Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2004. Die SZ zeichnet ein scharfes Soziogramm des dröhnenden Protestfunktionärs. Die FR fragt sich, warum die Republikaner nach New York gehen. Der FAZ schmeckt Bitterfeld auch unter der Sonne nicht süßer. Die taz legt Wert auf CD-Covers.

SZ, 27.08.2004

Nicht mal für zahlende Abonnenten ist die SZ heute zugänglich. Schade, denn heute ist sie randvoll!

"Der dröhnende Protestfunktionär zwischen Leipzig und Rostock ist um die fünfzig, durchaus agil, nämlich noch in der DDR-Elite herangebildet, dabei aber glaubwürdig regimefremd geblieben (was heutige PDS-Mitarbeit keineswegs ausschließt)", analysiert Gustav Seibt in einem recht scharfen Soziogramm die Vorhut der Hartz-Demonstrationen. Deren Verhältnis zur Freiheit sei bis heute "relativ geblieben, nämlich instrumentell, nicht prinzipiell: orientiert am persönlichen Wohlergehen". "Als wichtigste Aufgabe des Staates gilt hier die regelmäßige Auszahlung jener Gelder, die er vorher nach Möglichkeit von den 'Reichen' eingezogen hat - für höhere, auch moralisch hochwertige Zwecke wie staatliche Fürsorge, avantgardistische Kunst, Stadtteilfeste und allerlei emanzipatorischen Halligalli. Der Dauerton des Gejaules, der über der Stadt Berlin liegt, und der fast ausschließlich aus den Ämtern zu vernehmen ist, wird von dieser wohlbestallten Kohorte gutausgebildeter, im Flor ihrer fünfzig Jahre stehenden Funktionäre (zu denen sich die saturierten Bundesrepublikflüchtlinge des späten Westberlin gesellen) ausgestoßen."

Die gewohnte "Mischung zum Verrückwerden" hat ein beglückter Tobias Kniebe auf der neuen Björk-CD "Medulla" erlebt: "Gegen Natur-Björk kämpft allerdings, man muss sich das einigermaßen dramatisch vorstellen, Techno-Björk." Wie Susan Vahabzadeh berichtet, haben Biologen, Neurologen und andere Naturkundler für den Guardian die überzeugendsten Science-Fiction-Filme gewählt: Auf Platz Eins: "Blade Runner", gefolgt von "2001", "Star Wars", "Alien" und Andrej Tarkowskijs "Solaris".

Weiteres: Volker Breidecker schildert das prekäre Verlangen der Esten nach Helden und Denkmälern ihrer Unabhängigkeit: Immer häufiger sollen inzwischen estnische SS-Legionäre als Kämpfer für die Selbständigkeit herhalten. Joachim Kaiser resümiert den zum letzten Mal in Bayreuth aufgeführten "Ring" von Jürgen Flimm und Adam Fischer: "Es war streckenweise immerhin seriös und interessant", die "Walküre" aber war herzbewegend. Alexander Kissler berichtet, dass in der Schweiz nun auch psychisch Kranken Sterbehilfe geleistet werden soll. "G.K." berichtet über britische Forscher, die herausgefunden haben wollen, dass Jan van Eyck zumindest den Kronleuchter in seinem Arnolfini-Porträt per Augenschein gemalt hat - und nicht, wie David Hockney glaubt, mittels eines Kamera-ähnlichen Apparats.

Hans Jürgen Jakobs verfolgt auf der Medienseite den Kampf zwischen der Familie Augstein, Gruner und Jahr und der Spiegel KG um Einfluss und Anteile am Spiegel-Verlag.

Besprochen werden Eric Bress' Film "The Butterfly Effect" und Bücher, darunter "Die K-Gedichte" von Robert Gernhardt (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 27.08.2004

Warum halten die Republikaner ihren Parteitag ausgerechnet in New York ab? Weil dort seit dem 11. September eine symbolpolitische Leerstelle zu besetzen ist, meint Helmut Müller-Sievers. Nach den Anschlägen sei New York von allen verlassen worden, ausgenommen seinen treusten Bewohnern. "Mit diesen wenigen Ausnahmen verstand man von rechts den Angriff auf die Türme militärisch als einen Territorialangriff und von links ideologiekritisch als eine Metapher für ein eigentliches Anliegen, das unsere Interpretation freilegen muss, die Klage um den kulturellen Imperialismus etwa oder gar das Palästinenserproblem. Den treuen Bewohnern aber galt der Angriff zu allererst der Stadt und all dem, wofür sie steht". Die Bewohner New Yorks - die echten wie die gefühlten - hätten "überall auf der Welt ihrer Stadt beistehen müssen; sie hätten bekennen müssen, dass sie zu dem Chaos, zu dem Glitzern stehen, dass Musik bis drei Uhr morgens, Frauen in kürzesten Röcken, selbst Drogen, Verschwendung und Elefantendung auf Bildern ihnen unverzichtbar sind. Niemand hat dieses Bekenntnis abgelegt."

Weitere Artikel: Die Stadtplanerin Maria Lucia Peterson erklärt im Interview, warum Rio de Janeiro auf die Favelas angewiesen ist. Martina Meister beschreibt die Entwürfe für eine Neugestaltung des Pariser Forum Les Halles. In Times Mager wundert sich Gunnar Luetzow über Blairs Anti-Social Behaviour Order, die schlechtes Benehmen im Wiederholungsfalle mit Knast ahndet. Gemeldet wird die Preisfrage, die die Junge Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften jedes Jahr stellt. Sie lautet: "Welche Sprache spricht Europa?" Mehr Informationen hier.

Besprochen werden die Ausstellung "Aufruhr der Gefühle - Leidenschaften in der zeitgenössischen Fotografie und Videokunst" im Braunschweiger Museum für Fotografie und eine CD von Moondog: "The German Years. 1977-1999".

FAZ, 27.08.2004

Regina Mönch besucht Bitterfeld. Der von Monika Maron in "Flugasche" beschriebene Ascheregen der chemischen Industrie wird von niemandem vermisst. Die spärlich verbliebene Bevölkerung leidet dennoch weiter: "Die dreckigste Region Europas, die darüber so unglücklich war und sich nicht selten verraten und vergessen fühlte, ist ohne den Dreck nicht viel glücklicher geworden. Das Leidensbewusstsein scheint die hartnäckigste Tradition zu sein; wie eine frühe Prägung, der man, um ihre traumatische Kraft zu brechen, starke Impulse entgegensetzen müsste. Die Sauberkeit und der blaue Himmel über Bitterfeld vermögen es jedenfalls nicht."

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings mokiert sich in der Leitglosse über die Flut von Promi-Biografien (jetzt über Gottschalk), mit der die Verlage ihren kulturellen Auftrag erfüllen. Gemeldet wird, dass sich Loriot in der Bild-Zeitung für eine Rückkehr zur ehemaligen Rechtschreibung ausspricht. Jordan Mejias schildert die Medienschlacht um die Vietnam-Vergangenheit John Kerrys, dessen Heldentum von den Republikanern aus durchsichtigen Motiven in Zweifel gezogen wird (siehe zu diesem Thema auch unseren Link des Tages mit vielen Links zu Wahlkampf-Sites). Walter Hinck ernennt Heinrich Heines "Romanzero" zu seinem Lieblingsbuch. Christian Geyer schreibt zum Tod der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross. Joseph Croitoru stellt das "Olga-Document" vor, in dem sich die intellektuelle Linke Israels für eine Koexistenz mit den Palästinensern ausspricht. Dieter Bartetzko gratuliert der Volksschauspielerin Heidi Kabel zum Neunzigsten.

Auf der Medienseite besucht Gisa Funck das neue Nachrichtenstudio von RTL, in dem mittels aufwendiger Computeranimationen Infotainment betrieben wird. Hans-Dieter Seidel empfiehlt den Fernsehfilm "Sterne leuchten auch am Tag" mit Veronica Ferres, der heute auf Arte läuft. Und Esther Kilchmann stellt eine Sendereihe und eine Ausstellung des Deutschlandradios über das Radio und die Stadt vor.

Auf der letzten Seite schildert Ramona Lenz das Elend von Frauenhandel und Prostitution im griechischen Teil Zyperns. Oliver Tolmein freut sich, dass auch Transsexuelle, sofern sie die nötigen medizinischen Zertifikate zur Vorlage bringen, an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfen. Und Jürg Altwegg porträtiert den in Frankreich bei Globalisierungskritikern sehr beliebten islamischen Intellektuellen Tariq Ramadan, dem von den amerikanischen Behörden der Antritt einer Professur in Chicago verwehrt wurde.

Besprechungen gelten einer Ausstellung über "Sport und Spiele in der Antike" in München, einem Konzert der Gruppe Velvet Revolver, in der sich der Guns'n'Roses-Gitarrist Slash seinen Lebensabend verdient, der thailändische Film "My Girl" und einige Neuerscheinungen aus der akademischen Welt.

TAZ, 27.08.2004

Ist das Platten- oder CD-Cover tot? Im Gegenteil, meint Andreas Hartmann, das Cover "erlebt eine ungeahnte Renaissance". Bildbände würdigen die Gestalter und Galerien entdecken sie als Künstler. Die Industrie, die künftig Billig-CDs ohne Cover anbieten will, irrt. Sie übersieht, "dass viele zwar raubkopieren, aber dennoch großen Wert auf die Cover legen. In Brennstuben bekommt man farbige Coverkopien gleich dazu, der Schwarzmarkt bietet ausschließlich CDs mit originalgetreuen Covern an, man zieht sich die Cover aus dem Internet oder klaut sie sich einfach im Plattenladen zusammen."

Weitere Artikel: Rudolf Walther bereitet uns auf die neue Auflage des Duden vor, die morgen erscheint. Thomas Winkler widmet "Zwischen den Rillen" CDs von Moses Pelham und Sammy Deluxe.

Auf der Meinungsseite erklärt Hans-Jürgen Krupp, Professor für Wirtschafts- und Sozialpolitik, warum Ökonomen die Theorie lieben und nur selten empirisch überprüfen, ob ihre These in der Praxis taugen.

Schließlich Tom.

NZZ, 27.08.2004

Auf der Filmseite macht sich der Filmemacher Frederic Gonseth Gedanken über die Subventionierung des Schweizer Filmschaffens. Einerseits sei der Schweizer Film dank seines verschwindend geringen Marktanteils subventionsabhängig, andererseits sei dieses Klima der Abhängigkeit "alles andere als gemütlich" für die Filmemacher. Gonseths Vorschlag: "Die Produktionsbeihilfen müssen in Vorschüsse umgewandelt werden, rückzahlbar ab einer bestimmten Höhe der Kinoeinnahmen. Eine solche Maßnahme allein wird die wirtschaftliche Landschaft des Schweizer Films noch nicht verändern, aber sie würde einen Schritt in die richtige Richtung bezeichnen: Die Subvention, als Herzstück der Beziehung zwischen Steuerzahlern und Filmschaffenden, muss diese Popularität vermehrt mit dem Kinobillett teilen - dem Herzstück der Beziehung zwischen Publikum und Filmschaffenden!"

Besprechungen: Eine "überzeugende Coming-of-Age-Story" ist John Marstons "Maria Full of Grace" für Marli Feldvoss. Till Brockmann hat "Mr. and Mrs. Iyer" der Inderin Aparna Sen gesehen und nennt es ein "leidenschaftliches Plädoyer für die Verständigung innerhalb Indiens". Und Alexandra Stäheli widmet Romuald Karmakars "Die Nacht singt ihre Lieder" mit Erinnerung an die Berlinale.

Im Feuilleton porträtiert Marc Zitzmann in der Reihe über das kulturelle Leben Frankreichs die französische Sängerin Brigitte Fontaine. Frank Wittmann berichtet über die mitunter desolate Hochschullandschaft Westafrikas. Andrea Köhler stellt die Initiative "Vote for Change" vor, mit der amerikanische Rockstars wie Bruce Springsteen auf Tour gegen George Bush gehen.

Besprochen werden die neunte Triennale für Kleinplastik in Fellbach, das Kunstfest "pelerinages" in Weimar sowie eine Ausstellung mit Werken des Kunstfälschers Icilio Federico Joni in Siena.

Auf den Seiten Medien und Informatik klagt Stephan Russ-Mohl über Kürzungen bei der Journalistikausbildung in Deutschland: "Während in vielen Medienunternehmen und in mehreren privaten Schulen Ausbildungsplätze und auch die Volontärsgehälter beziehungsweise Ausbildungsbeihilfen drastisch gekürzt wurden, haben sich für Studierende die Chancen für einen Einstieg in Medienberufe und an einigen Hochschulen auch die Studienbedingungen dramatisch verschlechtert."

Welt, 27.08.2004

In den Forumseiten weist der Historiker Rudolf von Thadden die Forderungen der Vertriebenenverbände ab: "Es gibt Grenzen der Restauration. Kriege und Revolutionen lassen sich nicht wie Hagelschäden in der Landwirtschaft abrechnen, so wie auch das Weltgericht kein Amtsgericht ist." Er fordert deshalb: "Ohne eindeutigen Verzicht auf wie auch immer hergeleitete Besitzansprüche wird es keine gedeihliche Zukunft für die deutsch-polnischen und auch deutsch-tschechischen Beziehungen geben. Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen."