des Internets. Vorgestern wurde im schwedischen Fernsehen wurde Ingmar Bergmans letzter Film "Sarabande" gezeigt. Und es ist alles drin, versichert Christoph Bartmann: Treulosigkeit, irrationale Impulse und moralische Verwirrung. Wolf Lepenies berichtet, dass in den USA derzeit das deutsche Modell hoch im Kurs steht, wenn auch nur aus rhetorischen Gründen.

Besprochen werden Lukas Moodyssons bewegender Film "Lilja 4-ever", eine Mannheimer "Cosi fan tutte"-Aufführung von Jens-Daniel Herzog und Adam Fischer, eine neue Aufnahme von Morton Feldmans "String Quartet No.2" und Bücher, darunter Peter Glasers Erzählungen "Geschichte von Nichts" und zwei Bände über Stresemann (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 03.12.2003

Bundeskulturministerin Christina Weiss macht sich im Interview mit Birgit Walter und Sebastian Preuss selbstkritische Gedanken über Kulturpolitik in der Bundesrepublik: "Ich glaube wir haben uns ein paar Jahrzehnte zu lang in der Gewissheit gewogen, wir seien eine unantastbare Kulturnation. Inzwischen gibt es kaum noch einen Konsens darüber, was Kultur überhaupt ist. Dieser Fehler macht sich in den alten Ländern so krass bemerkbar, weil dort dieser unbedachte Abbau noch nicht einmal durch große Debatten begleitet wird. Es wurde verlernt, auf diesen Kulturschatz aufzupassen." Anlass ist der geplatzte Hauptstadtkulturvertrag (mehr hier).
Stichwörter: Weiss, Christina, Preußen

TAZ, 03.12.2003

Reinhard Wolf will bei aller Unversöhnlichkeit einen Augenblick von Wärme in Ingmar Bergmans letztem, vorgestern im schwedischen Fernsehen gezeigtem Film bemerkt haben. Katrin Bettina Müller wirft einen Blick auf die Theaterkleinststadt Meiningen, wo der neue Chefregisseur Sebastian Baumgarten Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" als treffende Kleinstadtparabel inszeniert hat. In der Schlagloch-Kolumne untersucht Viola Roggenkamp, wie heute über das Schweigen der Nachkriegszeit geschrieben wird.

Besprochen werden die Aufführung von die Doppelausstellung zu Rineke Dijkstra und Paula Modersohn-Becker in Bremen und eine Dokumentation über Kunst und LSD "Psychonautische Landkarte".

Und natürlich TOM.

NZZ, 03.12.2003

Mit Tel Aviv ist zum ersten mal "ein modernes Objekt" in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen worden, freut sich Naomi Bubis. Die weiße Stadt verdankt dies den rund 4000 im Bauhaus-Stil errichteten Gebäuden (hier Fotos) aus den dreißiger Jahren, die auf aus Europa geflüchtete jüdische Architekten" zurückzuführen sind: "Die als Antithese zur totalitären architektonischen Formensprache der Nazis angewandte progressive Architektur reflektiert mit ihren kubischen Volumen und dem Einsatz von Stahlträgern die anbrechende Moderne im damaligen Palästina... Charakteristische Merkmale des Tel Aviver 'Bauhausstils' sind Flachdächer, vertikale Lichtleisten über den Treppenhäusern, zum Sonnenschutz verstellbare Jalousien, 'brise-soleil' an den Fenstern und Balkone, die als 'Schürzen' weit nach unten verlängert wurden, um Schatten zu spenden. Die Wohnhäuser stehen auf Säulen, den 'Pilotis', um den Staub aus den Erdgeschosswohnungen fernzuhalten und Platz für überdeckte Vorgärten zu schaffen."

Weiteres: Paul Jandl zieht in der Druckausgabe eine "hocherfreuliche" Bilanz des Kulturhauptstadt-Europa-Jahres für Graz, das die Stadt als "gut gelauntes Massenevent, bei dem der Kunst die elitäre Spitze genommen wurde" definiert hatte. Besprochen werden Fernando Perez' filmisches Meisterstück "Suite Habana", in dem der Regisseur als "nicht fiktionale Fiktion" seinen zwölf Protagonisten durch ihren normalen Tagesablauf folgt, die Ausstellung mit Farbskizzen Rubens im Londoner Somerset House und natürlich Bücher, darunter Prinz Asfa-Wossen Asserates Sittenlehre "Manieren", Christopher Brownings Rekonstruktion des Weges in den Holocaust und Oleg Jurjews "Roman in fünf Satiren" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 03.12.2003

Nach fünfundzwanzig Jahren kommt John Cassavetes' Film "Opening Night" ins Kino. Schauen Sie ihn an, rät Andreas Kilb, bewundern Sie die "Königin der Könnerinnen" Gena Rowlands, wie sie eine Theaterrolle übernimmt, gegen sie kämpft, um dann sturzbetrunken eine grandiose Aufführung hinzulegen. "'Opening Night' öffnet nicht nur ein Fenster in eine Epoche, die uns, allen Nostalgieshows im Fernsehen zum Trotz, unendlich ferngerückt ist, er öffnet auch eine Tür in die Welt des John Cassavetes, von der aus man mühelos sein ganzes seltsames, furioses und zauberhaftes Lebenswerk betreten und besichtigen kann. Und nebenbei ist es einer der schönsten Filme, die je gedreht worden sind, über jenes Wechselspiel zwischen Schauspiel und Leben, von dem Kino wie Theater gleichermaßen zehren."

Mit Unbehagen sieht Mark Siemons den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, das Bundeskanzler Schröder gerade bereist. Die Vorstellung, wir könnten von diesem Aufschwung ohne Nachteile profitieren, findet Siemons naiv. In China bleibt die "Unterscheidung zwischen Chinese und Nichtchinese ... für das Selbstverständnis und das daraus abgeleitete Handeln zentral". Die Chinesen glauben fest daran, "dass China die Macht der Stunde sei, die in absehbarer Zeit die Vorherrschaft des Westens brechen wird. Große Kaufhäuser tragen als Inbegriff des Modernen gern den Titel 'Kaiyuan', was soviel heißt wie: ein neues Zeitalter."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru berichtet von einem Buch, das Israel erschüttert: In "Kontrollposten-Syndrom" beschreibt der sechsundzwanzigjährige Liran Ron-Furer, der selbst mehrere Jahre als Besatzungssoldat im Gazastreifen war, "das Verhalten junger Soldaten an einem Kontrollposten der Armee. Sie schikanieren die Palästinenser wie Sklaven und genießen ihre Macht." Peter Krebs stellt Johannes Krahns französische Schule in Baden-Baden, ein Schmuckstück der Architektur aus den fünfziger Jahren. Wolfgang Schneider berichtet über eine Tagung in Greifswald, bei der Döblin und Wolfgang Koeppen verglichen wurden. Jürg Altwegg beschreibt Mario Bottas unterirdischen Ausbau des Musee Bodmer in Genf.

Auf der Stilseite werden zwei Spielzeug-Ausstellungen in München und Tübingen besprochen. Auf der letzten Seite berichtet Paul Ingendaay von einer gespenstischen Veranstaltung der Franco-Stiftung, die den Diktator als "vorbildlichen Christen" feierte. Andreas Rossmann kündigt für Ende 2004 die Schließung der Schrobsdorffschen Buchhandlung an, es ist die älteste Buchhandlung Düsseldorfs und zugleich die letzte auf der Kö. Dieter Bartetzko porträtiert den Architekten Alessandro Antonelli.

Besprochen wird eine Ausstellung des afroamerikanischen Malers Romare Bearden in der National Gallery in Washington.