Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2004. Die Proteste gegen Hartz IV beschäftigen jetzt auch die Feuilletons. In FR und Welt äußern sich unter anderen Wolfgang Sofsky, Peter Fuchs und Michael Rutschky. Die NZZ plädiert für eine Rechtschreibreform des Englischen. Die taz meldet in Rechtschreibedingen westösterreichische Autonomiebestrebungen. Die FAZ berichtet über die Premiere von Lutz Hachmeisters Film über Goebbels.

TAZ, 25.08.2004

In Österreich verebben die Proteste gegen die Rechtschreibreform schon wieder, berichtet Ralf Leonhard. "Das Manifest einiger LiteratInnen, angeführt von Marlene Streeruwitz, Peter Henisch und Robert Schindel, das eine eigene österreichische Rechtschreibung fordert, stieß indessen nicht nur bei einigen Kollegen, sondern vor allem in Westösterreich auf Unverständnis. So empörte sich ein Leserbriefschreiber aus Rum in Tirol über die postulierten Weihen für Powidl, Marillen und Schlagobers: 'Obers ist nicht österreichisch, sondern rein wienerisch, österreichisch ist Schlag bzw. Schlagrahm.'"

Weitere Artikel: Arno Orzessek berichtet von einer Tagung über Immanuel Kant auf Schloss Elmau, und Anke Leweke hat sich mit dem Schauspieler Richy Müller unterhalten, der die Hauptrolle in Michael Kliers neuem Film "Farland" spielt.

Schließlich Tom.

Welt, 25.08.2004

Heute zweimal Hartz IV. Im Kulturteil will der Soziologe Wolfgang Sofsky nichts beschönigen: "Keiner wagt offen zu sagen, was der Fall ist: dass der deutsche Wohlfahrtsstaat vor dem Ende steht und künftig jeder selbst sehen muss, wo er bleibt." Dabei räumt er den Demonstranten nur wenig Hoffnung ein: "Die Macht der aktuellen Demonstrationen ist begrenzt. Die Protestgänger können nicht streiken und die Arbeit verweigern, denn sie haben keine. Sie können keine Betriebe besetzen, denn die Fabriken sind längst geschlossen. Nur Parteizentralen, Rathäuser oder Arbeitsämter könnten sie demolieren. Der Schaden wäre überschaubar."

Auf den Forumsseiten vergleicht Alexander Wendt die Montagsdemonstrationen von 1989 und heute. "Damals brachten die Menschen ganz im Marxschen Sinne die - realsozialistischen - Verhältnisse zum Tanzen. Ihre Wiedergänger von 2004 sind von dem Wunsch getrieben, ins Rutschen gekommene Lebensbedingungen noch einmal zu betonieren."

FR, 25.08.2004

Zwei Kommentare zu den Montagsdemonstrationen: Michael Rutschky, sich an die Demos 1968 erinnernd, schwant schon, dass "die messianischen Erwartungen" der Demonstranten nicht erfüllt werden können. Der Systemtheoretiker Peter Fuchs findet die Proteste zukunftslastig, denn "anders als in längst vergangenen Tagen werden die Entscheidungen, die die Aktualität betreffen, nicht mehr bestimmt durch das, was immer schon so entschieden wurde, sondern durch Ausblick auf zukünftig mögliche, aber unbekannte Ereignisse - durch das, was geschehen könnte, nicht durch das, was schon geschehen ist."

Weitere Artikel: Konkurrenz für Salzburg? Das Baltic Sea Festival in Stockholm, das die Dirigenten Esa-Pekka Salonen und Valeriy Gergiev organisieren, hat das Zeug dazu, meint Kirsten Liese. In New York planen zahllose Aktivistengruppen mit Unterstützung aus Kunst, Pop, Film und Design Gegenaktionen zum Parteitag der Republikaner, berichtet Sebastian Moll. Bettina Schuler erklärt in Times Mager, warum sie lieber Bier am Kiosk kauft, statt in einen Club zu gehen.

Besprochen werden eine CD von Mouse on Mars "Radical Connector", Jazz-CDs und Bücher, darunter Teil zwei der Roman-Tetralogie "Die Kinder des Sisyfos" von Erasmus Schöfer und neue Gedichte von Jan Wagner (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 25.08.2004

Georges Waser stellt in der Orthografie-Serie der NZZ die englische Rechtschreibung vor, die er für dringend reformbedürftig hält. Sie zählt zu den "unregelmäßigsten" Schreibungen der Welt, die Diskrepanz zwischen Aussprache und Schrift ist sehr hoch. Dennoch findet Waser die Reformvorschläge reichlich schauerlich; so versichert die Simplified Spelling Society auf ihrer Seite: "Uther cuntrys hav updated the spelling of thair languajes; so can we!" ("mor info" hier).

Aldo Keel informiert über den Diebstahl der Munch-Gemälde in Oslo. Unter anderem hat er erfahren, dass die Bilder aus Kostengründen nicht versichert waren: "'Was soll ich mit Geld', stöhnt der Direktor. 'Ich will die Bilder zurückhaben.' Aber auch er kann nicht erklären, weshalb die Alarmglocke nicht schrillte, als die dreisten Diebe Munchs 'Schrei' und 'Madonna', zwei Ikonen der frühen europäischen Moderne, abtransportierten." Joachim Güntner war bei einer Montagsdemo in Magdeburg, die ja "nicht einmal in den für Sozialromantik empfänglichen Feuilletons" Fürsprecher finden. In der Befindlichkeit der Demonstranten entdeckt er "die verheerende psychologische Seite der Aufbauhilfe Ost".

Besprochen werden ansonsten ein Konzert des Lucerne Festival Orchestra unter Leitung von Claudio Abbado sowie Bücher, darunter der Roman "Buch eines einsamen Menschen" von Gao Xingjian und eine Studie über den Reformator Heinrich Bullinger (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 25.08.2004

Volker Hassemer, Peter Raue, Nele Hertling, Jürgen Schitthelm haben eine Antwort auf das Thesenpapier Thomas Flierls formuliert, eine "geduckte Haltung" werfen sie dem Berliner Kultursenator vor: "Augenmaß ist gut. Halbherzigkeit aber verursacht Mutlosigkeit, Kraftlosigkeit, ja Lethargie."
Stichwörter: Raue, Peter

SZ, 25.08.2004

Thomas Steinfeld resümiert eine Debatte unter amerikanischen Musikkritikern zur Zukunft der Klassik; "The Next Big Thing" wurde zwar nicht gefunden, aber wenigstens herrschte Einigkeit: "Durch die Aufhebung des Zwangs zum ästhetischen Fortschritt, so der Konsens der amerikanischen Kritiker, entstehe eine neue Freiheit." (Hier lässt sich die ganze Diskussion übrigens nachlesen.) Restauration ist nicht Avantgarde, meint Julia Encke zum Thema Nouvelle Chanson" und hält es - trotz und in Bezug auf Benjamin Biolay - mit Charles Aznavour: "Das ewige Gerede vom 'Nouvelle Chanson Francaise' ist doch Quatsch." Fritz Göttler hat sich Bernd Eichinger schon mal auf den "Untergang" einstimmen lassen. Johannes Willms erinnert an die Befreiung von Paris vor sechzig Jahren. Henning Klüver meldet, dass die italienischen Museen vor drastischen Kürzungen stehen.

Besprochen werden Jacques Rivettes neuer Film "Geschichte von Marie und Julien" (mit einem erdenschweren Jerzy Radziwilowicz, wie ihn das französische Kino selten gesehen hat), das neue Album von Mouse on Mars, eine Ausstellung der Schweizer Künstler Peter Fischli und David Weiss in der Hannoverschen Kestnergesellschaft, und Bücher, darunter Karl Otto Hondrichs "Liebe in den Zeiten der Weltgesellschaft", Eric Rohmers früher Roman "Elisabeth" (Leseprobe) und Zsuzsanna Gahses "durch und durch. Mühlheim/Thur in drei Kapiteln" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 25.08.2004

Lutz Hachmeister (mehr hier) hat einen Film über Goebbels gedreht, der ausschließlich mit Dokumentaraufnahmen und mit Zitaten aus Goebbels' Tagebüchern auskommt. Nils Minkmar gehörte zu den geladenen Gästen der Premiere des "Goebbels-Experiments", die aus atmosphärischen Gründen in Goebbels' damaliger Villa am Bogensee bei Berlin abgehalten wurde: "Noch vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, einen Film ausschließlich mit Goebbels-Zitaten zu produzieren und ohne die berühmten Bilder von den Leichenbergen von Bergen-Belsen und von der Befreiung von Auschwitz zu zeigen. Heute sind diese Bilder tief im Bewusstsein des Publikums verankert, und der Film kann sich das zunutze machen. Man sieht, wie Goebbels im Februar 1933 im Sportpalast steht, die Arme in die Seite gestemmt, und mit dem Finger wackelt und lächelt und sagt: 'Einmal wird unsere Geduld zu Ende sein, und dann wird den Juden das freche Lügenmaul gestopft werden.' Den Horror, mit dem man dieses Lächeln sieht, kann kaum ein anderes Bild erzeugen."

Weitere Artikel: In der Leitglosse berichtet Paul Ingendaay über spanische Debatten um ein Foto aus der Vogue, das die amtierenden Ministerinnen der Regierung in Kleidern heimischer Designer zeigt. Jürg Altwegg meldet, dass der ehemalige Terrorist und Mörder Cesare Battisti vor einer möglichen Auslieferung durch die französischen Behörden, die ihn nach einem Ukas Francois Mitterrands bis vor kurzem noch schützten, untergetaucht ist. Jörg Albrecht berichtet von einem hoffnungsvollen ersten Treffen des neuen europäischen Wissenschaftsverbands Euroscience in Stockholm - das Euroscience Open Forum möchte einmal so einflussreich werden wie die Versammlungen der American Association for the Advancement of Sciences. Heinz Berggruen erklärt Erich Kästners ersten Gedichtband "Herz auf Taille" zu seinem Lieblingsbuch. Robert von Lucius berichtet von der Eröffnung des neuen, von Henning Larsen entworfenen Opernhauses von Kopenhagen. Dirk Schümer stellt ein virtuelles italienisches Museum der Badekultur vor. Der Soziologe Dieter Haselbach beginnt ein ganzseitiges Resümee der Kopftuchdebatte mit einer erstaunlichen Einsicht: "In der Kopftuchdebatte gibt es zwei Lager."

Auf der Medienseite berichtet Christian Deutschmann über die geplante Programmreform beim Deutschlandradio Kultur. Bernd Steinle stellt die Zeitschrift AlaskaMen vor, in der sich einsame Raubeine dem weiblichen Geschlecht empfehlen. Empfohlen wird die Dokumentation "Anna Lindh und ihr Mörder" über den Mord an der schwedischen Ministerin, die heute Abend auf Arte läuft.

Auf der letzten Seite berichtet Andreas Platthaus über Konzerte des Gewandhausorchesters im Kulturprogramm der Olympischen Spiele. Patrick Bahners resümiert die amerikanische Rechtsprechung über das Problem widerrechtlich mitgeschnittener und dann veröffentlichter Telefongespräche. Und Dirk Schümer besucht eine Renzo-Piano-Retrospektive in Genua.

Besprechungen gelten Jacques Rivettes neuem Film "Geschichte von Marie und Julien" und einer Ausstellung des Fotografen Heinrich Riebesehls in Hannover.