Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2004. In der Welt schimpft der Stardirigent Daniel Harding auf den Starfußballer David Beckham, denn beide kommen aus Manchester. Die SZ betrachtet die Patientenverfügung als literarisches Genre. Die taz philosophiert mit Klaus Theweleit über den Fußball. Die NZZ (und übrigens auch die Welt) begeht den hundertsten Bloomsday. In der FAZ schreibt Hans-Ulrich Treichel über Truman Capote. In der Berliner Zeitung erklärt der Thatcher-Biograf John Campbell den Sinn des Wortes "to handbag".

Welt, 12.06.2004

Es liest sich weniger wie ein Text, eher wie aufgezeichnete Gesprächsäußerungen. Daniel Harding schimpft auf David Beckham: "Ich mochte David Beckham. Er war das öffentliche Gesicht meines Vereins, als er noch eine wirklich idealistische Sache war: Elf Jungs, die sich als Gruppe einander verschrieben hatten, ihrem Trainer und ihrem Klub. Und so wurden sie die berühmteste Mannschaft in der englischen Fußballgeschichte. Damals war alles noch so wahr! Heute ist er das Gesicht für Glamour und Gier. Es steht mir nicht wirklich an, ihn dafür zu kritisieren. Ich habe ein signiertes Foto von ihm mit meiner kleine Tochter Adele, das über ihrem Bett hing. Wir haben es vorerst aus ihrem Zimmer entfernt."

Die Literarische Welt widmet sich dem Bloomsday. Ausgerechnet Dietrich Schwanitz (mehr hier) erklärt, "warum der 'Ulysses' von James Joyce 'Megakult' ist und bleibt": "Mit seinem neuen Mischungsverhältnis zwischen Groteskem, Heiterkeit und Komik wird 'Ulysses' zu einer Pionierleistung in der Exploration und Wahrnehmung des Körpers..." Außerdem liest Hanns-Josef Ortheil einige Taschnenbücher, die aus diesem Anlass herausgegeben wurden.

Im Forum wettert der ehemalige schwedische Prermierminister Per Ahlmark gegen den Pazifismus in Europa: "Wir sind der moralische Kontinent. Man kann das als die 'Schwedisierung' Europas bezeichnen."

NZZ, 12.06.2004

Zwei größere Besprechungen dominieren das Feuilleton. Eva Clausen besucht die Perugino-Ausstellungen in Perugia: "Ein übernatürlicher Glanz liegt über Peruginos Welt, prosaisch erzeugt auch dank der Beimischung zerstampften Glases unter die Pigmente." Und die große Barbara Villiger Heilig vermisst in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens "Baumeister Solness" am Wiener Akademietheater das tragische Ende des Stücks, das vom Regisseur auf Mittelmaß zurückgestutzt wurde - dafür aber, und darin ist sie mit dem großen Gerhard Stadelmaier aus der FAZ einig, ist es eine einzige Freude dem Hauptdarsteller Gert Voss zuzusehen. "Denn dieser Schauspieler bewegt sich nie einfach auf dem Boden der Tatsachen."

Besprochen werden außerdem zwei Kurzopern Luigi Dallapiccolas in Frankfurt und die Ausstellung "Glaube und Macht - Sachsen im Europa der Reformationszeit" im Schloss Hartenfels in Torgau.

Die Beilage Literatur und Kunst widmet dem Bloomsday einen Schwerpunkt, also dem Tag, an dem James Joyces "Ulysses" spielt, dem 16. Juni 1904.

Dieser Tag wird nicht nur in Dublin groß begangen. Fritz Senn liest aus diesem Anlass einige Neuerscheinungen von und zu Joyce. Angela Schader vergleicht den Tageslauf Leopold Blooms mit dem Achmed Abd al-Gawwads, des Familienvaters aus Nagib Machfus' "Kairo-Trilogie". Und Saskia Guntermann und Michael Marek erzählen, wie die Stadt Dublin den hundertsten Bloomsday begeht (hier die offizielle Website).

Weitere Artikel: Kerstin Stremmel schreibt einen ausführlichen Essay über Todesdarstellungen in der zeitgenössischen Kunst. Der Islamwissenschaftler Günther Ort stellt Autoren und Werke der jungen jemenitischen Erzählliteratur vor. Birgit Sonna besucht die Ausstellung "Sculptural Sphere" in der Sammlung Goetz in München. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Calder - Miro" in der Fondation Beyeler und eine Ausstellung über Miros Frühwerk im Centre Pompidou.

SZ, 12.06.2004

Von eher absurder Komik scheint Alexander Kissler der Abschlussbericht (pdf) der vom Bundesjustizministerium eingesetzten Arbeitsgruppe "Patientenautonomie am Lebensende". Deren Vorschlag nämlich lautet, dass ein Jeder doch einen "Gewissensspiegel", eine Art Autobiografie hinterlassen soll, aus der der Arzt dann seine Entscheidungen ableiten darf: "Jedem Bundesbürger wird geraten, sich möglichst früh 'exemplarische Fragen' zu stellen, etwa: 'Wurde ich enttäuscht vom Leben? Würde ich es anders führen, wenn ich nochmals von vorn anfangen könnte? Bin ich zufrieden, so wie es war?' Beim Räsonieren aber soll es nicht bleiben. Die Niederschrift ist gewünscht, wenn auch nicht geboten. Max und Lieselotte Beispiel machen es auf den Seiten 36 bis 41 des Abschlussberichtes vor. Sie sind die Musterpatienten und Vorzeigeliteraten, die natürlich rein fiktiven Helden der Endlichkeit."

Weitere Artikel: Als "Kampfansage an die Wissenschaft" kanzelt Jens Bisky die geplante Uni-Elite-Förderung ab, weil sie nur verschlimmert, was schon schlimm ist: "Die Forderung nach Exzellenz hat einen leer laufenden Betrieb aus Antrag, Begutachtung und Evaluierung hervorgebracht, der inzwischen mehr Zeit der hellen Köpfe verschlingen dürfte, als er Erkenntnisgewinn einbringt." Der Philosoph Herbert Schnädelbach setzt die Debatte um das Christentum und Europa fort: "Wir sind tatsächlich Heiden... Die Bitte um das tägliche Brot richten wir nicht an den Vater im Himmel, sondern an den Sozialstaat." Aus Frankfurt, Florenz und Catania berichtet Dietmar Polaczek von mehreren Inszenierungen von Opern des Komponisten Luigi Dallapicola.

Außerdem: Henning Klüver informiert darüber, dass Berlusconis politisches Ende (mal wieder) naht - Aufbruchsstimmung herrscht dennoch nicht in Italien. Zum Tod von Ray Charles schreibt Karl Bruckmaier. Hin und weg ist C. Bernd Sucher von Thomas Ostermeiers "Baumeister Solness"-Inszenierung bei den Wiener Festwochen. Vorgestellt wird der New Yorker Neubau des "Museum of Modern Art" nach Plänen des Architekten Yushio Taniguchi.

Besprochen werden der dänische Film "Reconstruction", ein noch nicht auf Deutsch erschienenes Buch über den Kaufhausgründer, Bibliophilen und Mäzen Salman Shocken und ein Campusroman von Ha Jin (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Unter dem Titel "Die wo die Ahnung haben" macht die SZ am Wochenende mit der Fußball-EM auf. Genauer gesagt: Mit einer Nationalhymne von Holger Gertz auf das deutsche Team gestern und heute. Zum 75. Geburtstag Anne Franks, 60 Jahre nach ihrem Tod in Bergen-Belsen, ist Willi Winkler in die Lüneburger Heide gefahren, wo vom Konzentrationslager nur noch Spuren dieser Art zu finden sind: "Abgeflachte Grabhügel in einer idyllischen Parklandschaft, keine Namen, nur wieder Hinweis: 'Hier ruhen 5000 Tote / April 1945.'"

Weitere Artikel: Tobias Timm hat - wagemutig - die "gefährlichen Orte" Berlins aufgesucht. Schwärmerisch schreibt Oliver Fuchs über die Frauen im französischen Kino. In Gernot Wolframs vorabgedruckter Erzählung "Ehrenvolle Behandlung" geht es um Fußball, den Großvater, den Fall der Mauer und manches andere. Im Gespräch mit dem Designer Paul Smith geht es um Bescheidenheit, grüne Hütchen, Tee und manches andere.

TAZ, 12.06.2004

Die neue Mitte von der tazzwei macht sich Gedanken über das ungelegte Ei Schwarz-Grün. Grüner Größenwahn bei Jan Feddersen: "Das wird das grüne Zivilisationsprojekt: Die Union in die Kommunikation zwingen, auf dass diese keine Front mehr macht gegen das Projekt der liberalen Moderne." Pragmatismus bei Peter Unfried: "Die Realität ist: Schwarz-Grün ist immerhin noch nicht gescheitert. Wenn Schwarz-Grün demnächst kommt, wird es sich um eine pragmatische Entscheidung einer pragmatischen Wählerschaft handeln. Die orientiert sich weniger an ihrer gefühlten kulturellen Identität und mehr an ihren real existierenden Lebensumständen. Exekutiert wird das dann von pragmatischen Machtpolitikern."

Im Kulturteil: Tilman Baumgärtel stellt das neue Brooklyn Museum vor und auch das neue Brooklyn, das in der Eröffnungsausstellung vorgestellt wird. Christiane Kühl hat sich mit den Kuratoren der Biennale Bonn, Klaus Weise und Steffen Kopetzky, über ihr neues Konzept unterhalten: Bonn goes New York. Aus Brasilien informiert Gerhard Dilger über die radikalen Gedanken des Popstars und Kulturministers Gilberto Gil zu Copyright und Open Source. Über die braune E-Mail-Flut, die vorgestern über das Internet hereinbrach, berichtet Oliver Trenkamp. Henning Kober, der per Interrail in Europa unterwegs ist, schreibt heute aus Belgrad.

Das tazmag ist, wie könnte es anders sein, von Kopf bis Fuß auf Fußball eingestellt. Peter Unfried spricht mit dem Autor Klaus Theweleit über flache Hierarchien, das Modell Real Madrid, das Modell Werder Bremen und das Vakuum, das dort entstanden ist, wo einst Utopien waren: "Fußball ist eine der Sachen - vor oder neben der Musik -, die in dieses Vakuum stoßen. Die Musik ist das Vorbild. Lange wurde viel verhandelt über die Hits, die man hört, die Bands, die man mag, wer wo wie zusammenarbeitet und was erfindet. Das hat auch eine Grenze gefunden durch eine Spezialisierung, bei der Kleinigkeiten unterschieden werden, die nur wenige wahrnehmen. Beim Fußball nimmt man alles wahr. Das ist einfach. Die großen gesellschaftlichen Reden brauchen einen einfachen Darstellungsbackground."

Außerdem: Matti Lieske beurteilt deutsche EM-Aussichten, weiß aber auch nicht so genau. Jörg Magenau schlägt die Flanke zur Fußballliteratur.

Und Tom.

FR, 12.06.2004

Der israelische Soziologe Natan Sznaider warnt die Linke seines Landes nachdrücklich vor dem Beharren auf Maximalforderungen und lobt Scharons Verantwortungsethik: "Der wahre liberale Heroismus besteht aber darin, nicht das zu tun, was man tun will - weil man versteht, dass das Leben gemäß der wahren Werte, an die man glaubt, nur alles schlimmer machen wird. Genau das ist es, was Scharon nun versucht. Dabei spielt es keine Rolle, ob er wirklich daran glaubt, dass Siedlungen geräumt werden sollen (wahrscheinlich tut er es nicht). Doch das ist nicht der Punkt. Worum es geht, ist, dass Scharon versucht, verantwortungsvoll zu handeln. Mehr ist in der Politik nicht zu erwarten. Alles andere folgt nur der Maxime: 'Es herrsche Gerechtigkeit, möge auch die Welt darüber zu Grunde gehen.'"

Weitere Artikel: Christoph Schröder informiert über die Pläne des Wallstein-Verlags, mit dem neuen, von Suhrkamp gewechselten Lektor Thorsten Ahrend und dem Autor Andreas Maier als Aushängeschild ein literarisches Programm auf die Füße zu stellen. Hans-Jürgen Linke schreibt zum Tod von Ray Charles. Nachdrücklich empfiehlt Thomas Medicus den Besuch des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst ("einer der wichtigsten deutschen Gedächtnisorte"), wo gerade eine Ausstellung zum Ende der Leningrader Blockade vor sechzig Jahren zu sehen ist. Außerdem hat sich Medicus eine Berliner Diskussion über die Intellektuellen in den Achtzigern angehört. Die Amsterdamer Uraufführung einer Oper von Luca Francesconi über den Renaissance-Komponisten Carlo Gesualdo hat Guido Fischer besucht. Handwerklich perfekt, aber doch ein wenig enttäuschend findet Stephan Hilpold Thomas Ostermeiers Wiener "Baumeister Solness"-Inszenierung. Christian Schlüter schreibt einen kurzen Nachruf auf den Politologen Martin Greiffenhagen. Renee Zucker erinnert sich an Reagan, der jetzt betrauert werde, "als sei er ein wichtiger Staatsmann gewesen".

Berliner Zeitung, 12.06.2004

Martin Beglinger und Peer Teuwsen unterhalten sich mit dem Historiker John Campbell der eine 1.400-seitige Biografie über Margaret Thatcher gechrieben hat und bei aller Bewunderung auch Distanz zu halten weiß: "Sie hatte einen unglaublichen Instinkt für die Macht. Leute, die Macht hatten, behandelte sie sehr respektvoll. Die Ohnmächtigen hat sie verbal niedergeknüppelt, da war sie gnadenlos. Sie war sehr gut in Verhandlungen unter vier Augen. Und sie verstand es, ihr Geschlecht einzusetzen. Sie verwirrte viele Männer, weil sie in einer Minute sehr zuvorkommend, von entwaffnender Freundlichkeit, ja fast mütterlich sein konnte, in der nächsten Minute aber machte sie diese Männer nieder. Sie hat ein Wort in die englische Sprache eingeführt: 'to handbag', jemanden verbal niederknüppeln. Sie stritt immer, um zu gewinnen - nie, um Einsichten zu gewinnen. Damit kamen vor allem die älteren Männer nicht zurecht, weil sie es nicht gewohnt waren, mit Frauen zu streiten. Das waren Gentlemen."

FAZ, 12.06.2004

Michael Jeismann beklagt, dass Europa-Abgeordnete keinen Eid schwören müssen: "In dieser Unsichtbarkeit des Verpflichtenden ist das Demokratiedefizit der Europäischen Union wohl am deutlichsten zu fassen."

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier ist nicht zufrieden damit, dass Regisseur Thomas Ostermeier den Baumeister Solness in seiner Inszenierung des Stücks am Wiener Akademietheater nicht sterben lässt. Christian Schwägerl begrüßt in der Leitglosse die von Bundesjustizministerin Zypries gewollte Möglichkeit, sich in Patientenverfügungen individuell zur Möglichkeit der passiven Sterbehilfe verhalten zu können. Edo Reents gedenkt Ray Charles' als "nicht nur der einflussreichsten, sondern auch der geachtetsten und bis zuletzt würdigsten Erscheinung, welche die Popmusik in ihrer fünfzigjährigen Geschichte hervorgebracht hat". Gemeldet wird, dass Jürgen Habermas den mit 400.000 Euro dotierten Kyoto-Preis erhalten wird. Dirk Schümer berichtet über die Eröffnung eines neuen Musikmuseums in Bologna, das auf der Sammlung des Musiktheoretikers aus dem 18. Jahrhundert Giambattista Martini beruht. Jürg Altwegg liest französische Zeitschriften, die sich mit der allerneuesten deutsch-französischen fraternite befassen. Gemeldet wird schließlich, dass Grimms Märchen in das Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenommen werden sollen.

In der ehemaligen Tiefdruckbeilage schrebit Hans-Ulrich Treichel (mehr hier) einen sehr schönen und traurigen Text über den Versuch, ein Nachwort zu einer Neuausgabe von Truman Capotes Erzählung "Das Geheimnis" zu schreiben. Und Bernhard Schnackenburg betrachtet ein bisher fälschliche einem anderen Maler zugeschriebenes Gemälde Rembrandts, ein Selbsporträt als Student, das zur Zeit in Lille gezeigt wird.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite hört sich Eleonore Büning einige wieder aufgelegte Einspielungen des Liedersängers Gerard Souzay an, und sie verweist auf eine Internetadresse, wo sich Souzay über das Wesen seines Gesangs äußert ("I'm natural"). Außerdem geht's um die Band "Eagles of Death Metal" und um eine 10-CD-Box, die sich der französischen Gesangskunst widmet.

Auf der Medienseite denkt Michael Lissek in der Reihe "Stimmen" über Berti Vogts' " von seltsamen Pausen und überraschenden Sforzandi rhythmisierte Sprechweise" nach.

Auf der Literaturseite werden die frühen Tagebücher des Grafen Kessler, Karoly Paps Roman "Azarel", ein Klassiker der ungarisch-jüdischen Literatur, und Tim Krabbes Roman "Das goldene Ei" besprochen.

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung früher Gemälde von Agnes Martin in Beacon, Pepe Danquarts Dokumentarfilm über die Tour de France "Höllentour" und Jan Fabres Inszenierung des "Tannhäusers" in Brüssel.

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans Joachim Kreutzer das Gedicht "Therese" von Gottfried Keller vor:

Du milchjunger Knabe,
Wie schaust du mich an?
Was haben deine Augen
Für eine Frage getan! (...)