Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2004. Finger weg von unserer Langeweile, ruft Wilhelm Genazino in der SZ. Die FR hat in Berlin und Hamburg Leichenschänderei und Wiederauferstehung des Faust erlebt. Die FAZ wünscht sich einen Tisch auf der Bühne des deutschen Gegenwartstheaters. Die NZZ verteidigt die Voll-Universität. In der taz betrachtet Paolo Flores Darcais das extrademokratische Phänomen Berlusconi.

TAZ, 25.10.2004

Christian Semler freut sich, wie es auf einer Weimarer Tagung zur Vergangenheitsbewältigung in Osteuropa "zu hitzigen, dem Gegenstand angemessenen, zum Teil gänzlich unakademisch ablaufenden Diskussionen" zwischen deutschen Geschichtsstudenten und osteuropäischen Museumsmachern kam. Die Studenten - aus Jena - hatten Museen in Osteuropa besucht und gaben in Kurzreferaten ein Urteil ab: "Den Zorn vieler Teilnehmer erregten die von der Studi-Crew mit allgemein verbindlichem Anspruch vorgebrachte Forderung nach selbstreflexivem Umgang auch mit dem eingegrenzten Thema des Terrors. Die Studenten bemängelten, dass vor allem die jeweilige Nation als homogenes Subjekt vorgestellt und so zum Opfer stilisiert werde. Kollaboration, ja sogar eigene Initiativen aus der Bevölkerung bei Terrorakten, zum Beispiel bei der Verfolgung der Juden im Zweiten Weltkrieg, würden ausgeblendet."

Weitere Artikel: Georg Patzer wandelt in Baden-Baden beglückt durch die Sammlung Frieder Burda, untergebracht in einem Bau von Richard Meier und komplett bezahlt vom Mäzen und Sammler. Eine einsame Besprechung widmet sich Stanislaw Lems "Solaris" in Dresden, inszeniert von der Theatergruppe norton.commander.productions.

Auf der Meinungsseite lässt Robert Misik Paolo Flores Darcais, Herausgeber der linksliberalen Debattenzeitschrift MicroMega und Protagonist der Anti-Berlusconi-Bewegung Girotondi sagen, was er vom italienischen Phänomen des Cavaliere hält. "Oberflächlich betrachtet hat er etwas speziell Italienisches, natürlich. Es gab auch andere radikale Konservative in Europa, die keine Gefahr für die Demokratie waren - nehmen wir nur Margaret Thatcher als Beispiel. Frankreichs Gaullisten sind gewiss nicht moderat, aber sie sind eine entschieden antifaschistische Kraft. Berlusconi ist ein Populist, vergleichbar mit den Peronisten, er ist gewissermaßen extra-demokratisch."

"Habseligkeiten" ist das schönste deutsche Wort, haben Jutta Limbach & Co beschlossen (mehr). Clemens Niedenthal nickt gefällig in tazzwei, und meint in den Platzierungen die Sehnsucht nach Vergangenem festzustellen. "Immer wieder fanden die Wettbewerbseinsendungen zu einer Archäologie der Sprache. Fanden sie Worte wie 'saumselig', jenes, so der Vorschläger in seiner außerordentlich feinsinnigen Erklärung, 'Stadium selbstvergessenen Müßiggangs'. Oder 'Trödeln', eine 'kleine Anarchie, die in unseren Leben kaum mehr möglich ist'." Auf der Medienseite berichtet Nicola Hochkeppel, wie Claas Danielsen das Leipziger Dokumentar- und Animationsfimfestival zum Branchentreff ausbauen will.

Und Tom.

NZZ, 25.10.2004

Natürlich müssen die aus öffentlicher Hand finanzierten Universitäten - gerade in Zeiten der finanziellen Krise - ihre Nützlichkeit legitimieren, findet Konrad Schmid, Professor für alttestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, doch kann es dabei nicht allein um ökonomische Maßstäbe gehen. Gerade was die Geisteswissenschaften betrifft, denen der Kosten-Nutzen-Unmut am stärksten entgegenschlägt, erinnert Schmid an das Bildungsideal, für das die Universität steht: "Genau darauf beruht der klassische Gedanke der humanistischen Universität, der ihr auch ihren Namen gegeben hat: Es gibt deshalb verschiedene universitäre Disziplinen, weil es um das Ganze, die universitas, geht. Die 'Voll-Universität' mit ihrem breiten Fächerspektrum entspringt dem Willen, die Wirklichkeit in all ihren geistigen wie materiellen Dimensionen zu erforschen. Hinzu kommt: Die disziplinär aufgeteilten Wissenschaften haben nur unscharfe Ränder. Kein universitäres Fach steht für sich allein, keines kann seine Aufgabe unter völliger Ausblendung seiner Nachbarfächer adäquat erfüllen. Universitäres Forschen und Lehren in einem Fach bedeutet deshalb immer auch, im Kontext aller anderen Fächer der - deshalb wichtigen - 'Voll- Universität' zu forschen und zu lehren."

Weitere Artikel: Andrea Köhler beschleicht das Gefühl, dass es sich bei Lionel Chetwynds Pro-Bush-Film "Celsius 41.11 - The Temperature at Which the Brain Begins to Die" um eine Selbstdiagnose handeln muss. Joachim Güntner hat die Idee einer "Schule der Besänftigung" gefallen, die Wilhelm Genazino in seiner Dankesrede zur Verleihung des Büchnerpreises formuliert hat. Und Knut Henkel berichtet über denkmalpflegerische Initiativen in der peruanischen Hauptstadt Lima.

Besprochen werden Stijn Celis' amüsantes und leicht überdrehtes Tanzstück "Aschenputtel" am Stadttheater Bern, Peter Konwitschnys umstrittener "Don Carlos" an der Wiener Staatsoper und die dem Bildhauer Hanspeter Kamm gewidmete Ausstellung in der Maison d'Ailleurs in Yverdon, dem - neben Seattle einzigen öffentlichen Science-Fiction-Museum der Welt.

FR, 25.10.2004

Enttäuscht und überrascht hat Peter Michalzik die Faust-Aufführungen von Michael Thalheimer in Berlin und Jan Bosse in Hamburg miterlebt. Ersterer betreibt "sublime Leichenschänderei", befindet Michalzik, letzterer schaffe immerhin für eineinhalb Stunden "eine ganz erstaunliche Wiederauferstehung" des Sinnsuchers, der vielleicht auch einfach nicht mehr in das heutige Deutschland passe. "Thalheimer reagiert auf die Faustferne, indem er sich zu verkrampfter Konzentration zwingt, Bosse indem er sich entspannte Ironie durchgehen lässt. Thalheimer exekutiert das Drama, das es nicht mehr gibt, Bosse zelebriert es als Flirt. Thalheimer knallt einen Monolith auf die Bühne, Bosse macht ein Spiel mit uns allen draus. So ergibt sich zwischen Berlin und Hamburg am Ende vielleicht doch noch ein deutsches Sittenbild: Zwischen Krampf und Entspannungsübungen schlagen wir uns halt so durch."

Christoph Schröder hat mitansehen müssen, wie sich Wilhelm Genazino (mehr) bei der Verleihung des Büchner-Preises in Darmstadt gepflegt langweilte und sich auf sein Sofa und zu seinen beiden Schreibmaschinen Monika und Gabriele zurücksehnte. Gunnar Lützow weist in Times mager darauf hin, wie das heutige selbstvergessene Berlin doch der Hauptstadt in den Goldenen Zwanzigern ähnelt.

Ansonsten gibt es eine ganze Reihe an Besprechungen, die Uraufführung von Tankred Dorsts Stück "Purcells Traum von König Artus" in Wiesbaden, Philipp Kochbeins Version Der Brecht/Weill-Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" im Staatstheater Darmstadt, Jean-Pierre Perraults Choreografie "Joe" zur Eröffnung des Tanzfestivals "cutting edge move" in Frankfurt, zwei "bitter-komische" Performances im Frankfurter Mousonturm, ein Bachabend mit dem Ensemble Resonanz in der Alten Oper, ebenfalls in Frankfurt, die Rolling Stone Road Show im Offenbacher Capitol, und zwei politische Bücher, nämlich Seymour Hershs Sammelband seiner jüngsten Reportagen "Die Befehlskette. Vom 11. September bis Abu Ghraib" sowie Michael Schweliens Untersuchung der Einwanderungsproblematik an den europäischen Grenzen "Das Boot ist voll" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 25.10.2004

Was haben sich die Herren der Sprache und die Herren der Bühne noch zu sagen, wenn das Theater "in den letzten Jahrzehnten auf Sprache immer mehr pfeift"? Gerhard Stadelmaier war dabei, als sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung an einer Art ideologischem Fernverkehr zwischen der Welt der Sprache und der des Theaters versucht hat - mit recht katastrophalem Ergebnis. Denn erst am dritten Tag habe man dem intellektuellen Bankrott der vorangegangenen Tage entkommen können, als eine handvoll "kluge, witzige und phantasievolle Stückeschreiber" (Theresia Walser, Roland Schimmelpfennig und Jens Roselt) zu einer Diskussion um ein legitimes Kräfteverhältnis zwischen Regisseur und Dramatiker anregten: "Wenn man als Autor, so Schimmelpfennig, einen Tisch auf der Bühne möchte, inszenieren die garantiert keinen Tisch - weil der Tisch vom Autor kommt. 'Verlangst du nun aber listig ausdrücklich keinen Tisch, ist auch nicht gesagt, dass du nun einen Tisch kriegst.' Über den absurden Nicht-Tisch, an dem der Dramatiker im Theater sitzt, hat die Akademie gelacht. Dabei hätte sie doch weinen müssen."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel berichtet von der eher unspektakulären Preisverleihung der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. Im Kommentar zeichnet "rtg" aus "Habseligkeiten", "Geborgenheit", "lieben" und "Augenblick", die von der Jury des Deutschen Sprachrats zu den vier schönsten deutschen Worten gekürt wurden, ein Psychogramm der Juroren-Generation. Martin Vogel, Mitglied der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, hält den Referentenentwurf für ein Zweites Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft für eine Reformattrappe auf Kosten der Künstler. Weiter wird gemeldet, dass Kjetil Thorsen vom Institut für Hochbau der Universität Innsbruck mit der Planung des Museumskomplexes auf Groud Zero beauftragt wurde.

"Wir Palästinenser sind leere Körper in einem sinnlosen Leben" - Auf der Medienseite empfiehlt Henrike Rossbach Tom Roberts' Dokumentation "Mein Körper, die Bombe", in der der Terror etwas grotesk Alltägliches bekommt. Und Michael Hanfeld porträtiert Alicia Remirez, die stellvertretende Geschäftsführerin von Sat.1 und neue Verantwortliche für die fiktionale Sparte. Auf der letzten Seite porträtiert Christian Schwägerl den Neurochip-Pionier John Donoghue. Andreas Rosenfelder war im bizarren Kosmos einer Ebay-Lagerhalle zu Besuch. Und wie Zhou Derong am Beispiel zweier chinesischer Regimekritiker (der Publizist und Professor für Medienwissenschaft Jiao Guobiao sowie der Fernsehjournalist Feng Ji) zeigt, mag der Apparat länger brauchen, bis er seine Gegner mundtot macht, aber es gelingt ihm immer noch.

Besprochen werden die Wiesbadener Uraufführung von Tankred Dorsts hinreißender Schattenbeschwörung "Purcells Traum von König Artus", Jan Bosses "Faust"-Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, eine Ausstellung mit Fotografien von Willy Ronis in Aachen, das Musical "Cabaret" in Berlins "Bar jeder Vernunft", Heinz Peter Schwerfels erlesener Film über Cees Nooteboom und Bücher - Andreas B. Kilchers Geschichte der Enzyklopädie "mathesis und poiesis", Werner Zilligs akademischer Schlüsselroman "Die Festschrift", Borwin Bandelows "Angstbuch", Tim Renners Grablied der Musikindustrie "Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm" und Dietmar Henzes "Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 25.10.2004

"Herr gib uns Langmut, uns unserer Langeweile so lange auszusetzen, bis Literatur daraus wird", so fasst Jürgen Berger die Dankesrede Wilhelm Genazinos (mehr) zur Verleihung des Büchnerpreises zusammen. In Darmstadt kreuzten sich an diesem Wochenende mit der gleichzeitig anberaumten Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung bemerkenswert viele Linien des deutschen Literaturbetriebs, schreibt Berger, der den Großteil der Seite aber einem Auszug aus Genazinos Rede überlassen muss. "Sehr geehrte Chefredakteure, Programmleiter, Fernsehdirektoren, Eventdenker, Kaufhauschefs! Sehr verehrte Planer von Freizeitparks, Loveparades, Expos und all dem anderen Nonsens! Lasst die Finger weg von unserer Langeweile! Sie ist unser letztes Ich-Fenster, aus dem wir noch ungestört, weil unkontrolliert in die Welt schauen dürfen! Hört auf, uns mit euch bekannt zu machen! Hört auf, euch für uns etwas auszudenken! Sagt uns nicht länger, was wir wollen! Bleibt uns vom Leib, schickt uns keine portofreien Antwortkarten und gebt uns keine Fragebögen in die Hand, interviewt uns nicht, filmt uns nicht, lasst uns in Ruhe! Lasst uns herumstehen, denn Herumstehen ist Freiheit! Und gebt euch zufrieden damit, wenn wir das, was uns interessant vorkommt, vielleicht niemandem erzählen wollen."

"Stark", aber "kein Wurf wie seine Vorgänger", meint Till Briegleb zu Jan Bosses Hamburger "Faust"-Interpretation im Deutschen Schauspielhaus. Die Einbindung des Publikums zumindest hält er für eine gute Idee. "Der Saal wird auf die Bühne verlängert, so dass die Zuschauer auch die vierte Wand besetzen und im Parkett eine Zentralbühne entsteht. Von einer Drehscheibe, auf der sich das Hauptgeschehen abspielt, erweitert sich die Szenerie in den Saal. Hier sitzen die Schauspieler und ein Chor, der mal gespenstisch den Pudel hecheln lässt oder ergreifend 'Dies irae' singt. Vor allem aber gibt das sichtbare Publikum der Angst des Faust vor den Menschen einen konkreten Bezugsrahmen."

Weitere Artikel: Der amerikanische Journalist und Internetprofi Mark Hertsgaard hofft im Aufmacher, dass mit einer Abwahl Bushs die Beziehungen zum Rest der Welt wieder freundlicher werden. Christine Burgscheidt berichtet, dass die deutschen technischen Universitäten dem internationalen Master-Abschluss auch in Zukunft nicht trauen wollen. Fritz Göttler informiert über das einstweilige Verbot von Tracey Emins (mehr) autobiografisch angehauchtem Film "Top Spot". Karl Bruckmaier trauert um Greg Shaw, den Erfinder des Begriffs "Punk". Egbert Tholl hofft, dass das von Peter Kastenmüller und Björn Bicker mit Bewohnern des Münchner Problemviertels Hasenbergl ins Leben gerufene Theaterprojekt "Bunnyhill" noch an Ernsthaftigkeit gewinnt. Peter Burghardt beobachtet mit der gesamten spanischen Bevölkerung den ersten Auftritt der neuen spanischen Prinzessin Letizia Ortiz bei der Verleihung der Prinz-von-Asturien-Preise in Oviedo. Eva von Schaper beschreibt auf der Medienseite eine Briefaktion des Magazins des britischen Guardian, das seine Leser aufforderte, amerikanische Wähler im Kreis "Clark County" in Swingstate Ohio direkt anzuschreiben und sie so vielleicht umzustimmen.

Besprochen werden Peter Konwitschnys Inszenierung aller fünf Akte des "Don Carlos" an der Wiener Staatsoper ("Der Triumph könnte nicht größer sein", jubelt Reinhard J. Brembeck) und eine Menge Bücher, darunter "Langsamer Walzer", der neue Roman von Henning Ahrens, Michael Schweliens Darstellung der Flüchtlingsproblematik an den Grenzen der Europäischen Union "Das Boot ist voll" sowie Anetta Kahanes deutsch-deutsche Biografie "Ich sehe was, was Du nicht siehst" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).