Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.12.2004. Die NZZ befürchtet eine Boulevardisierung des deutschsprachigen Feuilletons. Die taz sucht nach einer Frauenband, die sich nicht für ihr Frausein interessiert. In der Berliner Zeitung schätzt Juri Andruchowytsch seinen Anteil an der ukrainischen Revolution auf zwei bis fünf Prozent. Die SZ beklagt das Ende des Musikfernsehens. In der FAZ ruft Ernst-Wolfgang Böckenförde: Nein zum Beitritt der Türkei in die EU.

NZZ, 10.12.2004

Ausführlich befassen sich Andrea Höhne und Stephan Russ-Mohl im Medienteil mit der Orientierungskrise des Feuilletons und stellen fest: "Auf den Titelseiten der meinungsbildenden Pressetitel und in den Fernsehnachrichten dominiert die Alltagskultur, sprich: Film und populäre Musik. Hochkultur - wie Oper, Theater, hohe Literatur - findet sich fast ausschließlich in den Feuilletonsektionen der Tageszeitungen. Die Medien üben nur selten Kritik an Kulturschaffenden - weit weniger als an Politikern und Wirtschaftsführern. Verrisse im Rezensionsteil sind seltener geworden." Als Schweizer Beispiel für eine Boulevardisierungstendenz wird die Basler Zeitung nach ihrem kürzlich erfolgten Relaunch vorgestellt.

Deutschland, Land der Patrioten und Vaterlandsverräter! Im hochgeschätzten Feuilleton fragt sich Joachim Güntner, was eigentlich hinter der deutschen Patriotismusdebatte steckt. Vor allem ein "starrer Blick aufs Ökonomische", meint er. "Das Zusammengehörigkeitsgefühl als Nation wird beschworen, um im reißenden Strom der Globalisierung einen Ankerplatz zu schaffen. Als Modernisierer jedoch stehen die neudeutschen Patrioten auf Seiten der Globalisierung und der internationalen Handelsbeziehungen. Das passt nicht zusammen, es führt nur zu Kuriositäten wie der Schelte Schröders an die Adresse deutscher Wirtschaftsbosse, die Auswanderung deutschen Geldes und deutscher Maschinen in Niedriglohnzonen sei ein 'unpatriotischer Akt'."

Weitere Artikel: Claudia Schwartz berichtet von der Berliner Sonderregelung aus Besatzungszeiten, wonach der Religionsunterricht in den Zuständigkeitsbereich der Kirchen fällt und die Schulen nur die Räumlichkeiten stellen müssen. Dies führte dazu, dass die umstrittene Islamische Föderation durch alle Instanzen klagte und ihre fundamentalistischen Lehren in Berlins Klassenzimmern verbreiten darf. Franz Haas verkündet derweil Erfreuliches aus Italien, wo die Tageszeitungen beginnen, ihre arg gerupften Feuilletons wieder aufzumöbeln. Hans Peter Isler stellt eine Mailänder Ausstellung mit griechischen Vasen vor. Gemeldet wird, dass das Kunstmuseum Bern keine Abteilung für Gegenwartskunst erhalten wird.

Auf der Filmseite schreibt Andreas Maurer anlässlich des Pixar-Films "The Incredibles" über das Verschwinden der Grenze zwischen Real- und Animationsfilm. Besprochen werden die musikalische Doku-Fiction "Musica Cubana" und die Geschlechter-Farce "She hate me" von Spike Lee. Gemeldet wird schließlich ein erneuertes schweizerisch-französisches Koproduktionsabkommen.

TAZ, 10.12.2004

Susanne Messmer fragt sich, warum Frauenbands eigentlich nie über einen enthusiastischen Anfang hinauskommen. Bloß keine Professionalisierung, scheint das Motto zu sein. Aber "irgendwann kommt dann doch die Frage auf, ob es keinen Weg aus dieser Wiederkehr des immer Gleichen gibt - sei es auch noch so neu und verführerisch. Warum gibt es eigentlich keine einzige richtig gute Gitarrenband, die einfach nur tolle Musik macht und sonst nichts? Mit Frauen, die ihr Frausein überhaupt nicht mehr zum Thema machen? Wen gibt es denn da - sieht man einmal von HipHop ab? PJ Harvey vielleicht, ohne Band. Die kanadische Sängerin Feist, auch ohne Band. Eine weiße Frauenband, die sich vom Pathos des Anfangs befreit hat und sich plötzlich so richtig um das kümmert, was bisher nur Supplement war - nämlich um die Musik -, eine solche Band hat es bislang nicht gegeben."

In tazzwei freut sich Dieter Grönling über Firefox, den ersten offiziellen Mozilla-Browser. Er ist "sehr flott", Microsofts Internet Explorer "haushoch überlegen und gilt auch unter Profis als wesentlich sicherer." Firefox ist aus einem Open Source Projekt entstanden und kann kostenlos heruntergeladen werden. Besprochen werden Gwen Stefanis CD "Love.Angel.Music.Baby" und ein Buch über nigerianische Videoproduktionen (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR, 10.12.2004

Ina Hartwig lobt Elfriede Jelineks Nobel-Vorlesung als "ihr gemäßen Lord-Chandos-Brief". Silke Hohmann denkt anlässlich der Ausstellung Künstler der Brücke in der Sammlung Hagemann im Frankfurter Städl über die Spezies der Sammler im Allgemeinen und Carl Hagemann im Besonderen nach. Roland Mischke hat Leipzigs neues Museum der bildenden Künste besucht und stellt fest: "Das Museum wurde schon vor seiner Eröffnung angenommen, der Tross, das zeigte sich in den ersten Tagen nach der Eröffnung, wird kommen.

Besprochen werden Joachim Schlömers Inszenierung von "Tristan und Isolde" im Staatstheater Hannover ("ein Tristan des Minimalismus", findet Georg-Friedrich Kühn) und Stefan Puchers "schlaue, unterhaltsame" Inszenierung des "Homo Faber" in Zürich.

Berliner Zeitung, 10.12.2004

Im Gespräch mit Natascha Freundel erklärt der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, wie hoch er seine Eigenbeteiligung an der Revolution in Orange einschätzt. "Das kann ich ganz konkret sagen. Ich habe eine Woche unter den Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz verbracht. Ich bin aus vielen Gründen ziemlich froh. Einer ist, dass mich viele Leute erkannt haben, dort stehen also auch meine Leser, junge Leute. Und ich war einer von ihnen, ich habe keine Rede auf der Tribüne gehalten oder so. Vielleicht kann ich also vermuten, dass es mein Verdienst ist, dass dort manche stehen - na vielleicht zwei oder fünf Prozent von ihnen."

Und Julia Kospach weiht uns ein in eine der geheimen Regeln, die der Vergabe des Literaturnobelpreises zugrundeliegen: der Lex Buck. Diese nach der - mittlerweile als Fehlgriff betrachteten - Preisträgerin Pearl S. Buck benannte Regel besage, dass kein Autor, der zum ersten Mal auf der Shortliste steht, zum Preisträger gekürt werden darf.

SZ, 10.12.2004

Auf einer ganzen Seite stimmt die SZ einen Abgesang auf das Musikfernsehen an: "Internet has killed the music television.", meint Dirk Peitz: "Die neuen Jugendkulturen sind virtuell, sie konstituieren sich in Weblogs und Netzforen, sie kennen keinen Modestil." Und Tobias Kniebe windet sich unter der Schmach, dass Viva statt Musikclips demnächst alte "Big Brother"- Folgen zeigen wird. "Welch gottverdammt trauriges Ende für eine Kunstform, in der einst die neue Grammatik des Sehens geschrieben wurde." Oliver Fuchs erinnert sich an die guten alten Zeiten, als es noch Musik im Musikfernsehen gab und nicht nur Reise-Dokus, Flirt-Shows und Klingeltonwerbung.

Ijoma Mangold unterhält sich mit dem ungarischen Schriftsteller Peter Zilahy, dessen kleine Revolutionskunde "Die letzte Fenstergiraffe" in der Ukraine angeblich der Renner der Saison war (mehr zum Buch finden Sie hier, eine Leseprobe hier). "Schon bei meinen ersten Lesungen in Kiew konnte ich beobachten, dass mein Buch wie ein Handbuch der politischen Rebellion gelesen wurde. Die Leute stellten mir regelrecht Fragen über die besten Methoden des Protests. Dabei handelt mein Buch von der Ästhetik der politischen Demonstration, und obwohl es auch viel konkrete Beschreibung gibt, war ich doch verwundert, was die Leser da so für sich herauspickten."

Holger Liebs versucht am Pool in Miami Beach, den Erfolg der Leipziger Schule zu erkunden. Gerd Harry Lübke, als Chef der Galerie "Eigen + Art" ihr oberster Promoter, glaubt zwar, dass es sich einfach noch nicht bis Leipzig herumgesprochen hätte, dass die Malerei tot ist. Liebs dagegen führt dies auch auf ihren dezidiert unpolitischen Charakter zurück: "Die einzelnen Leipziger Maler (und die wenigen Malerinnen) erproben zwar ganz verschiedene Ansätze, aber oft schaffen sie menschenarme Landschaftsbilder oder Interieurs, die, mal 'Mönch-am-Meer'-artig episch geweitet, mal aufdringlich verengt und mal surrealistisch verfremdet, von einer posturbanen Ödnis erzählen, von einer umfassenden Tristesse Royale in 'Shrinking-Cities'-Zeiten."

Weiteres: Der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth darf sich im Aufmacher über die SZ ärgern, die jüngst Pisa für unvereinbar mit wahrer Bildung erklärt hatte. Jens Bisky berichtet, dass der Zentralrat der Sinti und Roma der Bundesregierung vorwirft, das geplante NS-Mahnmal zu verzögern. Zu lesen ist auch Woody Allens Protokoll des Disney-Prozess' Eisner gegen Ovitz.

Besprochen werden Ayse Polats Film "En Garde" (den Martina Knoben ganz großartig besetzt findet: "So muffelig wie Maria Kwiatkowsky hat schon lange keine mehr geguckt in einem deutschen Film."), die Gaudi-Ausstellung "Lyrik des Raums" in der Bremer Böttcherstraße, das neue Programm des österreichischen Kabarettistien Josef Hader und Bücher, darunter Daniel Libeskinds "Erinnerungen" und Colum McCanns "Hungerstreik (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 10.12.2004

Gekürzt, aber nur wenig, druckt die FAZ auf mehreren Seiten die Dankesrede des Juristen und ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises ab. Es handelt sich dabei um eine politische Rede, ein genau abgewogenes, aber umso entschiedeneres "Nein zum Beitritt der Türkei" zur EU. Nichts spricht, so Böckenförde, für einen solchen Beitritt: Weder geografische noch geostrategische Gründe, die ökonomischen so wenig wie die demografischen. Das zentrale Argument bleibt aber das kulturelle: "Geschichtlich-kulturell sind Europa und die Türkei nicht nur am Rande, sondern grundlegend unterschieden. (...) Das Problem liegt jedoch weniger in der Religion als solcher. Es liegt in der einerseits von der christlichen Religion, andererseits vom Islam geprägten Kultur und Mentalität in Europa und der Türkei. Hier und dort haben sich unterschiedliche Grundeinstellungen, Denkmuster, Traditionen und Lebensformen herausgebildet. Dieses kulturelle Erbe hat die Menschen über Jahrhunderte geprägt und geformt, mit entsprechenden Auswirkungen auf ihr Denken und Empfinden." Niemals, meint Böckenförde, wird sich unter diesen Umständen der "sense of belonging" einstellen, auf den die politische Union, als die sich die EU begreift, dringend angewiesen sei.

Weitere Artikel: Frankfurts Schwulenmahnmal von Rosemarie Trockel feiert zehnjähriges Jubiläum: Dieter Bartetzko gratuliert und mahnt. Kurz glossiert wird ein verdorbener Trüffel in London.

Auf der Medienseite wird gemeldet, dass eine pro-tschetschenische Website nach einem Gerichtsbeschluss jetzt wieder auf einem litauischen Server online ist - starkem russischem Druck zum Trotz. Auf der letzten Seite denkt Richard Kämmerlings über den Verkauf der PC-Sparte von IBM an den chinesischen Computerhersteller Levono und seine Folgen nach: "Man sollte es als Botschaft, vielleicht auch als Warnung lesen: Unser Denken wird chinesisch." Walter Haubrich stellt Rafael Sanchez Ferlosio (knappe Biografie) vor, den Gewinner des diesjährigen Premio Cervantes. Von einer Tagung zur Geschichte der Holocaustgeschichtsschreibung in Yad Vashem berichtet Joseph Croitoru.

Außerdem gibt es Berichte vom Festival für zeitgenössische Musik "Moskauer Herbst", von einem Streichquartett-Gipfeltreffen in Badenweiler und vom Besuch der Ausstellung "Baustelle Slowenien" in der Berliner Akademie der Künste. Besprochen wird der Film "Young Adam" mit Ewan McGregor. Rezensionen gibt es zu einem Buch über die Biblioteca Petrarchesca und zu neuen Sachbüchern, darunter Aufsätze des Kunsthistorikers Werner Hofmann zur "gespaltenen Moderne". (Dazu mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr.)