Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2004. Die FAZ steht entzückt vor Edward Hoppers "Night Hawks". Die taz gratuliert George W. Bush zur Vereinigung der linksliberalen Kräfte. Die NZZ beobachtet in Dänemark die Welt stiller untergehen. Die SZ trauert um Lego und die Kindheit.

NZZ, 26.10.2004

"Die Welt geht hier stiller unter", schrieb Bert Brecht aus dem dänischen Exil, um Walter Benjamin nach Svendborg zu locken. Arne Rautenberg ist diesem Lockruf gefolgt und betritt - zur lyrischen Begleitmelodie der "Svendborger Gedichte"- den "bedeutungsschwer kontaminierten Boden" um das Brechtsche Haus, das seit 1990 Stipendiaten aus Kunst und Wissenschaft als Wohnhaus zur Verfügung steht. "Wer Glück hat, erwischt den derzeit im Haus weilenden Stipendiaten auf der Gartenbank, verwickelt ihn in ein Gespräch, lässt sich durchs Haus führen und sieht aus Brechts Arbeitszimmer hinaus in den Garten: Jawohl, da steht er noch, der Birnbaum, knorrig ist er geblieben und inzwischen so alt und morsch, dass er schwer an seinen wenigen kranken Blättern trägt. Vermutlich steht er aus sentimentalen Gründen und wegen eines Brecht-Gedichts ('Naturgedicht') unter Kunstschutz."

Weitere Artikel: Beatrix Langner gratuliert "Old Plenzdorf", dem Erfinder von "Paul und Paula", zum siebzigsten Geburtstag. Und schließlich wird gemeldet, dass die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia bei ihrer Ausland-Präsenz neue Schwerpunkte setzt, sprich: mehr Welt und weniger Osteuropa.

Besprochen werden eine Antonio-Gaudi-Ausstellung im Bremer Paula-Modersohn-Becker-Museum, das Züricher Konzert von Itzhak Perlman mit seinem Klavierpartner Bruno Canino und Bücher - Peter Rühmkorfs meisterlich artistisches Tagebuch "TABU II", das essayistische Werk des expressionistischen Dichters Albert Ehrenstein, Nicoletta Ossanna Cavadinis vorbildliche Monografie des klassizistischen Tessiner Architekten Simone Cantoni sowie neue Studien um Leben und Werk des belgischen Komponisten Cesar Franck (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 26.10.2004

Wilfried Wiegand beschreibt verzückt die "Menschengespenster" Edward Hoppers im Kölner Museum Ludwig. Allein Hoppers "Night Hawks" mache die Ausstellung zu einem Ereignis: "Die Bar ist eine Welt für sich, und genau das verschweigen die Reproduktionen, wo die Farben alle aussehen, als wären sie alle miteinander verwandt. In Wahrheit herrscht koloristische Feindschaft zwischen dem Menschenaquarium in der Mitte und der schlafenden Welt drum herum. Die giftgrüne Leiste bildet die Grenze: ein magischer Zirkel, um Menschengespenster gezogen. Mit der Arbeit an den 'Night Hawks' hat Hopper im Dezember 1941 begonnen, ein paar Tage nach dem japanischen Bombardement auf Pearl Harbor. Damit, heißt es immer, habe das Bild überhaupt nichts zu tun. Vielleicht ahnen wir jetzt erst, nach dem Schock des 11. September, was es doch mit Pearl Harbor zu tun haben könnte. Sehen die 'Night Hawks' nicht aus wie das Porträt eines Amerika, dem man gerade die Seele gestohlen hat?"

Gerd Roellecke berichtet von der Wustrauer Tagung des "Forums Justizgeschichte" zum Thema "Recht Medien Justizkritik", bei der sich die Richter pflichtbewusst und engelsgeduldig ihren - größtenteils aus Pressekreisen stammenden - Kritikern stellten. In der Diskussion hat Roellecke jedoch vor lauter Vergangenheitsbewältigung die "positiven Gerechtigkeitsvorstellungen" vermisst. Letztere hätten die Diskussion um ein ausgewogenes Verhältnis von Justiz und Öffentlichkeit durchaus erhellen können, denn "Öffentlichkeit hat in der Tat ein doppeltes Gesicht. Auf der einen Seite erweitert sie Darstellungs-, Entfaltungs- und Beobachtungsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite hat sie eine Prangerwirkung und zwingt zur Anpassung. Öffentlich kann man sich nicht so verhalten, wie man ist, sondern nur so, wie man gesehen werden möchte."

Weitere Artikel: Gerührt und angeregt schreibt Niklas Maak über die Neueröffnung der Berlinischen Galerie im früheren Kreuzberger Glaslager. Auf einer Tagung in Erlangen hat Martin Lhotzky Mediävisten dabei zugeschaut, wie sie über die Darstellung und Handhabung der Weltgrenzen im Mittelalter nachdenken. Achim Heidenrich gibt zu Protokoll, dass das Deutsche Jazz-Festival Frankfurt auch bei seiner 35. Auflage noch Biss hat. Wolfgang Schneider gratuliert Ulrich Plenzdorf zum Siebzigsten. Im Vorfeld der amerkanischen Präsidentschaftswahl beobachtet Mark Siemons ein janusköpfiges Phänomen: "Die Öffentlichkeit kennt in diesen Tagen kein erregenderes, sie selbst stärker betreffendes Thema - doch zugleich ist sie von der Vergeblichkeit, der Sterilität dieser Erregung überzeugt und wartet wie das Kaninchen vor der Schlange ab."

Außerdem wird die November-Literaturbestenliste des Südwestrundfunks bekanntgegeben (auf der SWR-Seite ist es noch Oktober, aber vielleicht später mal vorbeischauen) und gemeldet, dass die Goldene Taube der 47. Leipziger Dokfilmwoche an Thomas Riedelsheimers Dokumentarfilm "Touch the Sound" vergeben wurde.

Auf der Medienseite gratuliert Michael Seewald der ZDF-Dokumentarreihe "37 Grad" zu zehn Jahren Qualitätsjournalismus. Andreas Platthaus hätte nicht gedacht, dass man den Pornocomics "Tijuana Bibles" heutzutage noch subversives Potential zutraut (und eine "Vertriebsbeschränkung" erwirken will), zumal sie lediglich als illustrierendes Material im Rahmen eines kulturgeschichtlichen Comic-Essays von Art Spiegelman in der Zweimonatszeitschrift "Steinstraße 11" in Druck gehen. Und im Gespräch mit Rudolf Gerhardt situiert der frühere Bundesrichter Jürgen von Gerlach das Caroline-Urteil innerhalb der vielfältigen europäischen Gesetzgebungen zum Persönlichkeitsschutz. Auf der letzten Seite erinnert Dirk Schümer an die Rückkehr der Stadt Triest in die Republik Italien vor fünfzig Jahren. Ilona Lenhard meldet die Wiedereröffnung des Berliner Münzkabinetts. Und Catrin Lorch stellt die Strickbildnerin Rosemarie Trockel vor.

Besprochen werden eine Ausstellung digitaler Heiligenvisionen in der Moskauer Tretjakow-Galerie, das furios existentielle Berliner Benefizkonzert der Staatskapelle Weimar zugunsten der Anna-Amalia-Bibliothek, das Frankfurter Konzert des London Symphony Orchestra unter der Leitung von Pierre Boulez, die luziferisch-lustvolle Klangarbeit des SWR-Chors auf ihrer CD "Rrrrrrr?" mit Werken von Mauricio Kagel, Uwe Eric Laufenbergs schale Inszenierung von "Lina - Es wird sie töten, du Ärmster" am Potsdamer Theater, Hans Zenders kleinteiligen "Don Quijote" an der Komischen Oper Berlin, Peter Kastenmüllers Stück "Ein Junge, der nicht Mehmet heißt", das im Rahmen des Münchner Projekts "Bunnyhill" aufgeführt wird und Malin Schwerdtfegers neuer Roman "Delphi".

TAZ, 26.10.2004

Da reißen sich die amerikanischen Zeitungsherausgeber ein Bein aus und geben letzte Wahlempfehlungen für Kerry am laufenden Band ab, und Robert Misik hält im Kulturaufmacher eine Lobrede auf Bush. Allerdings eine eher funktional inspirierte, denn Bush habe uns schließlich "mancher Illusion über Amerika beraubt und weltweit die linksliberalen Kräfte vereint". "Hollywood, Popmusik und Bill Clinton hatten den falschen Eindruck erweckt, die Amerikaner mögen die gleichen Dinge wie normale Menschen auch: steile Sounds, Fast-Food, Sex, Joggen und fröhlichen Hedonismus. Dabei gehört gut die Hälfte dieser zutiefst und schroff gespaltenen Nation einem Menschenschlag an, den unsereins nicht viel besser verstehen kann als einen Pygmäenstamm. Das wissen wir nun, und das ist George W. Bushs Verdienst."

Weitere Artikel: Detlef Kuhlbrodt weiß gute Neuigkeiten vom Leipziger Dokumentarfilmfestival zu berichten: steigende Besucherzahlen und zunehmend anrührende und komische Beiträge. Christian Broecking verweist auf die Veranstaltungsreihe Black Atlantic am Berliner Haus der Kulturen der Welt, die sich noch bis zum 19. November "Formen schwarzer Identitätskonstruktion" widmet. Die Medienseite resümiert 10 Jahre Spiegel-Online als vor allem "harte Arbeit am eigenen Mythos", auf den Tagesthemenseiten findet ein Vergleich altersgerechter Lebensqualität in Baden-Baden und Görlitz statt, und in tazzwei gibt es Neues aus den unendlichen Erzählungen von Bernhard "jetzt auch Kryptonit" Pötters Superfamilie. Die Kurzmeldungen informieren über eine internationale Initiative zur Befreiung des Schriftstellers Raul Rivero aus kubanischer Haft, gratulieren Ulrich Plenzdorf zum 70. und geben die Verleihung der höchsten Auszeichnung der Berliner Akademie der Künste, der Plakette für das Jahr 2003 an Katharina Thalbach und die Architekten Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg bekannt.

Besprochen werden die Ausstellung "Phonorama" am Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie, die sich mit der kulturellen und sozialen Geschichte der menschlichen Stimme als Medium auseinandersetzt. Dazu zählen ebenso die Gebärdensprache der Taubstummen, die Kastratenstimme oder eine aus Holz konstruierte "Sprechmaschine" von 1790. Außerdem Paul McGuigans Film "Sehnsüchtig" mit Josh Hartnett und Diane Kruger in den Hauptrollen.

Und hier Tom.

FR, 26.10.2004

In Times mager räsoniert Peter Parthey über die Möglichkeit, per so genannter und neuerdings gar gesetzlich genehmigter inverser Suche nicht nur die Telefonnummer zu einem Namen, sondern auch den Namen zu einer Nummer herauszufinden. Sein fröhlicher Ton scheint angesichts der zu erwartenden Belästigungen etwas unangebracht: "Jetzt bricht in Deutschland ein goldenes Zeitalter für Hobbykriminalisten, Nummernfetischisten und verklemmte Verehrer an." Was er jedenfalls unterschlägt, ist die Möglichkeit, sich diese Unsitte einfach zu verbitten. Unter 01375-103300 kann jeder mittels automatischer Widerspruchsaufnahme diese Zumutung ein für alle Mal unterbinden. Bitte sehr, gern geschehen.

Weiteres: Tim Gorbauch resümiert das 35. Deutsche Jazzfestival in Frankfurt. Dazu passend stellt Michael Rieth eine Ausstellung zum Jazz in Form des "Frankfurter Sound" im dortigen Karmeliterkloster vor. Peter Michalzik nahm - einigermaßen angetan - am neuesten Event namens "Richtfest" im zwischenzeitlich für Kulturzwecke freigegebenen Berliner Palast der Republik teil. Und auf der Medienseite wird - erneut überraschend unkritisch (weil letztlich erneut herzlich desinteressiert?) - der 25. Geburtstag des etwas verschnarchten Kunstmagazins Art gefeiert.

Besprochen werden eine mit "souveräner Könnerschaft" realisierte "Aida"-Inszenierung von Robert Wilson am Theatre de la Monnaie in Brüssel, ein mit heftigem Begrüßungsapplaus versehenes Konzert mit Pierre Boulez, der in der Alten Oper Frankfurt, wo er das London Symphonie Orchestra, Boulez und Strawinsky dirigierte, Mozarts "Requiem" nebst Schönbergs "Verklärter Nacht" unter Leitung von Paolo Carignani in einem Museumskonzert an der Frankfurter Oper, eine Inszenierung des Theaterstücks "Life After George" der Australierin Hannie Raysons im Frankfurter English Theatre, die laut Kritikerin die Achtundsechziger offenbar kennt, sowie eine Ausstellung des beharrlichen Malers Thomas Werner in der Frankfurter Galerie Grässlin.

SZ, 26.10.2004

Joerg Häntzschel inspiziert das National Museum of the American Indian in Washington und erklärt das Projekt für gescheitert: die Präsentation "dilettantisch", das inhaltliche Konzept falsch. Geschichte werde eher verdrängt als vermittelt. "Es zählt nur die Gegenwart. Auf fast verzweifelte Weise insistiert die Ausstellung darauf, wie lebendig die indianische Gesellschaft in Amerika heute ist."

Weitere Artikel: "Es könnte sein, dass der Gesellschaft die Kindheit abhanden gekommen ist", orakelt Gerhard Matzig angesichts der Krise bei Klötzchenbauer Lego (mehr). Wolfgang Jean Stock referiert eine Tagung über Architektur und Geschichte in München. Martina Knoben hebt auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival besonders den deutschen Wettbewerb und Myrna Maakarons Film "Berlin Beirut" hervor. Die Künstlerin Rosemarie Trockel (mehr) erhält den Wolfgang-Hahn-Preis 2004, und Frank Frangenberg stellt sie vor. Carmela Thiele weist auf den 150. Geburtstag der Karlsruher Kunstakademie hin. Kristina Maidt-Zinke überbringt Ulrich Plenzdorf Glückwünsche zum Siebzigsten.

Petra Steinberger erinnert an zehn Jahre Frieden zwischen Israel und Jordanien. Claus Heinrich Meyer erinnert sich an den Krieg, den Pastor und den Opel P4. Sonja Zekri grübelt angesichts der Tätlichkeiten des baden-württembergischen Staatssekretärs Christoph Palmer gegen einen Parteifreund, ob die Ohrfeige heute noch als Waffe der Wahl gelten kann. Stefan Kornelius wundert sich in einem wohl aus dem Politikteil übernommenen Kommentar über die rätselhaften außenpolitischen Erklärungen von Schröder, Merkel & Co.

Auf der Medienseite erklärt Hans-Jürgen Jakobs, was der neue Geschäftsführer Marc Conrad beim wankenden Marktführer RTL alles verändern will. Viola Schenz staunt über die Flut an Wahlwerbespots, der die Fernsehzuschauer in den amerikanischen Swing States ausgesetzt sind. Senta Krasser gratuliert der ZDF-Reportagereihe "37 Grad" zum zehnjährigen Bestehen.

Besprochen werden das 35. Deutsche Jazzfestival in Frankfurt, eine Ausstellung im Berliner Kunstgewerbemuseum über die Werbeästhetik der vergangenen vierzig Jahre, Ruedi Häusermanns "Richtfest" im ehemaligen Palast der Republik, und Bücher, darunter die Else Lasker-Schüler-Biografien von Sigrid Bauschinger und Betty Falkenberg, die Neuausgabe der Korrespondenz Napoleons sowie die "nicht genug zu lobende" Neuedition von Giorgio Vasaris "Vite" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).