Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2004. In der NZZ erinnert Paul Auster daran, dass Bush kein gewählter Präsident ist. In der FR analysiert der Kulturanthropologe Thomas Hauschild die Folterbilder aus dem Irak als eine Art "interkultureller Mimesis". In der FAZ gibt Hussain Al-Mozany zu bedenken, dass arabische Politiker die Amerikaner wegen der Folter am allerwenigsten kritisieren dürfen. Außerdem lief Hans Weingartners deutscher Wettbewerbsfilm "Die fetten Jahre sind vorbei" in Cannes und stieß auf das Wohlgefallen der FAZ und der Welt, während sich die NZZ an Michael Moores neuem Film ergötzt.

NZZ, 18.05.2004

Irene Binal unterhält sich mit Paul Auster über seinen neuen Roman "Nacht des Orakels", über Realität und Fiktion, aber auch über amerikanische Politik: "Ich lehne die Regierung ab, die wir haben, und ich glaube, sie hat nicht nur uns betrogen, sondern alles, wofür Amerika steht. Wir hatten noch nie eine derart ideologische Regierung. Sie lebt in einer Phantasiewelt der Theorien. Und es ist wahrscheinlich die undemokratischste Regierung, die wir je hatten, eine Regierung, die ihre Verantwortung in der Welt nicht wahrnimmt. Wir haben uns von all unseren Verbündeten entfremdet, ganz zu schweigen davon, dass wir Hunderte neuer Feinde geschaffen haben. Auch unser Land ist zerrissen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Bush kein gewählter Präsident ist..." Jürgen Brôcan bespricht in einem zweiten Artikel Austers neuen Roman.

Weitere Artikel: Jürgen Tietz besucht die von Richard Meier in Rom gebaute Chiesa del Giubileo. Peter W. Jansen schreibt den Nachruf auf Marika Rökk.

Und Martin Walder hat in Cannes Michael Moores viel erwarteten Dokumentarfilm über den 11. September und die Beziehungen der Famile Bush zum bin-Laden-Clan gesehen: "Der Film ist schockierend, sarkastisch, witzig, aber auch emphatisch. Und er ergeht sich bei aller ätzenden Kritik und Verve nicht einfach in billiger Stimmungsmache."

Besprochen werden einige Bücher, darunter, sehr ausführlich, Russell Shortos Frühgeschichte New Yorks "New York - Insel in der Mitte der Welt" (mehr hier).

FR, 18.05.2004

Im Zusammenhang mit den Folterbildern aus dem Irak beschäftigt sich der Tübinger Ethnologe und Kulturanthropologe Thomas Hauschild in einem Essay mit den "zuletzt eher als kulturwissenschaftliche Marginalie" geltenden Begriffen der "Ehre" und "Schande". Er fordert, dass der "schreckliche Sinn" dieser Bilder "endlich gelesen" werden müsse. "Die Aufnahmen, mit denen die Folterer ihre eigene Entehrung vorbereitet haben, zeigen die Mobilisierung folklorischer Traditionen, eine Art interkultureller Mimesis. Sie stellen die Schamkultur der Opfer auf den Kopf - das heißt, die Folterer haben etwas verstanden von ihrem Gegenüber, sie haben sich dem Kulturschock ausgesetzt, sie agieren und reagieren mit ihnen, gegen sie."

"Wenig Neues zu erzählen" habe Michael Moore in seinem neuen Film "Fahrenheit 9-11" über die Geschäftsverbindungen Bushs zu Osama bin Laden, stellt Daniel Kothenschulte nach in Augenscheinnahme in Cannes fest. Dieses Dokument "vorauseilender Sippenhaft" sei "nicht die versprochene Skandalkatze, sondern eine emotionale Ansprache an junge Arbeitslose, die Moore etwas naiv fragt, warum sie ihre Haut für ein Land geben sollen, das sie schlecht behandelt." Das allerdings sei womöglich "das Wichtigste, was es im Moment gegen Bush zu tun gibt". Die Besprechung von Hans Weingartners "erfrischender, glänzend gespielter" Anti-Globalisierungskomödie "Die fetten Jahre sind vorbei" verspricht Kothenschulte für morgen.

Weitere Artikel: Hans-Klaus Jungheinrich verabschiedet in seinem Nachruf Marika Rökk, und in Times mager warnt Christian Schlüter vor der trügerischen "Sieger-Moral" des Spiegel und hält dessen These von der sozialkompetenteren Frau als solcher Condoleezza Rice als Gegenbeispiel entgegen.

Besprochen werden eine Inszenierung von Arrigo Boitos "Mefistofele" an der Oper Frankfurt, Lother Trolles "trostloses" und "einschläferndes" Stück "Hermes in der Stadt" in den Münchner Kammerspielen und zwei Bochumer Theaterereignisse: Katharina Thalbach, die als "brabbelnder Bariton" den Falstaff in Shakespeares "Heinrich IV." am Schauspielhaus gibt und die Eigeninszenierung seines Stücks "Ich, Feuerbach" durch Tankred Dorst an den Kammerspielen. Und Ina Hartwig hat sich den "Bücherfrühling" vorgenommen, der in diesem Jahr den Frauen gehöre - nur, fragt sie, "was aber wollen sie?". Und befragt danach neue Bücher von Kathrin Röggla, Marlene Streeruwitz, Ulrike Draesner, Felicitas Hoppe und Angelika Klüssendorf (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 18.05.2004

Hans Weingartners "Die fetten Jahre sind vorbei" ist "ein schöner Film - und ein Wettbewerbsbeitrag, mit dem sich sowohl Deutsche als auch Österreicher in Cannes sehen lassen können", schreibt Andreas Kilb über den ersten deutschen Wettbewerbsbeitrag in Cannes seit elf Jahren. "Der Röntgenblick, den Weingartner in seinem Kinodebüt 'Das weiße Rauschen' auf den Alltag eines Schizophrenen warf, bewährt sich auch hier, so dass jede Szene ein Doppelgesicht hat, Filmhandlung und Generationenporträt zugleich."

Der in Deutschland lebende irakische Schriftsteller Hussain Al-Mozany liefert einen eindrucksvollen Abriss arabischer Folterpraktiken im 20. Jahrhundert, die in seinen Augen die "Kritik der arabischen Politiker an die Adresse der Amerikaner unglaubwürdig" machen. "Die arabischen Potentaten haben niemals die Stimme gegen die Schandtaten erhoben, die unter Saddam jahrzehntelang im Irak verübt wurden. Öffentliche Hinrichtungen, Massenexekutionen, Fleischwölfe, in denen Oppositionelle zu Hackfleisch gemacht wurden, Frauen, die von den Straßen entführt wurden, damit Saddams Sohn Uday seine Perversionen an ihnen ausleben konnte, Verstümmelung von Nasen, Ohren und Gliedmaßen vor laufenden Kameras - all dieses und noch viel mehr wurde weder von der Arabischen Liga noch von anderen arabischen Staaten auch nur mit einem einzigen Wort angeprangert ... In diese Kampagne der Selbstgefälligkeit passen auch die Äußerungen von al-Sadrs Vertreter in Basra, der umgerechnet 170 Dollar Belohnung an jeden zahlt, der eine amerikanische Soldatin entführt. Man soll sie in al-Sadrs Büro abliefern, wo sie dann nach 'islamischer Rechtsprechung' als gariya, als Lustsklavin, behandelt werde."

Weitere Artikel: Alexandra Kemmerer war bei der Gründungskonferenz der "European Society of International Law" in Florenz, bei der mehr als dreihundertfünfzig Völkerrechtler "nach dem Ort des Europäischen im Kaleidoskop des internationalen Rechts suchten". Jürg Altwegg wirft einen Blick in Schweizer Zeitschriften, die eine "Krise der Liberalen" bei der NZZ offenbaren. Michael Althen schreibt zum Tod Marika Rökks. Auf der letzten Seite porträtiert Hans-Dieter Seidel die Schauspielerin Nina Hoss, die gleich drei mal für den Deutschen Filmpreis nominiert wurde. Gerhard Rohde war dabei, als Alfred Brendel der Siemens-Musikpreis überreicht wurde. Und Dietmar Dath hat sich unter 570 Mädchen gemischt, die in Berlin James Marsters sehen wollten, Held der Fernsehserie "Buffy": "'Die kurzen Haare stehen ihm ganz klasse.'"

Besprochen werden Laurent Chetouanes Inszenierung von Lothar Trolles Szenenfolge "Hermes in der Stadt" in den Münchner Kammerspielen, Dietrich Hilsdorfs Inszenierung von Arrigo Boitos "Mefistofele" an den Städtischen Bühnen Frankfurts und eine "kleine, erlesene Kabinettausstellung" zum Thema "Pan und Syrinx" bei Rubens, seinen Vorgängern und Nachfolgern in der Gemäldegalerie Alter Meister auf Schloss Wilhelmshöhe.

TAZ, 18.05.2004

Unterm Strich, also in den so genannten Kurzmeldungen, bringt die taz die Reaktion von Salomon Korn, Mitglied des Zentralrats der Juden, auf einen offenen Brief von Friedrich Christian Flick im Tagesspiegel vom Samstag, in dem dieser auf Ausgleichsbemühungen der düsteren Vergangenheit seiner Familiengeschichte aus der Gegenwart verwiesen hatte. Korn argumentiert jedoch nach wie vor, dass Flicks Entscheidung, "seine mit dem Blutgeld des Großvaters erworbene Kunstsammlung der Öffentlichkeit leihweise zur Verfügung zu stellen", der bloßen "Rehabilitierung" des Familiennamens nicht genüge. Es gebe, so Korn an Flick, eine "Würde des Verzichtens".

Weiteres: Gisa Funck berichtet über eine Tagung zum neuen "Reizthema" Bildung, jenem "Etikettenschwindel im großen Stil", der "neuerdings quer durch die Parteien zum politischen Totschlagsargument avanciert" sei. In Essen ging es diesmal um die Variante "ästhetische Bildung", die indes "in Deutschland wahrscheinlich einen so miserablen Ruf wie noch nie zuvor" genieße - mit dem immer gleichen Argument, dass man schließlich nicht wüsste, was 'hinten dabei herauskommen' soll."

Cristina Nord sah in Cannes den neuen Film von Michael Moore "Fahrenheit 9-11" ("einfache Sicht auf die Dinge") und den deutschen Beitrag "Die fetten Jahre sind vorbei" von Hans Weingartner, den sie zu plotlastig fand. In tazzwei - ja wie sagt man's: würdigt? - Roland Seim das 50-jährige Indizierungsjubiläum der "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" ("normative Kraft des faktischen Totalverbots").

Besprochen wird eine Retrospektive des amerikanischen Künstlers James Lee Byars in der Frankfurter Kunsthalle Schirn, und Kolja Mensing betreibt wieder "Neues Lesen" und präsentiert neue Bücher von Nina Jäckle, Patrick Boman und Chuck Palahniuk in Kurzbesprechungen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

Welt, 18.05.2004

Der Cannes-Korrespondent Hanns-Georg Rodek schreibt schon recht ausführlich über Hans Weingartners deutschen Wettbewerbsfilm "Die fetten Jahre sind vorbei" und sieht die Geschichte um die drei Mittzwanziger Jan, Jule und Peter, die in Villen einbrechen, als Parabel auf die Globalisierungsbewegung: "Weingartners Film setzt auf subtile Weise an jenem Punkt an, an dem sich die Anti-Globalisierungsbewegung momentan befindet: Sie hat Aufsehen erregt, ist eine politische Kraft geworden, aber sie sieht die Dinge sich nicht ändern. Das ist, wie nach dem Mai 1968, jene Wasserscheide, an dem sich die Frage nach der Legitimität und (Un-)Vermeidlichkeit von Gewalt stellt. Baader, Meinhof & Co. haben sie damals bejaht, Jan, Jule & Peter sind - weil viel weniger politisiert - in ihren Überlegungen noch nicht so weit."


Stichwörter: Mai 1968

SZ, 18.05.2004

Die gesamte Aufmacherseite ist dem Thema "Folter" gewidmet. Niels Werber fasst einige "wohlfeile Vorurteile" in der Folterdebatte zusammen. ("Wir lernen: Die USA führen den totalen Krieg in jener Dimension, die Hitler verwehrt blieb") Reinhard Brandt analysiert die Folgen der weltweiten Empörung für die amerikanische Wirtschaft ("Dass die Moral einen ökonomischen Schaden anrichten kann, ist ein ungeahnter Triumph der idealistischen Sittlichkeit"). Und in einem Gespräch legt der amerikanische Pop-Historiker Greil Marcus dar, "wie gefährlich Bush der amerikanischen Demokratie tatsächlich werden könnte": "Bushs Politik basiert darauf, dass jeder an sich selbst denkt. Seit Bush Präsident ist, hat sich im Alltag eine Fuck-you-Mentalität breit gemacht."

Des weiteren dokumentiert die SZ in voller Länge den offenen Brief von Salomon Korn an Friedrich Christian Flick, in dem er seine Vorwürfe, Flick wolle mit der Zurverfügungstellung seiner Kunstsammlung das "Blutgeld" seines Großvaters reinwaschen, noch verschärft. Er schreibt: "Sie können den historisch belasteten Teil Ihres Erbes - die Verbrechen ihres Großvaters - nicht einfach vom vermeintlich neutralen materiellen Teil - das durch diese Verbrechen erworbene Blutgeld - sauber abtrennen. Auch wenn Sie offenbar nicht bereit sind, diesen Zusammenhang und die damit verbundene Hypothek anzuerkennen und mit aller Konsequenz zu übernehmen, wie dies Jan Philipp Reemtsma getan hat: Ihre 'Flick-Collection' stammt unmittelbar aus jenen Quellen, aus denen ursprünglich das Blutgeld ihres Großvaters sprudelte." (Den am Samstag im Tagesspiegel veröffentlichten vorangegangenen offenen Rechtfertigungsbrief im von Friedrich Christian Flick lesen Sie hier)

Weiteres: Tobias Kniebe erlebte in Cannes mit Beiträgen von Jean-Luc Godard ("Notre musique") und Hans Weingartner ("Die fetten Jahre sind vorbei") einen "Verjüngungsschock des Programms". Susan Vahabzadeh war indes von Michael Moores "Fahrenheit 9-11" verblüfft und geschockt. In der Zwischenzeit sinniert Hermann Unterstöger über zeitgemäße Sprachspiele und -entgleisungen ("Cannes Cannes... Uns cannes recht sein"). Stefan Koldehoff schreibt einen Nachruf auf die Kölner Kulturdezernentin Marie Hüllenkremer. Und auf der Medienseite porträtiert Andrian Kreye den amerikanischen Journalisten Seymour M. Hersh, der sich im New Yorker mit seinen Enthüllungen über Abu Ghraib derzeit an die Spitze der Bush-Regierung-Vernichter geschrieben hat (Hershs letzte Texte dazu finden Sie hier und hier).

Besprochen werden eine "Reanimation" von Tankred Dorsts "Ich, Feuerbach" an den Kammerspielen Bochum, eine Ausstellung mit Werken von Ernst Wilhelm Ney in der Münchner Pinakothek der Moderne, die Uraufführung von Rupert Hubers Komposition "private exile" im Rahmen der Wiener Festwochen und Bücher, darunter eine Ausgabe von Kafkas "Brief an den Vater", eine in den USA erschienene Kriminalgeschichte, die den Astronomen Johannes Kepler des Mordes an seinem Lehrer Tycho Brahe überführen will, der erste Roman von Paula Fox, der Großmutter von Courtney Love, "Pech für George" und eine Festschrift zum 50. Todestag des Komponisten Charles Ives (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).