Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.06.2004. Die taz stellt eine aberwitzige Wiener Nachkriegsinstitution vor, die kommunistischen Wien-Film Studios am Rosenhügel, die das Publikum mit Arbeitersynchronschwimmen beglückten. Die SZ fordert mehr Freiheit und weniger Lehrpläne an deutschen Schulen. Die FR regt eine String-Debatte an.

SZ, 08.06.2004

Jeanne Rubner hält ein Plädoyer für mehr Freiheit und weniger Lehrpläne an deutschen Schulen, die inzwischen eine "skurrile Neigung zum Detail" zeigten und bei denen "noch immer viel zu viele" mitredeten. "Und so ist ein jeder Lehrplan kein Minimalkonsens, sondern ein Maximalpapier." Andrian Kreye dagegen beschreibt die desaströse Bildungspolitik in den USA, die durch schlechte Bezahlung des Lehrpersonals und zunehmende Privatisierung des Schulsystems inzwischen annähernd auf Bildung verzichte: "In Europa gelten Lehrer als halbakademische Autoritätspersonen. In den Vereinigten Staaten sind sie lediglich Hilfskräfte im öffentlichen Dienst."

Weitere Artikel: In einem vergnüglichen Text in der Reihe "Lebenslügen" demontiert Lisa Spitz den Hobbykoch. Alexander Gorkow war vom Münchner Abschiedskonzert von Phil "Papa Bär" Collins bewegter als vorher gedacht. In der "Zwischenzeit" räsoniert Evelyn Roll über den gänzlich überflüssigen Vorsatz, nur über Bücher und Filme zu sprechen, die man auch gelesen beziehungsweise gesehen hat. Ira Mazzoni resümiert eine Tagung über Relikte das Kalten Kriegs in Potsdam, Arno Orzessek eine Tagung in Frankfurt am Main über die Bürden des Entscheidens. "klüv" berichtet über die Restaurierung von Michelangelos unvollendeter Rondanini-Pieta. Joachim Sartorius stellt ein Gedicht von Christian Saalberg vor. Und auf der Medienseite gratuliert Titus Arnu Donald Duck zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden eine Inszenierung von Michel Houellebeqs "Elementarteilchen" am Schauspiel Zürich, die Uraufführung dramatisierter Teile eines Texts des Publizisten Matthias Greffrath mit dem Titel "Windows oder: Müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?" am Schauspiel Hannover und die Deutschlandpremiere von Hans Werner Henzes Neubearbeitung von Giovanni Paisellos "Il Re Teodoro in Venezia" bei den Schwetzinger Festspielen, außerdem die Ausstellung "Privatisierungen" in den Berliner KunstWerken, die Kunst aus Osteuropa zeigt.

Buchbesprechungen widmen sich den Erinnerungen von Reinhard Baumgart, Mark Dunns Roman "Nollops Vermächtnis", zwei Neuausgaben des lange vergriffenen autobiografischen Berichts "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" von Daniel Paul Schreber, und in der Sektion Das Politische Buch werden Brigitte Seebachers Porträt ihre Mannes Willy Brandt und ein Band über "Kriegslügen" im Kosovokonflikt von Jürgen Elsässer rezensiert. (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

FR, 08.06.2004

"Der Westen stellt sich selbst in Frage" lautet das Fazit, das Rene Aguigah nach Durchsicht aktueller politischer Zeitschriften - von Mittelweg über Merkur und Vorgänge bis Neue Rundschau - zieht. Und er hat noch etwa anderes beobachtet. "In manchen Ecken von Deutschland wird die Sonne mit einem Plakat begrüßt, das eine Reihe schimmernder Frauenhintern zeigt. It's string time!, verheißt die Aufschrift: Jeder dieser Hintern ist bedeckt mit einem bunten Nichts von Stoff. Vielleicht werden die Alltagshistoriker der Zukunft einmal feststellen, dass diese Werbung für knappste, unter tief liegender Jeans sorgsam ausgestellte Unterwäsche in derselben Epoche auftaucht wie die mit so heiligem Ernst geführte Diskussion um jenes andere Stück Stoff, das ganz andere Teile des weiblichen Körpers bedeckt: das 'islamische Kopftuch'."

Weiteres: "Andere sind bloß fit; er aber ist relativ unsterblich", schreibt der Schriftsteller Ulrich Holbein in seiner Würdigung des Romanserienhelden Perry Rhodan (mehr hier), der offenbar irgendein "krummes Jubiläum" feiern kann. Nikolaus Merck informiert über den Stand der Dinge in Sachen Kulturförderung Ost: "Immerhin scheint mittlerweile die Parallelaktion von Abriss und Aufbau weitgehend zum Stillstand gekommen." Sandra Danicke porträtiert den amerikanischen Sänger und "Lo-fi-Kauz" Devendra Banhart, der auf dem besten Weg in den "Songwriter-Wunderwald" sei. Und in Times mager wundert sich Silke Homann nicht nur über die neueste Bademode ("Man trägt aufdringlich geringelte Zweiteiler, etwa Trägerhemdchen zu Bikinihosen, was als Ensemble Tankini heißt und unterm Strich einen bauchfreien Badeanzug ergibt"), sondern auch, wie sie für H&M fotografiert wurde ("Was soll schon sein am Strand von Rio? Sonne, halt"). Zu lesen ist schließlich noch ein Nachruf auf den amerikanischen Jazzsaxofonisten Steve Lacy.

Besprochen wird die Inszenierung von zwei frühe Opern von Dallapiccola an der Oper Frankfurt.

TAZ, 08.06.2004

Ehrlich - hat man bisher je schon mal etwas von den Wien-Film Studios am Rosenhügel in Wien gehört, die zwischen 1945 und 1955 unter sowjetischem Protektorat standen? Nein. Das ändert Olaf Möller, der in seinem Bericht Arbeit und Produktionen dieser aberwitzigen Nachkriegsinstitution vorstellt. Etwa den Film "Seesterne" (1952) von Johannes Alexander Hübler-Kahla, für Möller ein Beweis, dass sich "unter solchen Umständen die Wahrheit allein im Exzess" finden lasse: Der Regisseur "sprengte lässig alle Produktionsvorgaben, das Budget und den Drehplan. So entstand ein Revuefilm, dessen Geschichte propagandistisch zugespitzt ist: Ein Arbeitersynchronschwimmclub zeigt dem fiesen Firmenchef, was die Solidarität des Proletariats auf die Beine stellen kann. Ästhetisch erging sich 'Seesterne' in einem pastellfarbenen Pop-Pastiche. Hübler-Kahlas Film war ein Fiasko bei Presse und Publikum; erst heute lässt er sich im kontemporären Popdiskurs wirklich würdigen." Und wo kann man den sehen?

Als "literarisches Glanzstück" wertet Kolja Mensing das steuertechnische "Story Telling" des Vodafone-Konzerns: "Wenn Vodafone die anvisierten 25 Milliarden Euro Steuerersparnisse als Gegenleistung für ihre Story nicht zugestanden werden, sollte also unbedingt ein Literaturpreis für 'Economic Fiction' ausgelobt werden."

Weiteres: Christiane Kühl stellt zwei Projekte des internationalen Performance-Festivals "In Transit" im Berliner Haus der Kulturen der Welt vor, die sich mit der Erfahrung von Gewalt beschäftigen. Im Interview mit Max Dax erklärt Kim Gordon, Bassistin von Sonic Youth, warum Amerika dringend "Heilung" braucht. Auf der Medienseite informiert Jürgen Gottschlich über die Neugründung der linksliberalen, unabhängigen türkischen Tageszeitung Birgün ("taz auf türkisch"). In tazzwei berichtet Clemens Niegenthal von den Grillweltmeisterschafen in Pirmasens ("ein Ort der Missverständnisse und der offensichtlichen Diskrepanzen"). Und auf der zweiten Meinungsseite doziert Bernhard "der Albert Schweitzer für Kinder" Pötter über Windpocken.

Und hier TOM.

Weitere Medien, 08.06.2004

Da wir uns in den heutigen Feuilletons ein bisschen langweilen, zitieren wir einen Artikel Andre Glucksmanns aus Le Monde vom Wochenende, der zum 60. Jahrestag des D-Days "Danke Amerika" sagt und die amerikanische Demokratie trotz der Fotos von Abu Ghraib "exemplarisch" nennt. Zumindest sei sie "die einzige, die meines Wissens mitten im Krieg die Bilder von Kriegsverbrechen ihrer Soldaten nicht zensiert hat... Ich erinnere daran, dass Frankreich, das so gerne Lektionen erteilt, keinen einzgien seiner Militärs, die im Algerienkrieg folterten, je angeklagt oder verurteilt hat."

In Le Monde findet sich auch ein Aufruf eruopäischer Künstler für ein kulturelles Europa: "Falls das Europa des Konsums und der Produktion das Europa als Zivlisation besiegt, falls das Europa als großer Markt sich an die Stelle des Europas als politisches und kulturelles Projekt setzt, könnte die Weltkrise in einer Konfrontation zwischen den Kräften des Fundamentalismus und jenen des Materialismus kulminieren." Zu den deutschen Unterzeichnern gehören Wolfgang Sawallisch und Peter Ruzicka.

Und wir verweisen auf einen Artikel aus der heutigen New York Times. Julie Salamon porträtiert die iranische, in den USA lebende Autorin Azar Nafisi, die mit ihrem Buch "Reading Lolita in Tehran: A Memoir in Books" (Auszug) über Leben und Literatur im Iran auf den amerikanischen Bestellerlisten landete.

NZZ, 08.06.2004

Sabine B. Vogel würdigt die Kunstsammlerin Francesca Habsburg, Tochter des Barons Hans-Heinrich Thyssen-Bornemisza, die sich mit ihrer Wiener "Stiftung TBA21", was für Thyssen-Bornemisza Art Contemporary steht, um neueste Medienkunst verdient macht. Im Lesezeichen widmet sich Michael Schmitt ausführlich Richard Powers' Roman "Der Klang der Zeit".

Besprochen werden die Ausstellung "10 + 5 = Gott - Die Macht der Zeichen" im Jüdischen Museum in Berlin, eine Ausstellung des Designers Marc Newson im Groninger Museum, das Ausstellungsprojekt "Privatgrün", das "55 künstlerische Eingriffe in den privaten Raum " zeigt, in Köln und neue Bücher von Alice Sebold sowie Prosa von Antonio Fian.

Außerdem wird ein autobiografischer Text Martin Pollaks aus seinem demnächst erscheinenden Buch "Der Tote im Bunker" vorabgedruckt.

FAZ, 08.06.2004

Lorenz Jäger beobachtete Gerhard Schröder in der Normandie. Jürgen Kaube findet es sehr merkwürdig, dass Gesine Schwan nach ihrer Kandidatur für die Bundespräsidentschaft nun fünfzig Millionen Euro für die Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder erhält, die sie zur Stiftungsuniversität machen will. Andreas Platthaus kritisiert in der Leitglosse David Hockney, der sich in einem Leserbrief des Guardian als Raucher bekannte. Camilla Blechen freut sich, dass das Dresdner Albertinum seine restaurierten assyrischen Reliefs nun wieder zeigen kann. Jürgen Schwab schreibt zum Tod des Trompeters, Jazzkellergründers und Verfassers einer Jazz-Harmonielehre Carlo Bohländer.

Joseph Croitoru beschreibt eine palästinensische Sprachpolitik, die unter dem Einfluss des Islamismus alle nicht muslimischen Elemente aus der Geschichte Jerusalems tilgen will. Ulrich Olshausen schreibt zum Tod des Jazzsaxophonisten Steve Lacy.

Auf der Medienseite schreibt Irene Bazinger in der Reihe "Stimmen" eine Hommage auf die Stimme Sophie Rois', die "die unübertrefflich nach wind- und wettergestähltem wie weihrauch-, nikotin- und eventuell enziangehärtetem Reibeisen klingt". Michael Hanfeld berichtet über die Dreharbeiten des deutschen Fernsehfilms "Kein Himmel über Afrika" in Südafrika.

Auf der letzten Seite erzählt die Kunsthistorikerin Nicole Hegener noch einmal die Geschichte der Rivalität zwischen Michaelangelo, dessen David vor genau 500 Jahren in Florenz aufgestellt wurde, und dem heute vergessen Baccio Bandinelli. Leo A. Lensing findet ein historisches Vorbild für die mit ihren Opfern schäkernden Soldaten von Abu Ghraib im Foto von der 1916 vollzogenen Hinrichtung Cesare Battistis, der bis 1914 Trentiner Abgeordneter der Sozialdemokraten in Wien und Direktor der Zeitung Il popolo war. Henning Ritter porträtiert die Malerin und Autorin Anita Albus, die den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik erhält.

Besprochen werden David Cronenbergs neuer Film "Spider", eine Doppelproduktion mit Luigi Dallapiccolas Kurzopern "Der Gefangene" und "Nachtflug" in Frankfurt, Racines "Andromache" in Bochum und zwei Austellungen mit neuer türkischer Kunst in Karlsruhe.