Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2004. In der FAZ gratuliert sich Heinz Berggruen selber, dass er mit neunzig noch kräftig zubeißen kann. Außerdem erfahren wir, wie ein spanischer Geheimdienstler durch einen Wangenkuss gerettet wurde. In der taz feiert der glückliche Arbeitslose Guillaume Paoli den frühen Kokser und Psychoanalytiker Otto Gross. Die NZZ stellt eine monumentale Enzyklopädie über Osteuropa vor.

FAZ, 06.01.2004

Rose-Maria Gropp gratuliert dem Kunsthändler und Sammler Heinz Berggruen zum neunzigsten Geburtstag. Und dieser gratuliert sich dann auch noch selbst: "Ich war 89 Jahre lang eher zurückhaltend, aber jetzt, zum Neunzigsten, will ich mal ordentlich auf die Pauke hauen. 'Schaut mich an, hier bin ich!' möchte ich hinausschreien, 'Schaut mich an, aufrecht und noch (fast) alle 32 Zähne im Mund.'

Eine hoch seltsame Geschichte erzählt Paul Ingendaay über acht spanische Geheimdienstmänner, die im Irak auf offener Straße angegriffen wurden. Sieben wurden massakriert. Einen hatten sie weggeschickt, um Hilfe zu holen. Er wurde von der johlenden Menge angegriffen - und gerettet, "weil ein Iraker, ein Mann ohne Namen und Identität, im entscheidenden Moment nach vorn trat, sein Gesicht dem des Spaniers näherte und ihm einen Kuss auf die Wange gab. Sofort ließen die wütenden Hände von dem Agenten ab und bahnten ihm statt dessen den Weg zu einem Taxi."

Weitere Artikel: Der Historiker Wolfgang Burgdorf findet viele historische Gründe, warum die Türkei in die EU aufgenommen werden sollte ("Wenn man der Definition Europas das Christentum zugrunde legt, könnte man die Türkei mit einigem Recht als eine der Wiegen Europas bezeichnen"). Auf der Aufmacherseite lanciert die FAZ eine kleine Attacke gegen die sozialdemokratische Forschungs- und Bildungspolitik von Edelgard Bulmahn. Christian Schwägerl beschwert sich, dass sie Forschung nur nach ökonomischer Verwertbarkeit beurteile. Und in der Glosse schimpft Jürgen Kaube über Bulmahns Vorstellung von Bildungspolitik als Sozialausgleich. Andreas Rossmann berichtet über die Kölner Designausstellung "Passagen". Andreas Platthaus meditiert über wundersame Rettungen in der Erdbebenstadt Bam und bemängelt, dass nicht zumindest symbolische Sucharbeiten fortgesetzt werden. Heinrich Detering schreibt zum Tod der Fontane-Forscherin Charlotte Jolles. Gemeldet wird, dass Siv Bublitz den Verlag Rowohlt Berlin verlässt, und Gunnar Schmidt von Rowohlt ihren Posten übernimmt.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite wird Jan Philipp Reemtsmas Laudatio auf Alexander Kluge zum Büchner-Preis abgedruckt. Und die Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit beschwert sich über Anglizismen im Japanischen: "Weshalb benutzt man für reshipi ('recipe'), baiya ('buyer'), bijita ('visitor'), für rimitto ('limit') und risuku ('risk'), maketto ('market') und sukuru ('school') nicht die vorhandenen einheimischen Wörter? Weshalb muss eine Autobahnraststätte haiue oashisu ('highway oasis') heißen, der eine sabisu eria ('service area') angegliedert ist?"

Auf der letzten Seite erinnert der Romanist Frank-Rutger Hausmann an das Verhältnis von Hans Carossa und Thomas Mann, der Carossa lange nicht verzieh, dass er für die Nazis als Repräsentant eines Europäischen Schriftstellerverbands figurierte. Michael Jeismann fragt sich, was die Europäer nur machen sollen, jetzt wo ihre Mars-Mission gescheitert ist und die der Amerikaner mal wieder flutscht? "Sie sollten sich, wenn sie schon am Mars scheitern, der Venus zuwenden." Und Ilona Lehnart hält das jüngste Kapitel in der schändlichen Geschichte des Neubaus für die Stiftung "Topographie des Terrors" fest.

Besprochen werden Edward Zwicks Film "Der letzte Samurai" mit Tom Cruise, dem Andreas Kilb eine trotz allem mal wieder bemerkenswerte schauspielerische Leistung attestiert, und eine Ausstellung des ungarischen Malers Bela Veszelszky in Berlin.

FR, 06.01.2004

"Zwar nicht konzeptionell, aber aktueller" - das ist das Motto einer Ausstellung des "vergessenen Genres" russischer Kriegsmalerei, mit der, wie Stephanie Prochnow beschreibt, die Moskauer Krokin Galerie derzeit das gewöhnlich "um sich selbst kreisende" Kunstpublikum konfrontiert. Über den Kriegsmaler Andrej Sibirski, der ganz aktuell im Auftrag des Verteidigungsministeriums den Tschetschenienkrieg zeichnete und malte, schreibt sie: "Ein Kriegsmaler arbeitet ähnlich wie ein Kriegsfotograf, mit dem Unterschied, dass er das Kriegsgeschehen nicht objektiv wiederzugeben hat. Sibirski war nicht nur bei der Truppe 'embedded' und lebte mit den Offizieren zusammen, sondern er arbeitete zuweilen sogar ausgestattet mit einer Kalaschnikow."

Auf der Medienseite berichtet Helmut Höge über "übelsten Manchesterkapitalismus" und "Etikettenschwindel", der hinter (einigen) Obdachlosenzeitungen stecke. So werde suggeriert, dass die "Zeitung von und für Obdachlose gemacht wird. Tatsächlich sind das aber alles Premiumpenner, das heißt extrem schlechte Journalisten, die da ihre Spielwiese haben, während sich die Herausgeber, also die jeweiligen Obdachlosen-Vereinsvorstände, damit vermutlich eine goldene Nase verdient haben."

Weitere Artikel: Christian Thomas räsoniert über die Bedeutung der vom Mars gefunkten Bilder und Botschaften. Rudolf Maria Bergmann stellt ein von der Schmuckdesignerin Jette Joop entworfenes Musterhaus vor ("schon im Label erschöpft sich der Glamour des Joop-Heims"), und in der Kolumne Time mager erklärt Louise Brown dem Kontinentbewohner die ultimative Filiale des Londoner Edel-Lebensmittelladens Waitrose in Belgrave ("Statt Kindern mit triefenden Nasen schieben die Schiffers und Paltrows ihren (künftigen) Nachwuchs durch die extra breiten Gänge an Öko-Camembert vorbei").

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien aus dem Paris der Zwanziger von Brassai (mehr) im Kunstmuseum Wolfsburg, zwei Ausstellungen von (privaten) Urlaubsfotos und Ansichtskarten in der Leipziger Galerie für zeitgenössische Kunst und eine neue Dauerausstellung zum Thema Verkehr, mit der das National Museum of American History in Washington "selbstkritische Schwerpunkte setzt".

TAZ, 06.01.2004

Heute werden ausführlich zwei Ausstellungen gewürdigt: der glückliche Arbeitslose Guillaume Paoli besuchte im Grazer Stolz-Museum die Ausstellung "Die Gesetze des Vaters" über den Anarchisten, Kokser und frühen Psychoanalytiker Otto Gross (mehr). "Der Mann träumte davon, ganz Wien in die Luft zu sprengen. Er propagierte die sexuelle Revolution zwei Jahrzehnte vor und radikaler als Wilhelm Reich. Keinen Tag konnte er ohne Opium und Kokain überstehen. (...) Er half zweien seiner lebensmüden Patientinnen, sich umzubringen. Er ließ Sigmund Freud bereuen, die Psychoanalyse jemals erfunden zu haben, als er sich gelobte, deren subversives Potenzial für die völlige Zerstörung der bürgerlichen Verhältnisse einzusetzen. Über Franz Jung und Raoul Hausmann trug er erheblich zur radikalen Zuspitzung der Dada-Bewegung bei. Und wie ein echter Rock-Held war er nicht einmal 43, als er schließlich in einem Berliner Hauseingang starb: verhungert und erfroren."

Um "500 Jahre ästhetische und wissenschaftliche Vermessungsarbeit" geht es dagegen in der "aufwändig inszenierten" Ausstellung "Die Berge in Kunst und Wissenschaft von Dürer bis Warhol", die das Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto (Mart) in Rovereto zeigt. Brigitte Werneburg fand hier, "in der geschmackssicheren italienischen Provinz eine Ausstellung, die jede Metropole zieren würde". Es wundert sie, dass die Berge in früheren Jahrhunderten eher "Abscheu und Angst" als Faszination ausgelöst hätten: "Interesse erregten die Berge nur zögerlich". Doch eben das - nämlich die "Geschichte, wie die unerklärlichen Missbildungen der Erde, die Augustinus noch tumores terrarum nannte, ein erklärbares Phänomen der Evolution wurden und darüber hinaus Anlass ästhetischen Genusses" - ist Gegenstand der Ausstellung.

Ansonsten macht sich Uli Hannemann "krause Gedanken" über grimmiges oder unsicheres Kucken im Alltag. Besprochen wird das Romandebüt "Drachenläufer" des in Kalifornien lebenden Exilafghanen Khaled Hosseini (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich TOM.

NZZ, 06.01.2004

Uwe Stolzmann stellt das Großprojekt eines Kleinverlages vor: die Enzyklopädie des Europäischen Osten (mehr hier), an der der Klagenfurter Wieser Verlag wacker arbeitet. "Und so soll das Sammelwerk aussehen, wenn es fertig ist: Rückenschilder in Rot, Blau, Grün gliedern die Enzyklopädie in drei 'Abteilungen' - zehn Bände Lexikon zu Geschichte und Kultur (mit 50 000 Stichwörtern, ergänzt durch Tausende Abbildungen), sieben Themen-Bände (zur Geschichte der Räume, der Herrschafts- und Lebensformen usw.) mit zusammenhängenden, fachübergreifenden Abhandlungen sowie drei Bände Dokumente und Akten."

Weitere Artikel: Robert Uhde berichtet von der Sanierung des Sanatoriums Zonnestraal im niederländischen Hilversum durch die Architekten Hubert-Jan Henket und Wessel de Jonge. Klaus Bartels klärt uns über die Herkunft des Wortes Nonproliferation auf.

Besprochen werden die Gemmen der Stiftung Merz im Kunstmuseum Bern, Jean-Baptiste Lullys Oper "Roland" in Lausanne, William Trevors Geschichte der "Lucy Gault", in der still gelebt und noch stiller gestorben wird, und die späten Aufzeichnungen von Rudolf Borchardt (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 06.01.2004

Die Bayern begehen einen ihrer zahllosen Feiertage, wir gratulieren.