Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.12.2004. In der NZZ sucht der libanesische Schriftsteller Hassan Dawud nach einer Sprache, in der die Araber den Mord an Theo van Gogh verurteilen können. Die FR applaudiert hüftschwingenden Hitlers in London. Die taz äußert naturidentische Gefühle. In der SZ warnt  Richard Chaim Schneider vor einer Katastrophe am Tempelberg.

NZZ, 28.12.2004

Der libanesische Schriftsteller und Feuilletonchef der Tageszeitung Al-Mustaqbal, Hassan Dawud, beschreibt, warum der Mord an Theo van Gogh eigentlich kein Thema in den arabischen Ländern war: "Was bei uns verhandelt wird, sind 'allgemeine' Probleme, die sich entweder auf das Kernthema des arabisch-israelischen beziehungsweise arabisch-amerikanischen Konfliktes zurückführen lassen, oder Grundsatzfragen wie die Debatte um Modernisierung und Demokratie, Fortschritt und Rückständigkeit. Wollte man über detailliertere Fragen nachdenken, so wäre dafür eine Sprache vonnöten, die wir noch gar nicht beherrschen. Wir wissen zum Beispiel nicht, ob das Lager von Guantanamo oder der Skandal von Abu Ghraib auf eine Art reflektiert werden könnten, die darüber hinausgeht, dass man seine Wut ausdrückt und das Geschehene verurteilt... Der Mord an Theo van Gogh ist verwirrend und komplex, denn er ruft weder Wut hervor, noch verurteilt man ihn."

Silvia Stammen stellt das Projekt "HamletX" vor, an dem Herbert Fritsch, Schauspieler von der Volksbühne Berlin, seit einigen Jahren arbeitet und mit dem das klassische Schauspiel in ein multimedial verlinktes Mikrouniversum transformiert werden soll: "Hamlet als Hypertext, als virtuelle Jukebox, aus der man sich nach Belieben Filmszenen, Animationen, Computerspiele, Chats und kuriose Hintergrundinformationen, beispielsweise ein Interview mit Ophelias Frauenarzt in Gestalt von Christoph Schlingensief, herunterladen kann. Zunächst zerhäckselte Fritsch dafür Shakespeares Schauspiel in der guten alten Schlegel- Tieck-Übersetzung in 111 Splitterszenen, die dann, einzeln und unterlegt mit verschiedensten Formaten wie Krimi, Reportage, Horrorfilm und jeder Menge Trash, zu Minifilmen wiederaufbereitet wurden. Parallel dazu entstehen in loser Folge 111 Filmporträts frei erfundener Personen aus dem Umfeld der dänischen Royals."

Weiteres: Marc Zitzmann findet zwar nicht gerade, dass die jüngsten Attacken gegen Bernard-Henri Levy dem französischen Philosophen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber einen wunden Punkt treffen sie schon: "Das Pariser System der 'Renvois d'ascenseur', der gegenseitig gewaschenen Hände." Besprochen werden eine "atemberaubende" Schau spanischer Porträtmalerei aus fünf Jahrhunderten im Madrider Prado und Bücher, darunter Maurizio Maggiani subtile Erzählungen "Die Liebe ist ein Schwindel" sowie die Erzählbände zweier iranischer Autorinnen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

FR, 28.12.2004

Louise Brown berichtet von der erfolgreichen London-Premiere von Mel Brooks Hitler-Musical "Producers", das schon am Broadway ein Hit war: "Trällernde, hüftschwingende Hitlers, lüsterne alte Mütterchen, schwedische Sexsymbole mit niederländischem Akzent, Showgirls mit phallischen Würstchen als Haarschmuck. Dazu ein Bühnenbild, das nicht weniger schockiert, aber auch fasziniert: ein riesiger Reichsadler aus Hunderten von Glühbirnen oder ein gewaltiges Hakenkreuz aus schwarz-uniformierten, marschierenden Soldaten, das in einem überdimensionalem Spiegel reflektiert wird: 'Welcome to the Nazi Party!' ruft dazu ein glitzeruniformierter, schwuler Nazioffizier."

In Times mager kommentiert Christoph Schröder eine Spiegel-Meldung, wonach Hans Magnus Enzensberger angeblich eine Buchreihe für die FAZ herausgeben wird. Dabei gelte es allerdings "zweierlei Interessenlagen abzuwägen: Die FAZ muss Geld verdienen, Enzensberger die Selbsteinreihung als endgültig unverzichtbare Person des deutschen Geisteslebens, als unsichtbarer Dirigent von Debattenströmen, abschließen."

Weiteres: Thomas Winkler berichtet über den jüngsten Trend unter Popstars, in diversen Hörbuchprojekten die Beherrschung "grundlegender Zivilisationstechniken", vulgo: Vorlesen, unter Beweis zu stellen. So liest etwa H.P. Baxxter von der Techno-Truppe Scooter frühe Erzählungen von Thomas Bernhard und Sabrina Setlur versucht sich an Kafkas "Die Verwandlung". Auf der Medienseite erklärt die Schauspielerin Marianne Sägebrecht in einem Interview, warum sie eine Rolle bei Woody Allen ablehnte.

Elke Buhr führt durch zwei Ausstellungen, die dem Einfluss des Comics auf die Malerei nachgehen: "Funny Cuts" in der Staatsgalerie Stuttgart und "Strips & Characters" im Kunstverein Wolfsburg. Besprochen werden außerdem eine mehrteilige Ausstellung in Bergamo, die den Realisten Giovan Battista Moroni als ein Opfer kirchlicher Propaganda zeigt, eine Inszenierung von Puccinis "Manon Lescaut" an der Deutschen Oper Berlin, eine Wiederaufführung von Helmut Kraussers "Lederfresse" beim "Christmas Double Feature" des Theaters Landungsbrücken.

TAZ, 28.12.2004

Einen "erhöhten Nonsens-Quotienten" macht Gerrit Bartels im neuen, von Christian Kracht und Eckart Nickel herausgegebenen Magazin "Der Freund" aus. Das zweite Heft unterliege nach der ausladenden Präsentation von Nummer eins nun den "Mühen der Ebene". Immerhin: "ein unterhaltsames Magazin, in dem die Macken von Herausgeber und Chefredakteur am Ende der Lektüre nur den Hintergrund bilden für einige schöne Lesestücke". Und sollte es den beiden gelingen, sich "sogar zu einer Art Thomas Gottschalk oder Jürgen Klinsmann im Bereich der literarischen Magazinkultur" zu entwickeln, könne "Der Freund" sogar "die Blaupause für zukünftige literarische Magazine" werden. Als "wirklich groß" bewertet er jedenfalls ein über zwanzig Seiten langes Interview mit dem Burgschauspieler und Filmregisseur Peter Kern.

In tazzwei übernimmt Bernhard Pötter diesmal die Warnung vor seiner Kinderkolumne selbst und informiert im kursiven Vorspann: "Achtung! Der nachfolgende Text enthält natürliche und naturidentische Gefühle, die Ihre Tränendrüse reizen könnten. Er ist für Zyniker und Obercoole ungeeignet." Aaarghh!

"Postkolonialen Charme" entdeckt Jan Distelmeyer in Frank Coracis Neuverfilmung von "In 80 Tagen um die Welt" mit Jackie Chan. Besprochen wird außerdem das neue Buch von Peter O. Chotjewitz "Alles über Leoardo aus Vinci" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

SZ, 28.12.2004

Richard Chaim Schneider warnt vor einer Katastrophe am Tempelberg, der durch Grabungen israelischer Archäologen und den Bau einer unterirdischen Moschee durch die Palästinenser vom Einsturz bedroht ist. Die Arbeiten wurden und würden auch deshalb so vorangetrieben, weil es dabei immer auch um die Deutungsmacht gehe, wem Jerusalem denn nun gehöre. Nach neuerer palästinensischer "Lesart" soll - "allen archäologischen Funden und Beweisen zum Trotz" - nun auch die "Klagemauer von Muslimen errichtet" worden sein. "Natürlich werfen sich Muslime und Juden gegenseitig die Verantwortung für ein mögliches Unglück vor. Selbst jordanische Archäologen und Architekten eilen nach Jerusalem, um zu retten, was zu retten ist. Sollte es den Fachleuten allerdings nicht gelingen, den Einsturz der Mauern zu verhindern, dann könnte es bald egal ein, wer am 9. Januar palästinensischer Präsident wird."

Weitere Artikel: Willibald Sauerländer bricht eine Lanze für die Münchner Graphische Sammlung, die derzeit "zum Verlierer bei der Verwirklichung bester mäzenatischer Absichten" werde, weil das Verhältnis von alter und moderner Kunst aus der "Balance" geraten sei. Stefan Koldehoff weist auf eine kleine Ausstellung der Arkadengalerie im sächsischen Löbau hin, die versucht, einen Berliner Skandal um gefälschte Van-Goghs vor 75 Jahren aufzudecken; Arbeiten vom Vater des darin verwickelten Kunsthändlers Otto Wacker sollen belegen, dass er die Fälschungen gemalt hatte. Ralf Kröner informiert über die Entdeckung von Rosa Luxemburg in China anlässlich einer internationalen Tagung in Guangzhou.

Arnd Wesemann geißelt das "fahle Feuer" der Berliner Tanzszene, deren Förderung nun endlich ebenfalls so weit "institutionalisiert" wurde, dass die Gelder an den Künstlern vorbei in die Taschen ihrer "Beschützer", sprich Raumvermieter und Veranstalter fließen. Fritz Göttler berichtet über die Nominierung für die diesjährigen Academy Awards. "jsl" erklärt, warum es gut wäre, dänische Königin zu sein: Weil diese als einzige im neuen Bau der Königlichen Oper rauchen darf - alle anderen müssen dies unter einem immerhin "gigantischen Vordach" tun. Und in der "Zwischenzeit" erzählt Harald Eggebrecht einen anrührenden Fall von jahresendzeitlicher Gefräßigkeit.

Besprochen werden Jossi Wielers Inszenierung von Mozarts "Lucio Silla" unter dem Dirigat von Adam Fischer in Amsterdam, die Ausstellung "Bodylandscapes" mit Arbeiten von Rebecca Horn in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW, die kleine Schau "Shrink to fit", in der es um städtebauliche Konzepte für Magdeburg geht, zwei neue Stücke am Schauspiel Nürnberg: "Musst Boxen" von Claudius Lünstedt und "lustgarten" von Sabine Harbeke, der neue Film von Silvio Soldini "Agata und der Sturm", Frank Coracis Neuverfilmung von "In 80 Tagen um die Welt" mit Jackie Chan und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Paul Celan und Rudolf Hirsch, Hans J. Massaquois zweiter Erinnerungsband "Hänschen klein, ging allein", ein nur auf Englisch vorliegende Studie über das Genre weihnachtlicher Rundbriefe und ein Band über "Jagd. Naturschutz oder Blutsport?" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 28.12.2004

Gina Thomas gratuliert der wunderbaren Maggie Smith zum Siebzigsten. Dietmar Dath gratuliert dem Schriftsteller Alasdair Gray ebenfalls zum Siebzigsten. Und Hannes Hintermeier gratuliert Gilbert Adair zum Sechzigsten.

Auf der Medienseite erinnert Sergio Vesely in der Reihe "Stimmen" an den von Pinochet ermordeten Sänger Victor Jara. Henrike Rossbach porträtiert die Filmkomponisten Tobias Bösel und Siegfried Rolletter. Auf der letzten Seite berichtet Dirk Schümer über einen Streit um den Komponisten der Andromeda-Serenade, die bisher allein Vivaldi zugeschrieben wurde. Günter Platzdasch porträtiert Klaus Koch, Gründer des ersten unabhängigen Ostplattenlabels. Und Katja Gelinsky berichtet, dass sich immer mehr US-Amerikaner über die massive Einwanderung aus Lateinamerika ärgern.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Kartons von Alex Katz in der Wiener Albertina, eine Ausstellung über die Verluste der Anna Amalia Bibliothek im Schlossmuseum Weimar, eine Ausstellung grafischer Blätter von Albrecht Dürer im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum, Didier Lefevres Comicreportage "Le Photograph" und zwei Filme aus Asien: die koreanische Geistergeschichte "The Legend of the Evil Lake" von Kwang-hoon Lee und der thailändische Actionfilm "Ong Bak" von Prachya Pinkaew.